München 1997:
Wegweiser in die Vergangenheit
Ein 24 jähriger Student hat durch die
Wehrmachts-Ausstellung geführt und berichtet über seine Erfahrungen
Tobias Winstel
Ich habe nichts Spektakuläres zu berichten. Mal wurde eine Schülerin
wegen der schlechten Luft während der Führung ohnmächtig. Meistens
froren die Leute draußen vor der Türe bei Kälte und Schneetreiben denn
sie standen teilweise ein bis zwei Stunden bis auf die andere Seite des
Marienplatzes. In den Ausstellungsräumen selbst war das Klima eher
mediterran. Die mit Abstand häufigsten Fragen waren: "Wann gibt es den
Katalog wieder? Wo geht es los? Wo sind die Toiletten?" Eine Ausstellung
wie andere eben, und doch ganz anders.
Viele kamen, um einen Skandal zu sehen und waren dann enttäuscht. Ein
Schüler meinte, da habe er "nachts sogar im ZDF schon brutalere Sachen
gesehen". Es waren die Kleinigkeiten, die bemerkenswert sind. Jeder
hatte viel darüber gelesen, gesehen, gehört, geredet; und - das vor
allem - jeder hatte eine fertige Meinung zu der Ausstellung mitgebracht.
Ich habe versucht, in meinen Führungen den Leuten die politische
Diskussion draußen in der Schlange vergessen zu machen. "Sind Sie der
Führer?" fragte mich der Lehrer einer meiner ersten Schulklassen. So
ging es schon los. Jedes Wort würde wohlüberlegt sein müssen.
Vor dem Eingang herrschte in der letzten Schulwoche vor Ostern gelöste
Wandertagsstimmung. Die Schüler, die zum großen Teil freiwillig kamen
(eine Klasse sogar sonntags aus Baden-Württemberg), wollten zumeist
Geschichten jenseits der Geschichtsbücher wissen.
Irgendwann erkannte eine Schülerin im Teil über Serbien den
Herkunftsort ihrer Familie wieder. Von ihrem Opa wusste sie nur soviel,
daß er im Krieg "plötzlich verschwunden war". Nun wusste sie, wohin. Da
war Geschichte nicht mehr abstrakt, sondern greifbar.
Bei nahezu jeder Führung schlossen sich ältere Leute an. Waren es
"Dabeigewesene"? Warum nickten sie, warum schüttelten sie den Kopf?
Manchmal dann plötzlich Fragen. Da platzte es aus ihnen heraus: "War der
Bombenangriff auf Dresden etwa kein Verbrechen?" Dieses Aufrechnen der
(unbestrittenen) Kriegsverbrechen der "anderen", der Hinweis auf
Widerstand in der Wehrmacht begegnete mir noch sehr oft. Leute, die so
etwas sagen, haben nicht begriffen, worum es hier ging - vor allem:
worum es nicht ging.
Offensichtlich erwarteten einige hier eine Ausstellung über den Zweiten
Weltkrieg, zumindest eine über die Geschichte der Wehrmacht. Viele aber
erzählten, sie hätten genau das erlebt, was auf den Bildern dargestellt
ist. Manches hätten sie selbst wie Fotografien im Gedächtnis behalten.
Und mancher schilderte dann mit unsicherer Stimme unvorstellbare,
unbeschreibbare Dinge. Die Erzählung endete meist abrupt, mitten im
Satz. Das Bild war zu mächtig geworden.
Auch auf dem Marienplatz wurde erzählt. Da draußen redeten sich
ehemalige Soldaten stundenlang die Köpfe heiß, anstatt uns hier drinnen
zu erzählen, was man nicht auf Tafeln kleben kann. Jemand erinnerte
sich, dass in seinem Bataillon freiwillige Teilnehmer an
Juden-Erschießungen Schnaps und Zigaretten bekamen. Er selbst habe nie
an "Aktionen" teilnehmen müssen, es hätten sich immer genügend
Freiwillige gefunden.
Für alles hörte ich Beispiele - auch für Fälle, in denen sich Soldaten
verbrecherischen Befehlen entzogen hatten: Ein älterer Herr berichtete,
wie er als Unteroffizier mit seiner Einheit in Serbien ein Dorf, wie man
das nannte, "judenfrei" machen sollte. Er ging mit seinen Leuten immer
erst in der Dämmerung los und gab ihnen zu verstehen dass "es ja eh zu
dunkel" sei, um Juden zu selektieren. Daraufhin marschierten sie wieder
in die Stellung zurück. Ein anderer erzählte mir, er habe einmal das
Radio seines Unteroffiziers repariert und sei deswegen von einer
Judenerschießung freigestellt worden. Für ihn "das Glück seines Lebens"
- mit der Konsequenz, dass ein anderer abkommandiert wurde. Ich lernte,
dass jeder der ehemaligen Soldaten eine sehr individuelle Wahrnehmung
seiner Kriegssituation hatte.
Führung durch die Ausstellung, München 1997
Stephan Rumpf / SV-Bilderdienst
Menschen, Menschen, Menschen. Einer kam mit einem Akt voller Unterlagen
zur Ausstellung (fein säuberlich getippt) und wollte mir 45 Minuten lang
klarmachen, dass dies eine "kommunistische Veranstaltung" sei. Ein
anderer versuchte mir anhand der Seite 372 aus "Mein Kampf"
nachzuweisen, dass Hitler nach dem Krieg für schuldunfähig erklärt
worden wäre. Wenn er sich nicht umgebracht hätte. Dazu gesellte sich ein
Jugendlicher und sagte, in Deutschland herrschten das Kapital und nicht
die alten Werte. Ich fragte ihn, ob er mir das näher erklären könne. Er
brach ab und meinte, das führe ja doch alles zu weit.
Die Ausstellung, sie war ein Medien-Ereignis geworden. Deutliche
Meinungen, klare Positionen waren gefragt - die leisen Töne gingen dabei
oft unter: Da war zum Beispiel die Frau, die auf einem Foto, das die
Erhängung von Weißrussen zeigt, ihren Vater erkannte. Als Soldat.
Unbegreiflich für sie, es war doch ihr Vater. Nie hatte er nach dem
Krieg etwas erzählt. Solche Fälle des Erkennens und der furchtbaren
Erkenntnis kamen in der Ausstellung öfter vor. Dieser Frau konnte man
nur zuhören, ihr bestätigen, dass der Mann auf dem Foto, der ihr Vater
war, unglücklich schaut und nicht sadistisch genießend, wie er dem
Weißrussen die Schlinge um den Kopf legt (oder sie vielleicht -
hoffentlich - abnimmt?). Was hat dieser Mann alles gesehen? Getan?
Freiwillig? Oder auf Befehl? Eine sehr verzweifelte Dame suchte nach der
Wahrheit über ihren Mann. Sie vermutete, er sei Aufseher in einem KZ
gewesen. Sie wurde nicht fündig. Die Angst blieb.
Obwohl es in dieser Ausstellung viel sachlicher zuging, als ich
befürchtet hatte, gab es doch den einen oder anderen Ausfall. So
schimpfte ein Mann mittleren Alters, das ganze sei "nicht 14 Tage,
sondern 50 Jahre her. Immer wenn die Juden Geld brauchen, machen sie
solche Ausstellungen!" Ein aufgeregter Mann fragte gleich am Eingang:
"Wo ist hier eine Diskussion, ich will was sagen." Er wollte eigentlich,
das stellte sich heraus, nur loswerden, dass sein Vater nicht freiwillig
Soldat gewesen sei. Das war wichtig für ihn, natürlich. Es war sehr
schwer, Distanz zu, der Ausstellung zu halten - und den Menschen, die
ich begleitete. Ich wollte die Schwächen der Ausstellung kritisieren und
sie zugleich als Mittel der geschichtlichen Auseinandersetzung nutzen
können. So habe ich diesen Raum als Forum betrachtet. Berufs- und
Abendschüler, Gymnasiasten, Realschüler, angehende und ausgebildete
Polizisten, Soldaten, Ärzte, Parteien und deren Jugendorganisationen,
italienische Gewinner eines Geschichtswettbewerbs und ein Botschafter
haben sich meine Ausführungen angehört und sich wohl ihren Teil dabei
gedacht.
Viele haben mir ihre Gedanken und Gefühle geschildert, viele haben
geschwiegen, einige haben sich dem Gästebuch anvertraut (dessen
Auswertung eine eigene kleine Ausstellung ergäbe). Letztlich hat sich
jeder auf seine Art damit beschäftigt - und das ist zu respektieren.
Nach meiner letzten Führung musste ich an einen Eintrag in diesem
Gästebuch denken: "Erinnern ist Arbeit". Unter einer Uhr im Rathaus
steht: "Nur gute Stunden möcht ich zeigen, die bösen aber wohl
verschweigen". Sehr "böse Stunden" waren hier zu sehen, zu denen wohl
fast jeder Deutsche irgendeinen Bezug hat: direkt, über Opa, Bruder,
Sohn, Vater. Diese Ausstellung kam vielleicht zum letztmöglichen
Zeitpunkt. In 20 oder 30 Jahren ist der Zweite Weltkrieg wirklich
Vergangenheit. Wir werden dann nur sagen können: "Ich habe noch mit
Menschen gesprochen, die den Krieg erlebten".
Tobias Winstel schreibt zur Zeit eine Doktorarbeit zum Thema
Wiedergutmachung. Er wird auch durch die neue Wehrmachtsausstellung
führen und bei der abschließenden Podiumsdiskussion dabeisein.
Der Text von Tobias Winstel erschien bereits im campe paperback "Wehrmachtsverbrechen
- Eine deutsche Kontroverse", hrsg. v. Heribert Prantl, 1997.
Die Bilder stammen aus dem Ausstellungskatalog zur überarbeiteten
Ausstellung: "Verbrechen
der Wehrmacht - Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941 - 1944".
http://www.stadtmuseum-online.de/aktuell/wehrm3.htm
Pressemitteilung des Hamburger Instituts
für Sozialforschung:
Die Ausstellung »Verbrechen der Wehrmacht« im Herbst in München
Die Ausstellung »Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des
Vernichtungskrieges 1941—1944« des Hamburger Instituts für
Sozialforschung wird vom 8. Oktober bis zum 24. November 2002 im
Münchner Stadtmuseum gezeigt werden. Das Kulturreferat der Stadt München
hat die Organisation des Begleitprogramms übernommen...
hagalil.com
06-10-02 |