Bildungsmaterialien onLine
Vortrag zur Entstehung des Antisemitismus
Zu den Bildungsangeboten, welche haGalil onLine
liefert, gehören nicht nur Informationen über das Judentum, sondern
notgedrungen auch Materialien zum Antisemitismus. Dieser bildet
gewissermaßen die Klammer, über welche sich Nazis und Rechtsextremisten
der unterschiedlichsten Couleur immer wieder einig sind.
Wir dokumentieren im Folgenden den Text eines
Vortrags von Fabian Kettner, gehalten anlässlich eines Kongresses zu
Antisemitismus im April diesen Jahres in Duisburg.
Wir danken dem Autor für die Überlassung seiner
Arbeit.
ANTISEMITISMUS
UND BÜRGERLICHE GESELLSCHAFT
Teil I.
Der Zugang zu einer Kritik des Antisemitismus soll
hier erfolgen über eine Kritik seiner Alltagswahrnehmung, eine Form von
Wahrnehmung und Bearbeitung, die zu theoretischen Systemen ausgearbeitet
und verdichtet werden kann. Diese können grob in
subjektivistische und objektivistische Erklärungsmuster
eingeteilt werden.
Im subjektivistischen Erklärungsmuster gilt
Antisemitismus als subjektive Disposition, als Hass. Ihnen sind die
‚bürgerlichen Theorien' zuzuordnen, also die akademischen und
außer-universitären Diskurse der Sozialwissenschaften und der Pädagogik.
Antisemitismus wird hier bestimmt als schlichte
Abneigung eines Individuums gegen irgendeine Gruppe, die nur
durch das Ziel der verfemten Gruppe, in diesem Fall "Jude", näher
spezifiziert wird. Dem Antisemitismus zur Seite stellen lassen sich auf
diese Weise ebenso der Hass auf Farbige (Rassismus), auf Frauen
(Sexismus), überhaupt auf alles Andere, auf Tiere etc.Dies ist eine
Erklärung, die keine ist und die dies nichtmals merkt.
Denn das Phänomen Antisemitismus wird nicht erklärt,
sondern auf das Individuum abgewälzt, und jenes damit zum Objekt
didaktischer und pädagogischer Bearbeitung: Vorurteile seien das
Resultat mangelnder oder verfälschter Bildung und Erfahrung, weswegen
"Begegnungs- und Verständigungswochen" zwischen Deutschen und Juden
organisiert oder auch straffällig gewordene Neonazis auf Bildungsurlaub
nach Israel geschickt werden müssen. Das antisemitische Subjekt gehöre
über die Juden und den Nationalsozialismus aufgeklärt.
Zum zweiten sei die antisemitische Einstellung das
Resultat persönlichkeits- deformierender Kindheitserfahrungen, welche
von der sie konstatierenden Klientel direkt ausgebügelt werden können.
Was Antisemitismus ist, wird nicht erklärt, sowenig wie dessen
De-Thematisierung, der nebulöse "Hass auf Andersartige". Vielmehr wird
dieser als Phänomen voraus- und gleichzeitig als Erklärung
hintenangesetzt, wenn man sich nicht auf die Postulierung
anthropologischer Konstanten verlegt. Diese Erklärung, die keine ist,
setzt voraus, was selber erst erklärt werden müsste: den "Hass auf das
Andersartige", denn diese ‚Erklärung' besteht ihrerseits aus basalen
Kategorien, die unreflektiert verwendet werden; -- und darin erweist
sich diese Art der Theoretisierung im strikten philosophischen Sinne als
unkritisch. Denn geklärt werden müsste: Was ist "der
Hass"? Was artikuliert sich in ihm? Was ist "das Andersartige"?
Wodurch wird es konstituiert, wodurch wird es zu dem Andersartigen und
in welchem Verhältnis steht es zu dem Eigenen? Und wie hängt das eine
mit dem anderen zusammen? Wieso richtet sich "der Hass" auf "das
Andersartige"?
Die objektivistischen Erklärungsmuster sind
die, die zum klassischen, traditionellen Marxismus und zu seinem
Derivat, der Autonomen und des Linksradikalismus, zu zählen sind.
Antisemitismus gilt hier als "gesellschaftliches Produkt". Streng nach
dem auswendig gelernten und zur ontologischen Grundwahrheit erhobenen
und damit um seinen kritischen Impetus gebrachten Satz von Karl Marx,
dass das Sein das Bewusstsein bestimme, wird Antisemitismus irgendwie
aus dem ‚Sein', also aus ‚der Gesellschaft' abgeleitet. Die nebulösen
‚gesellschaftlichen Ursachen' stellen sich schnell als ‚soziale
Umstände' heraus, und linke Theorie wird demgemäss als Milieutheorie
betrieben: Antisemitismus, der auch hier als ideologische Form nicht
weiter spezifiziert wird, entstehe, wenn die ‚sozialen Umstände'
‚schlecht' sind. Der Kapitalismus habe die unangenehme Eigenschaft, die
Subalternen verrohen oder entarten zu lassen. Nicht nur in Zeiten der
manifesten Krise greife soziale Deprivation: durch das
verantwortungslose Profitstreben komme es zu Arbeitslosigkeit, zur
Verelendung der Städte oder zu einer allgemeinen Verelendung etc.
Aus deprimierender Umgebung, aus Arbeits- wie aus
materieller Mittellosigkeit resultiere eine allgemeine Perspektiv- und
Sinnlosigkeit, die zu Kapitulation, Drogenkonsum, Gewalt oder
Rechtsradikalismus führe. Der Frost der ‚Verhältnisse' schaffe Hass und
dieser schaffe Gewaltbereitschaft, und dieser Frust müsse raus, müsse
abgelassen werden wie in einem Konrad Lorenz'schen Triebstaumodell. -
Darin, in diesen dürren und von mir nur ein wenig zugespitzten Sätzen
soll bereits der gesamte Zusammenhang von Kapitalismus und
Antisemitismus resp. Rassismus bestehen. Der Kapitalismus treibe die
Subalternen in die Enge und jene handelten dann dem Kapitalismus gleich,
der als gesellschaftliche Praxis äußerster Brutalität und
Gewissenlosigkeit gilt.
Die einzige Frage, die sich noch gestellt wird, ist
die, warum der Hass der gebeutelten Subalternen sich nicht gegen "die
Herrschenden" oder gegen "die Verantwortlichen" richte. An dieser Stelle
greift die Ideologietheorie, die gerne als
Manipulationstheorie auftritt: Die antisemitischen Subjekte sind
Objekt - oder gar Opfer - von Beeinflussung, sei es durch die Medien,
die Erziehung, Schule, Kirche, direkte staatliche Propaganda - wie auch
immer, je nach theoretischer Konjunktur und persönlicher Vorliebe und
Paranoia-Präferenz, die "ideologischen Mächte" genannt werden mögen.
Diese Medien greifen die widrigen sozialen Umstände auf und bearbeiten
sie. Antisemitismus diene also als Instrument, sei's "um den Hass der
Unterdrückten von den waren Ursachen abzulenken" (so die Autonomen) ,
sei's um die an sich doch internationale Arbeiterklasse zu spalten und
zu desorganisieren (so der beliebte Diskurstheoretiker Stuart Hall).
Direkt nebenan liegt, man kommt von ganz alleine
darauf, die aktive
Entschuldung antisemitischer und rassistischer Taten. Denn diese
seien Opfer von (a) widrigen sozialen Umständen und (b) umgarnt von
Manipulation. Das durchaus gerechtfertigte und sei's an sich unschuldige
sei's immer schon irgendwie revolutionäre Aufbegehren gegen "die da
oben" (wer auch immer das sei) werde um- und fehlgeleitet. Eigentlich
meinen sie etwas ganz anderes, mit dem, was sie da tun. In der Diktion
des berühmten Alt-Marxisten Wolfgang Fritz Haug gibt es einen
fulminanten Unterschied zwischen den "ideologischen Großformationen" und
dem "spontanen Rassismus von unten", "der im Alltagsleben verwurzelt
ist". Dieser "spontane plebejische Rassismus kann den Herrschenden Sorge
bereiten", weil dieser auch schon mal gewalttätig auftritt und damit das
staatliche Gewaltmonopol antastet. Der "Rassismus-von-unten" braucht
v.a. Mitgefühl: "Denkt man die Krisen und ihre Folgen hinzu, lässt sich
verstehen, dass der Aufschrei der sozial getretenen Kreatur zum
Hass-Schrei werden kann. Brandstiftung und Mord können verwandelte
Formen des Protestes sein - im Modus des entfremdeten Protestes gegen
Entfremdung." Der linke Theoretiker weiß es immer schon besser als sein
revolutionäres Subjekt der Begierde; jenes sei unfähig zu meinen, was es
tut. Er kann den Schein der Weltgeschichte auf das Eigentliche
durchschlagen.
Am fatalsten jedoch wird es, wenn linke Theoretiker
meinen, in der Agitation gegen Banken und Börsen etc. Ansätze einer
kommunistischen Kritik erkennen zu können. Es zeigt sich, was die
traditionelle Linke unter Kapitalismus versteht: den fetten Kapitalisten
mit Zigarre, Monokel und Zylinder, der wie Marionetten die "Schwatzbude"
Parlament und die Exekutivorgane Polizei und Soldaten für seine Pläne
lenkt, gegen den der aufrechte Arbeiter aufstehen und mächtig mit der
Faust auf den Tisch schlagen müsste; -- so also, wie jeder Nazi den
Kapitalismus versteht.
Sicher ist es richtig, dass mit Rassismus oder
Antisemitismus Hass und Frustration ab- oder umgelenkt werden; sicher
ist es richtig, dass Rassismus oder Antisemitismus "entlastende
Orientierungs- und Handlungsangebote" anbieten, wie es der
linksnationalistische Diskurstheoretiker Wieland Elfferding in einem
neutralen Soziologendeutsch so schön sagt. Aber die Frage ist:
Wovon wird entlastet? Wovon wird abgelenkt? Wieso
lässt man sich ablenken? Für welches "Angebot" entscheidet man sich? Und
wieso entscheidet man sich gerade ausgerechnet für dieses oder jenes?
Um diese Frage zu beantworten, wie um die gezeigten
Mängel der ideologischen Formbestimmtheit des Antisemitismus zu beheben,
soll zunächst das ideologische Phantasma Antisemitismus adäquat erfasst
werden.
Fortsetzung:
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17.04.01 |