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Zur Entstehung des Antisemitismus

von Fabian Kettner

Teil IV.

In welchem Zusammenhang aber stehen bürgerliche Gesellschaft & Kapitalverhältnis und Antisemitismus über diese beschreibende Zuordnung hinaus: dass die Juden all das repräsentieren, was am Kapitalverhältnis nicht begriffen und als bedrohlich wahrgenommen wird?

In der Dynamik des antisemitischen Wahns und in den Inhalten seiner Projektions- leistungen findet sich ein Ineinander von subjektiven, individuellen und objektiven, gesellschaftlichen Momenten. Es finden sich zwar gesellschaftliche Momente im antisemitischen Klischee - aber keinerlei Erfahrung. Was einmal Erfahrungsmaterial gewesen sein mag: dass Juden bspw. als Repäsentanten des Markts oder des Geldhandels auftreten, das ist heutzutage nicht mehr gegeben. Was schon damals dünne Verschiebungsleistung war, kann heute nichtmals mehr herkömmlich plausibilisiert werden. Nichtsdestotrotz aber werden die gleichen antisemitischen Klischees mit traumwandlerischer Sicherheit reproduziert.

Um diese Fragen zu klären, soll im folgenden auf zwei Theoriestränge zurückgegriffen werden: zum einen auf die Theorie des autoritären Charakters, wie sie v.a. von Leo Löwenthal, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer entwickelt wurde ; zum anderen die Theorie der Verdinglichung und Fetischisierung, wie sie Thema der Kritik der politischen Ökonomie von Karl Marx ist und wie sie über Georg Lukàcs, Alfred Sohn-Rethel und Adorno bis hin zu Moishe Postone weiterentwickelt wurde.

Der autoritäre Charakter, so kann vorab gesagt werden, ist eine ich-schwache Persönlichkeit, als Folge von übermächtigen Einwirkungen in der seelischen und psychischen Entwicklung des Individuums.
Die kritische Theorie des autoritären Charakters knüpft hierbei zunächst ganz orthodox an Sigmund Freuds Modell des Ödipus-Komplexes und dessen Lösung resp. Nicht-Lösung an. In der ödipalen Phase gerät nach Freud das männliche Kind in den Konflikt, die Mutter zu begehren und dadurch gleichzeitig Furcht vor dem Vater verspüren zu müssen. Deswegen lehnt er sich gegen ihn auf. Das männliche Kind löst diesen Konflikt durch Unterwerfung unter den Vater, indem er sich mit der Autorität identifiziert, wobei er diese internalisiert. Diese Identifikation beinhaltet die Aufrichtung des Über-Ich in der seelischen Persönlichkeit; sie bedeutet aber auch Triebversagung, wodurch es zu Feindseligkeit und Aggression kommt; sie bedeutet aber auch die Möglichkeit zur Teilhabe an väterlicher Macht; v.a. aber den zivilisatorischen Fortschritt der Eigenständigkeit gegen den Vater und der Lösung von der Mutter. Vorausgesetzt ist aber eine geregelte Lösung des ödipalen Konflikts.

Es zählt zu einer der besten Einsichten Freuds, dass die Ich-Entwicklung, die Herausbildung des respektablen, ‚normalen', funktionierenden Ich eine Folge von Ich-Unterdrückung ist. Nur die erfolgreiche Internalisierung der Autorität bedeutet die Errichtung des Über-Ich, d.h. der Instanz gegenüber dem Es, zwischen denen ein Ich sich bilden und behauten kann.
Der autoritäre Charakter hingegen hat kein Ich oder ein nur sehr schwaches. Sein schwaches Ich konnte sich nicht herausbilden, weil dem Ich kein der seelischen Persönlichkeit inneres Über-Ich gegenüber und zur Seite tritt. Dies ist Ergebnis eines Scheiterns einer erfolgreichen Internalisierung der Autorität durch übergroße Aggression. Diese Aggression ist nicht auf die Person des Vaters beschränkt. Auch dieser war immer schon Agentur gesellschaftlicher Gewalt, die aber auch auf andere Weise vermittelt oder direkt auf die Individuen einwirken kann. Die Gesellschaft tritt ihnen als Realitätsprinzip gegenüber, als Aufforderung zu Ordnung, Anpassung und Leistung, als Zwang zur Identifikation mit einem Kollektiv (oder diversen), als allgemeine Verunsicherung, als Unmöglichkeit der Selbstbestimmung unterm Kapitalverhältnis.

Mangels eines Ich bleiben Es und Über-Ich der seelischen Persönlichkeit ich-fremd; mangels erfolgter Internalisierung des Über-Ich bleibt der Ich-Schwache von äußerer Autorität abhängig. Da die Autorität den ich-schwachen Charakter stützt, hat jener kein eigenes Gewissen und ist unfähig, eigene Entscheidungen zu treffen. Das Über-Ich tritt dem autoritären Charakter weiterhin entgegen, in Form äußerer Autorität; ebenso bleiben innere Triebstrebungen bestehen; beides kann nicht durch ein eigenständiges Ich vermittelt, geschweige denn sublimiert werden.

Die Haltung der seelischen Persönlichkeit zum externen Über-Ich ist gekennzeichnet durch ein Zugleich von Unterwerfung und Feindseligkeit gegen die von ihm ausgehende Aggression, eine feindselige Haltung, die aber nicht zugegeben, geschweige denn geduldet werden kann, da die Autorität diejenige Instanz ist, die dem ich-schwachen Individuum Halt gibt. Es lenkt die Aggression als Masochismus nach innen, was aber nicht vollständig gelingt, weswegen die Aggression ebenso als Sadismus nach außen geleitet wird, und zwar dann stets dann, wenn die Autorität es erlaubt.

Die Haltung der seelischen Persönlichkeit zum Es ist gekennzeichnet durch ein Nicht-Verhältnis, weil das Es ich-fremd bleibt. Das Es verursacht Angst und ein schlechtes Gewissen wegen der inneren Triebstrebungen, deren Inhalte affektiv nach außen verlagert werden. Diese Ableitung wird begünstigt durch die Ich-Fremdheit des Es: dessen Bestrebungen können nur als von außen kommend wahrgenommen werden. In der Projektion wird das vom Über-Ich nicht Zugelassene (die Strebungen des Es und die Aggression gegen das Über-Ich), von der seelischen Persönlichkeit aber Verspürte aus innerem Zwang nach außen gewendet. Abgespalten wird das Unerträgliche und Bedrohliche, was die wackelige Identität in Frage stellt.
Was sich also im eruptiven Aufbegehren äußert, ist keine Revolte - allenfalls "konformistische Revolte" (Erich Fromm). Der Ausbruch im Pogrom erfordert keinen Mut, da er mit Billigung der Autorität gegen eine stigmatisierte und schwache Gruppe erfolgt. In allem, was der autoritäre Charakter hierbei tut, arbeitet er hartnäckig an seiner fortgesetzten Unterwerfung: er bewegt sich komplett innerhalb der Bahnen seiner psychischen Struktur und schmiedet diese fester; er willfährt der Autorität und er nutzt die verfemten Triebstrebungen, um dies umso besser tun zu können. Der autoritäre Charakter zieht hieraus weder Befreiung noch Befriedigung, dumpf setzt er fort, was ihm ohnehin angetan wird.

Der autoritäre Charakter bildet die Matrix für totalitäre Ideologien und Bewegungen.
Antisemitismus ist immer der von Individuen reflektierte Antisemitismus, aber er kommt den Individuen auch objektiv entgegen, die ihn eifrig weiterspinnen.

Der gesellschaftliche Zusammenhang, den die Individuen im Kapitalverhältnis reproduzieren, tritt ihnen als fremdes, eigenmächtiges, anonymes Verhängnis entgegen, als "zweite Natur", wie Marx und Hegel das genannt haben. Er verdeckt sich selbst und seine Form von Herrschaft, weil er nicht bewusst hergestellt wird. Im Kapitalverhältnis stehen an der Stelle direkter, unmittelbarer persönlicher Herrschafts- beziehungen Sachzwänge, der "stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse" .

Es kommt zu dem, was Adorno & Horkheimer die "Verkleidung der Herrschaft in Produktion" nannten: Ausbeutung und Herrschaft werden weiterhin praktiziert, gesellschafliche Vermittlung wird hergestellt, ohne dass sie wahrgenommen wird. Dies ist der dem Kapitalverhältnis eigentümlichen Weise gesellschaftlicher Synthesis geschuldet. Die Arbeiten und die Produkte der Subjekte, mit denen sie in den Stoffwechsel des gesellschaftlichen Organismus eingebunden sind, haben einen ‚übersinnlichen' Charakter: die Arbeit hat den Doppelcharakter von konkreter und abstrakter Arbeit, und die Ware hat den Doppelcharakter von Gebrauchswert und Wert. Vermittlung, Synthesis geschieht über den Wert, eine abstrakte Dimension, welches dasjenige ist, was die bürgerliche Gesellschaft im Kern zusammenhält. Der Wert ist in der Arbeit und der Ware schon gesetzt, damit diese gesellschaftlich vermittelt werden können. Er steckt in ihnen schon drin und muss seinen Ausdruck im Geld finden und muss als Kapital zirkulieren können.

Dieser notwendige gesellschafliche Zusammenhang ist aber nicht unmittelbar sichtbar; er wird vom Alltagsbewusstsein auseinandergerissen. Denn der Wert kann nur dort wahrgenommen werden, wo er in dinglicher Gestalt umgesetzt wird; Ausbeutung und Zwang können nur dort wahrgenommen werden, wo sie als "Herrschaft des Geldes" auftreten. Das Geldwesen scheint dem gesellschaftlichen (Re-) Produktionszusammenhang nur äußerlich hinzuzutreten; die geldwerte Gesetztheit der Arbeit als Lohnarbeit und der Produkte als Waren wird nicht als notwendiges und bestimmendes Moment des gesellschaftlichen Zusammenhangs erkannt. Die Ware soll das eine sein - ihr geldwerter Ausdruck das andere; Lohnarbeit soll das eine sein - Ausbeutung das andere; die ‚ehrliche' Arbeit in der Produktionssphäre, das industrielle Kapital etc. soll das eine sein - die Kapitalbewegung als Zins und Börse das andere. Aufgespalten wird, was zuinnerst zusammengehört. Verfemt wird, was der eigene Selbsterhaltungsprozess hervorbringt und benötigt, was man aber als Folge des eigenen Handelns nicht erkennen kann, was man sich als Folge des eigenen Handelns sich nicht zurechnen lassen möchte.

Fortsetzung:

schule.judentum.de klick-nach-rechts.de 17.04.01


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