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Reden bei der
Schlusskundgebung auf dem Münchner Marienplatz:
Otto Schwerdt
Vorsitzender des Landesausschusses der
Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
Es tut gut, so viele Menschen heute auf diesem Platz
versammelt zu sehen, und gemeinsam mit ihnen gegen Rechtsradikalismus
und rechte Gewalt zu demonstrieren.
Fast täglich hören und lesen wir, daß Menschen
anderer Hautfarbe, aus anderen Kulturkreisen und anderer
Religionszugehörigkeit hier in Deutschland von Neo-Nazis und rechten
Gruppen beleidigt, angegriffen, brutal mißhandelt und ermordet werden.
Den Opfern dieses aufgekeimten Rechtsradikalismus gehört mein Mitgefühl.
Sie werden mißhandelt und getötet von jungen
Menschen, die vor nichts zurückschrecken. Die Täter haben jeden Maßstab
für Moral und Menschlichkeit verloren. Was treibt 14jährige oder
15jährige an, wenn sie auf ihre Opfer losgehen, sie mißhandeln? Wann
sind ihnen unerläßliche moralische Maßstäbe abhanden gekommen? Hatten
sie solche Maßstäbe überhaupt schon entwickelt? Erschüttert nehme ich
wahr, daß diese Jugendlichen sich lachend, ohne Reue, und ohne Scham in
der Öffentlichkeit präsentieren. Ich sehe ein verächtliches Grinsen, ein
Verhöhnen der Opfer, wie ich es schon einmal sah – damals in
Nazideutschland, als Häftling in den Konzentrationslagern Fünfteichen,
Leitmeritz und Theresienstadt.
In meiner Heimatstadt Braunschweig erlebte ich schon
1930 pompöse Nazi-Aufmärsche. Der Terror gegen jüdische Bürger setzte
ein. Erst waren es nur wenige Vorfälle, dann wurden sie zahlreicher.
Nach und nach gingen die Nazis immer brutaler vor. Die ersten
Übergriffe, die mir in Erinnerung sind, liegen weit vor der
Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933. Damals nahm die
Gesellschaft diese Gewalttaten nicht ernst. Man tat sie als Verfehlung
einiger weniger ab. Viele Menschen wollten nicht wissen, was in ihrer
Mitte geschah. Die Gesellschaft begann wegzusehen. Heute bin ich sicher,
daß die Täter durch die gleichgültige Haltung der Gesellschaft und ihrer
Institutionen ermutigt wurden. Gleichgültigkeit konnte als Zustimmung
interpretiert werden, das Selbstbewußtsein der Täter wuchs. Dieses
Wegsehen war in meinen Augen ein entscheidender Schritt ins
Unrechtsregime.
Wir haben uns hier getroffen, um ein Zeichen zu
setzen - ein klares Zeichen gegen Rechtsradikalismus, ein klares Zeichen
gegen die Gewalt. Das Deutschland des Jahres 2000 darf nicht wegsehen.
Nicht wegsehen heißt, rechtem Gedankengut und rechter Gewalt
entschlossen entgegen zu treten. Doch wie sollen wir dies tun? Die
Justiz kann härtere Haftstrafen für rechte Gewalttäter verhängen.
Soziale Zerrüttung, Orientierungslosigkeit und Arbeitslosigkeit dürfen
nicht als Entschuldigung für die Taten gelten. Es kann nicht sein, daß
kurze Haftstrafen oder sogar Bewährungsstrafen die Antwort des
Rechtsstaates auf die brutalen rechtsextremistischen Verbrechen sind.
Ein Verbot der NPD wäre meines Erachtens nach Abwägen
des Für und Wider ein richtiger Schritt gegen Rechts. Der Staat würde so
ein unmißverständliches Signal setzen. In den Schulen muß die Aufklärung
weitergeführt werden. Die Aussage Martin Walsers: „es sei jetzt genug“ –
gemeint war die öffentliche Erinnerung an Auschwitz – darf nicht befolgt
werden, denn viele Schüler wissen nicht, was das Wort „Holocaust“
bedeutet, sie wissen nicht, was in Auschwitz bis 1945 geschah.
Durch Aufklärung in den Schulen erhöhen wir die
Chance, daß junge Menschen Unrecht auch als Unrecht verstehen,
Intoleranz erkennen und ablehnen. Abstumpfung und Teilnahmslosigkeit
bereiten der Intoleranz den Weg. Im Beruf, im Freundeskreis und in der
Familie ist es deshalb wichtig, miteinander zu sprechen, Anteil zu
nehmen an den Problemen und Bedürfnissen anderer. Ich denke, wer Anteil
nimmt, lernt andere besser zu verstehen. Und: wer andere verstehen
lernt, lernt tolerant zu sein.
Denke ich an die Zeit in Braunschweig zurück, wird
mir bewußt, wie wichtig das Verhalten des Einzelnen ist. Er ist Teil der
Gesellschaft. Der Einzelne muß Zivilcourage aufbauen und zeigen. Dies
ist ein unermeßlicher Schutz für jede Gesellschaft, die in einer
demokratischen Grundordnung nach humanen Werten leben will.
Zivilcourage zeigen, heißt: Klar Stellung beziehen
gegen menschenverachtende Äußerungen und Intoleranz, wo immer man ihnen
begegnet; sei es auf der Straße, unter Kollegen, in der Schule, im
Freundeskreis oder sogar in der Familie. Zivilcourage zeigen heißt auch:
Unmittelbar helfen, wenn Menschen auf der Straße, in Straßenbahnen oder
Bussen angepöbelt werden, wenn rechte Gewalttäter ihre Opfer durch die
Städte jagen und brutal zusammenschlagen. Jeder Einzelne kann und muß
sofort handeln. Er hat die Möglichkeit und auch die Pflicht, Hilfe zu
holen. Er kann und muß die Polizei verständigen. Es macht betroffen,
wenn man liest, daß Passanten nicht einmal Hilfe holten.
Es gibt viele Menschen, die wollen helfen, wissen
aber nicht, wie man am besten vorgeht. In manchen Situationen ist es
schwer, effektive Hilfe zu organisieren. Was tut man zum Beispiel, wenn
man mit der Straßenbahn zur Arbeit fährt und eine Gruppe rechter
Schläger steigt zu? Man fühlt sich bedroht. Man fürchtet um die beiden
Afrikaner, die sich im hinteren Teil der Straßenbahn befinden. Was kann
man tun, wenn die Situation zu eskalieren droht?
Vor kurzem berichtete der Schriftsteller Ralf
Giordano in einem Radiointerview, was Menschen in einer solchen
Situation taten.
Ein Mann stand auf und forderte seine Mitfahrer auf,
sich nicht gefallen zu lassen, daß hier Ausländer angegriffen werden. Er
wolle nicht morgen in der Zeitung lesen müssen, daß auch in seiner Stadt
wieder Ausländer Opfer rechter Gewalt geworden sind. Er ermunterte die
anderen, Stellung zu beziehen. Gemeinsam demonstrierten sie den rechten
Schlägern ihre Ablehnung. Diese verließen die Straßenbahn. Was tat
dieser Mann? Er tat nichts anderes, als seine Mitfahrer in die Pflicht
zu nehmen. Als einzelner war er machtlos gegen die unmittelbare Gewalt –
nur gemeinsam mit der Unterstützung der anderen konnte geholfen werden.
Dieser Vorfall zeigt, daß es Strategien und Wege gibt, Gewalt
abzuwenden.
In diesem Zusammenhang möchte ich eine Anregung an
Institutionen, Vereine und vor allem an Schulen geben. Den Menschen, die
helfen wollen, muß gezeigt werden, wie sie dies tun können. Wie in einem
Selbstverteidigungskurs kann man lernen, gefährliche Situationen
einzuschätzen, man kann sich klar machen, wie sich die Täter in der
Regel verhalten werden. Es können Verhaltensstrategien empfohlen werden,
die je nach der Situation, in der man sich befindet, die Chance erhöhen,
drohende Gewalt abzuwenden, Eskalationen zu vermeiden. Wir brauchen eine
Art „Erste-Hilfe-Kurs in angewandter Zivilcourage“. In meinen Augen wäre
dies eine konkrete Hilfestellung für alle, die helfen wollen.
Jeder einzelne lebt seinem Nächsten vor. Wenn wir Zivilcourage zeigen,
werden wir bei anderen Zivilcourage fördern und in manchen Fällen
vielleicht auch entstehen lassen. Jeder Einzelne muß bei sich selber
anfangen. Jeder Einzelne von uns trägt ein Stück Verantwortung dafür,
wie wir zusammenleben – und somit Verantwortung für die Gesellschaft, in
der wir leben. – Ich danke Ihnen.
hagalil.com
06-10-02 |
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