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Judentum und Israel
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Zur Entstehung des Antisemitismus

Von Fabian Kettner

Teil V

Im Phantasma des Juden findet sich also individuelles wie gesellschaftliches Unbewusstes versammelt:
Dem Juden wird übertriebene Sinnlichkeit nachgesagt, die in den großen Nasen und den wulstigen Lippen der antisemitischen Karikaturen Gestalt annimmt.
Der Jude sei sexuell triebhaft, steht für Libertinage und Ausschweifung, gar für Perversion, die sich vorzugsweise in Verführung und Schändung von unschuldigen deutschen Frauen und Kindern ausagiert.

Er steht für Faulheit, Arbeitsscheue und -unfähigkeit; er verfüge qua seiner betrügerischen finanziellen Transaktionen über müheloses Einkommen. Er verkörpert ökonomische Rücksichtslosigkeit und Gerissenheit, die man selber an den Tag legen muss, sich aber nicht erlauben darf oder kann.
Der Jude ist die Verkörperung des Traumes & Alptraumes von Heimat- und Wurzellosigkeit, der Freiheit der Schranken von Stand und Nation.

Er verkörpert ein Zugleich von Stärke und Schwäche. Seine Stärke erheischt Bewunderung und Furcht zugleich, aber sie ist nur angemaßt, künstlich wie sein ganzes Wesen, denn er hat sie erlangt nur durch trickreiche Machenschaften, ohne von wirklicher Macht und Gewalt gedeckt zu sein. Denn der Jude hat keine Heimat, kein Vaterland, keine Nation und keinen Staat, kein vorgeblich erdverhaftet autochthon Identisches im Wechsel des Marktgeschehens. Dies ist die Schwäche des Juden, die man fürchtet.

Der Antisemitismus ist der Reim, den sich das staatsloyale und kapitalproduktive Subjekt auf die gesellschaftlichen Verhältnisse macht, ohne es so genau wissen zu wollen.
Weil das Handeln der Subjekte über die von ihnen gesetzten Zwecke hinausgeht, weil die Gesellschaft unterm Kapital keine menschliche ist; weil das Kapitalverhältnis aber von nichts als Menschen veranstaltet wird, erscheint die Gesellschaft als die Gesellschaft der Individuen.

Mit der Personalisierung und Pseudo-Konkretisierung abstrakter gesellschaftlicher Zusammenhänge wird das Kapitalverhältnis dem Verständnis zugeführt, weil dies seine Erscheinungsweise ist. Die Gestalt des Juden besetzt die Stelle einer imaginierten Gruppe von Individuen, die das innere Band der Gesellschaft als Zügel in den Händen hält und darüber seine Fäden zieht, die als von außen kommender Feind halluziniert wird, der die Identität bedroht: die Identität des zerbröckelnden Subjekts, des schwachen Ich, wie die Identität der angeblichen Schicksalsgemeinschaft Volk, welches durch ein vom Kapital objektiv gesetztes Klassenverhältnis gespalten ist.

Der Antisemitismus ist eine Geisteshaltung, die den Juden will und braucht. "... existierte der Jude nicht", so fasst Jean-Paul Sartre in seinem äußerst hellsichtigen Essay "Überlegungen zur Judenfrage" zusammen, "der Antisemit würde ihn erfinden." Sartre beschreibt den Antisemitismus als eine "Leidenschaft", der gewiss "in der Form einer theoretischen Aussage auftreten kann" , die aber fern jeder rationalen Überprüfbarkeit und Zurechenbarkeit ist. Der Antisemitismus ist nach Sartre eine "Wahl", "die von keinem äußeren Faktor herstammt." "Die Erfahrung ist [...] weit davon entfernt, den Begriff des Juden hervorzubringen, vielmehr ist es dieser, der die Erfahrung beleuchtet." Er geht als "eine umfassende Haltung, die man nicht nur den Juden, sondern den Menschen im allgemeinen, der Geschichte und der Gesellschaft gegenüber einnimmt, ... den Tatsachen voraus, die sie entstehen lassen müssten, sie sucht sie, um sich von ihnen zu nähren, sie muss sie sogar auf ihre Weise interpretieren, damit sie wirklich [für ihn] beleidigend werden."

Der leidenschaftliche Zustand des Antisemitismus, in den der Antisemit sich versetzt/versetzen lässt, ist Selbstzweck der ganzen Veranstaltung. Deswegen kann er nicht korrigiert werden, schon gar nicht mit dem Verweis auf seine ‚eigentlichen' Interessen oder auf die Anti-Ökonomie solchen Verhaltens. Der antisemitische Bekenner und Täter ist ein wasserdichter Idealist. "Der eigentliche Gewinn, auf den der Volksgenosse rechnet, ist die Sanktionierung seiner Wut durchs Kollektiv. [...] Für das Volk ist er ein Luxus." Seine intuitive Gewissheit, die der Antisemitismus aus seiner Weltanschauung zieht, projiziert er in einer ‚pathischen Projektion' auf die Realität, zu der er ein durchweg schizophrenes Verhältnis unterhält, wie auf den Diskurs, in den er sich ab und an begibt, um mit der vernünftigen Argumentation sein Spiel zu treiben. Wer mit Antisemiten diskutieren will, verkennt deren Verhältnis zu ihren Aussagen. "Der Antisemitismus", so Leszek Kolakowski, "ist hauptsächlich deswegen keine Theorie, weil er wie die meisten geistigen Erscheinungen, die in dem Kampf gegen den Fortschritt entstehen, dem Wesen nach irrational und daher jeder Kritik unzugänglich, hoffnungslos stupid und total unkritisch ist. Er ist keine Doktrin, die man kritisieren kann, sondern eine Haltung, deren soziale Wurzeln so geartet sind, daß sie nach keiner Begründung suchen muß. Man kann ihm keine Argumente entgegensetzen, denn er ist unweigerlich mit solchen Reaktionsarten verbunden, denen jede Argumentation [...], fremd und verhasst ist. Er ist Antikultur und Antimenschlichkeit, Antitheorie und Antiwissenschaft. Davon hat sich jeder überzeugt, der Gelegenheit hatte, mit einem Antisemiten eine jener hoffnungslosen Diskussionen zu führen, die immer dem Versuch ähneln, einem Tier das Sprechen beizubringen." 

Teil VI.

Die Theoretisierung des Antisemitismus, seine sozialwissenschaftliche und pädagogische Erfassung und Bearbeitung, macht sich einen Reim auf den Irrsinn, den der Antisemit sich ausmalt. Sie zerbricht sich den Kopf des Antisemiten, den jener gar nicht will und verbirgt den gesellschaftlichen Grund und die Konstitution des antisemitischen Subjekts umso besser und weiter.

Nun könnte es so scheinen, als sähe auch die Kritische Theorie die antisemitischen Subjekte als Opfer: der autoritäre Charakter als eine Missbildung übermächtiger gesellschaftlicher Verhältnisse, gesellschaftlichen Terrors; die Verkennung des Kapitalverhältnisses als gedankenlose Ab- oder Nachbildung des sich fetischhaft selbst verdeckenden gesellschaftlichen Zusammenhangs. Der Unterschied besteht aber darin, dass die Sozialwissenschaften nach der Maxime verfahren, dass alles Erklären auch alles Verstehen und auch alles Entschuldigen bedeutet. Kritische Theorie hingegen rekonstruiert den Wahn, erzählt dessen Genese nach, ohne diesen selber plausibel zu machen. Sicher sind alle irgendwie ‚Opfer' des Kapitalverhältnisses, also Objekt in dem sinne, dass sie keine Wahl haben, ob sie unter ihm aufwachsen müssen oder nicht. Aber Kritische Theorie betreibt "Polemik gegen das Opfer" (Joachim Bruhn), d.h. klopft ihm nicht aufmunternd auf die Schulter. Denn das sogenannte ‚Opfer' des Kapitalverhältnisses ist gleichzeitig dessen Subjekt: es erhält aufrecht, wovon es verseht wird. Eine Kritische Theorie der Gesellschaft und des Antisemitismus stellt die Frage an dieses Subjekt & Objekt des Kapitalverhältnisses, ob es sich auch weiter zurechnen lassen will, sich in diesen seinen Funktionen auch weiterhin dienstbar zu machen, ob es seine Unterwerfung weiterhin als sein Selbstbewusstsein verkaufen will.

schule.judentum.de klick-nach-rechts.de 17.04.01


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