Von
Christiane Müller-Lobeck
Jungle World, 05.12.2002
Eigentlich galt der 15. Kongress der Hamburger
Filmforschungsinstitution CineGraph Ende November der Geschichte des
deutschen Tobis- Filmkonzerns. Eine Retrospektive mit
Unterhaltungsfilmen der Jahre 1931 bis 1945 machte begleitend das
Material zugänglich. Doch schon bei der Eröffnung verschob sich der
Akzent, als Frank Stern, der Direktor des Zentrums für deutsche Studien
an der Ben-Gurion-Universität in Berscheva, einen Begriff ins Spiel
brachte, der fortan so manches Panel dominierte.
Eine "Ambivalenz" durchziehe all jene Komödien der Nazizeit, in denen
die Filmwissenschaft bisher nur subtilere Propagandastreifen erkennen
wollte. Stern plädierte dafür, genau hinzusehen. So manches an diesen
Filmen finde sich ebenso im zeitgenössischen Hollywoodfilm.
Tatsächlich lässt sich an einem Film wie "Altes Herz wird wieder jung"
(1942/43) nicht nur Volksgemeinschaftliches entdecken. Wenn sich dort
ein Schokoladenfabrikant plötzlich für die Löhne seiner Stenotypistinnen
interessiert, nachdem aus dem Nichts eine Sekretärin aufgetaucht ist,
die seine Enkelin sein will, erinnert das auch an den Klassenkompromiss
des New Deal. Einerseits macht es dieser Ansatz möglich, Ideologeme des
Nationalsozialismus zur selben Zeit an anderen Orten und in Deutschland
nach 1945 zu identifizieren. Stern erklärte diese Elemente aber für
ideologisch unverdächtig. Und so legte er andererseits nahe, jene
Ambivalenz des NS-Unterhaltungsfilms auch als mögliche subversive Kraft
zu verstehen.
Das griff später begierig der Germanist Harro Segeberg auf, der mit der
Betonung einer Zuschauerautonomie die These Goldhagens von "Hitlers
willigen Vollstreckern" widerlegen wollte. Dazu führte er
Mitleidsregungen einiger Zuschauer von "Jud Süß" (1940) für die
Hauptfigur an.
Den Vortrag des Filmwissenschaftlers Tobias Nagl mochte Segeberg gar
nicht erst diskutieren. Nagl hatte anhand der Werbung für den NS-
Kassenschlager "Ohm Krüger" (1941) sehr präzise herausgearbeitet, wie
eine mit Vorgaben aus dem Hause Goebbels übereinstimmende Rezeption des
Films systematisch hergestellt wurde. Von den Cultural Studies hätten
wir zu lernen, hielt Segeberg dagegen, dass sich jeder Film für eine
gegenläufige Sichtweise eigne, wenn er nur auf ein entsprechend
gestimmtes Publikum treffe.
Da aber ging dann endgültig alles durcheinander. Die Cultural Studies
prägten sich unter anderem in der Zurückweisung von Adornos und
Horkheimers Thesen zur Kulturindustrie aus. Das setzte allerdings
voraus, dass der NS, den die beiden theoretisch in den Griff bekommen
wollten, nicht mehr existierte. Die Verfechter der Cultural Studies
weigern sich lediglich, jene These auf nicht faschistische
Gesellschaften anzuwenden.
Und so ließ der Kongress das Publikum gespalten zurück. Auf der einen
Seite diejenigen, die partout für Filme und Zuschauer im NS eine
Unschuldsvermutung geltend machen möchten. Auf der anderen Seite
diejenigen, eine Mehrheit, die an den Filmen studieren wollen, wie das
spezifische Amalgam zum Teil widersprüchlicher ideologischer
Versatzstücke im NS funktionierte, das in einen Weltkrieg und zur
Judenvernichtung führte.