Nazi-Spielfilme:
"Nicht nur in Ausschnitten"
"Jud Süß" im Giftschrank und "Triumph
des Willens" in der Videothek: Wie geht man in Deutschland mit
propagandistischen Spielfilmen aus der Zeit des Nationalsozialismus um,
für die sich offenbar nicht nur die Ewiggestrigen interessieren? Ein
Gespräch mit dem israelischen Kulturhistoriker Frank Stern
Interview Cristina Nord
taz: Herr Stern, sollte Veit Harlans "Jud Süß" in
Deutschland öffentlich gezeigt werden?
Frank Stern: Harlans "Jud
Süß" hat maßgeblich dazu beigetragen, antisemitische und rassistische
Vorurteile zu popularisieren. Er sollte daher nicht einfach in einem
Ufa-Palast laufen wie jeder andere Spielfilm. Ich bin aber der Meinung,
dass er im Rahmen von Veranstaltungen, die sich Themen wie dem Kampf
gegen den Rassismus und Antisemitismus widmen, gezeigt und diskutiert
werden sollte. Nicht nur in Ausschnitten, sondern in Gänze.
Wie kann man sich eine solche Einrahmung vorstellen?
Es gibt eine Vielzahl von Dingen: einführende
Bemerkungen, Vorträge, schriftliches Begleitmaterial, von
Filmwissenschaftlern moderierte Diskussionen unter aktiver Beteiligung
des Publikums nach der Vorführung. Früher gehörte es zur Filmkultur, vor
dem Spielfilm einen Dokumentarfilm zu zeigen. Es ist möglich, zu dieser
Tradition zurückzukehren und vor dem problematischen Film eine
Dokumentation zu zeigen, die aufklärerischen Charakter hat und dadurch
eine kritische Perspektive eröffnet.
Besteht denn ein Interesse an Vorführungen
propagandistischer Filme?
Lassen Sie mich präzisieren: Ich bin überhaupt nicht der
Meinung, dass alle Filme, die zwischen 1933 und 1945 produziert worden
sind, Propagandafilme sind. Vor 1933 hat es solche Filme gegeben, und
bis heute werden in der Bundesrepublik Filme mit propagandistischem
Inhalt produziert. Man muss vorsichtig sein und sollte den Begriff der
Propaganda und der Ideologie nicht nur den Spielfilmproduktionen
Nazideutschlands oder der DDR zuordnen.
Und wie verhält es sich mit dem Publikumsinteresse?
Wenn wir in eine größere Videohandlung gehen, finden wir
bis auf "Jud Süß" fast ausnahmslos alle Filme vor, die zwischen 1933 und
1945 gedreht wurden. Die Filme sind auf dem Markt, sie werden gekauft,
und das nicht nur in einer schwülstigen braunen Szene. Sie können heute
"Triumph des Willens" von Leni Riefenstahl überall entweder kaufen oder
ausleihen. Und es sind nicht die Ewiggestrigen, die sich für Zarah
Leander oder Leni Riefenstahl interessieren, sondern ein junges
Publikum.
Übernehmen die Filme, die verboten worden sind, die
Funktion eines Sündenbocks?
Da ist eher Gedankenlosigkeit im Spiel als bewusste
Intention. Ich glaube nicht, dass irgendjemand sagen könnte: "Diesen
Film verbieten wir, so dass wir alle anderen zeigen können." Dazu ist
schon die Rechtslage zu unübersichtlich: Welche Filme gehören welchen
Eigentümern? Welchen Vertriebsfirmen geben die Murnau-Stiftung oder
Transit, also diejenigen, die für den Vertrieb zuständig sind, die
Rechte? Das ist ein viel zu kompliziertes Geflecht, als dass es eine
Instanz gäbe, die entscheidet: Dieser oder jener Film wird gezeigt. Wenn
das so wäre, wäre "Triumph des Willens" von Leni Riefenstahl überhaupt
nicht auf dem Markt. Denn dabei handelt es sich um einen Film, zu dem
die Alliierten gesagt haben: "Der, bitte schön, sollte nicht mehr
gezeigt werden."
Was ist mit Unterhaltungsfilmen?
Es existiert in der Filmwissenschaft die These, dass
alle Unterhaltungsfilme eine ideologische, mal geheime, mal offene
nationalsozialistische Botschaft enthalten. Sehr oft findet da eine
immense Verwechslung statt. Man sieht ein bestimmtes Frauenbild Ende der
30er-Jahre und sagt: "Typisch! Das ist das Frauenbild des
Nationalsozialismus." Man guckt aber nicht auf den italienischen, den
französischen, den amerikanischen oder den britischen Film, weil man
dann feststellen würde, dass deren Frauenbild identisch ist. Das ist nur
ein Beispiel dafür, wie wir durch unsere Fixierung auf
nationalsozialistische Inhalte übersehen, dass es mehrere überlappende
Ebenen an Inhalten und Aussagen gibt. Und nur eine davon ist mit der
nationalsozialistischen Ideologie verbunden.
Der Vergleich mit anderen Kinematografien wird zum
Teil benutzt, um nationalsozialistisches Filmschaffen zu rehabilitieren.
In einer jüngeren Veit-Harlan-Biografie zum Beispiel wird zur
Verteidigung des Regisseurs vorgebracht, auch D. W. Griffith "Birth of a
Nation" sei rassistisches Kino.
Das ist natürlich höheres Blech. Griffith hat nicht dazu
beigetragen, dass Konzentrationslager errichtet wurden. Dass in den USA
Rassismus existierte, ist überhaupt keine Frage, genauso wenig, dass
Griffith mit einem seiner Filme wesentlich zu diesen Stereotypen
beigetragen hat. Gleichzeitig hat er mit "Intolerance" einen Film gegen
Intoleranz gedreht, in dem er sich gegen jegliche Form von Gruppenhass
und Rassismus verwahrt.
Der Vergleich darf nicht zur Entschuldigung dienen. Es
kann nicht darum gehen zu sagen: "Nun zeigen wir mal alle Filme von Veit
Harlan, weil sie so problematisch gar nicht sind." Vielmehr zeigen wir
Filme von Veit Harlan, obwohl sie problematisch sind. Denn wir können
damit demonstrieren, welche Bilder vom kulturell Anderen in harmlosen
Unterhaltungsfilmen vorhanden sind. Bilder, die vielleicht bis heute
nachwirken, die in modernisierter Form auch in aktuellen Spielfilmen
vorhanden sind. Nehmen wir nur das Beispiel von Kriegsfilmen: Ich halte
Vilsmaiers "Stalingrad" oder Petersens "Das Boot" für nicht minder
problematisch als im Dritten Reich produzierte Filme zu Kriegsthemen.
Es wird oft behauptet: Die Filmschaffenden, die
Talent hatten, seien emigriert, geblieben seien diejenigen, deren
künstlerische Fähigkeiten begrenzt gewesen seien. Wie sehen Sie das?
Zweifelsohne ist es richtig, dass sich mit der
Emigration von Intellektuellen und Künstlern eine immense Veränderung in
der deutschen Kultur vollzogen hat. Manche, die im kulturellen Nichts
verschwunden wären, konnten plötzlich Karriere machen. Das ist nichts,
was nur im Nationalsozialismus vorgekommen wäre. Betrachten Sie nur die
heutige Kulturlandschaft in Deutschland: Wer Karriere macht und wer
nicht, ist nicht immer eine Frage der Qualität.
Andererseits gibt es Regisseure und Künstler jüdischer
Herkunft, die bis 1937 in der Ufa produziert haben und deren Arbeiten
die These widerlegen, nach 1933 seien keine qualitativ hochstehenden
Filme mehr geschaffen worden. Zugleich haben sehr viele der in der
deutschen Filmindustrie tätigen Menschen mit jüdischen Kollegen
zusammengearbeitet, haben gemeinsame Projekte entwickelt, gemeinsam
gedreht und Überlegungen zu künftigen Filmen angestellt. Vieles davon
blieb - als Wissen, als Haltung, als ästhetische Perspektive. Daher gibt
es in vielen Spielfilmen, die im Dritten Reich produziert wurden, eine
ästhetische Ambivalenz, über die man reden muss.
Vor diesem Hintergrund ist es bezeichnend, dass
Joseph Goebbels vieles unternahm, um Marlene Dietrich zurück nach
Deutschland zu holen.
Es gibt einen naziinternen Konflikt zwischen Goebbels
und Göring. Goebbels wollte die deutsche Filmwirtschaft nicht durch
antisemitische Filme in Europa vertreten wissen. Er wollte Menschen wie
Fritz Lang oder Marlene Dietrich halten. Das konfligierte
selbstverständlich mit der antijüdischen, rassistischen Ideologie. Aber
die Ausnahmeregelungen für Künstler, die jüdischer Herkunft waren und
die man in irgendeiner Form halten wollte, die Versuche von Gustaf
Gründgens, am Theater Künstler zu halten, die eine jüdische Ehefrau
hatten, die Versuche Reinhold Schünzels, mit Sondergenehmigungen bis
1937 Filme zu produzieren und dabei durchaus subversive Elemente
einzustreuen: Das alles kann man heute aus der Distanz neu betrachten
und diskutieren.
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25-11-02 |