Rund um Wunsiedel:
Fast noch ein Märtyrer
Im thüringischen Altenburg schoss ein Polizist einen Neonazi
beim Kleben von Heß-Plakaten an. Noch am selben Tag demonstrierten über 200
Rechtsextreme in der Stadt.
Die Aufregung war groß bei ostdeutschen Neonazis am 17. August. SMS-Nachrichten
und Mitteilungen in diversen Internetforen schreckten die Szene auf. Mitgeteilt
wurde ein »staatlicher Mordversuch auf Nationalisten«. Was war geschehen?
Der Tag, an dem 1987 Rudolf Heß, der in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen
verurteilte ehemalige Stellvertreter Adolf Hitlers, im Gefängnis Berlin-Spandau
Selbstmord beging, gilt für die extreme Rechte als Gedenktag des »ermordeten
Friedensfliegers«. Traditionell ziehen in den Nächten vor diesem Datum Neonazis
durch Deutschlands Straßen und kleben Aufkleber und Plakate, die den angeblichen
Mord anprangern und den Nationalsozialisten verherrlichen. Das taten sie in
diesem Jahr auch im ostthüringischen Altenburg.
In den frühen Morgenstunden des 17. August plakatierten zwei junge Neonazis in
dem Ort Plakate zur Verherrlichung von Rudolf Heß und wurden dabei von einem
Anwohner beobachtet. Dieser rief die Polizei. Als die Beamten eintrafen und die
Plakatkleber festnehmen wollten, wurde ein 18jähriger Neonazi durch einen Schuss
aus einer Dienstwaffe eines Polizisten am Oberarm verletzt und musste in
stationäre Behandlung gebracht werden. Während die Polizei zunächst davon
sprach, dass der Schuss sich während eines Handgemenges bei der Festnahme der
zwei Neonazis aus der Dienstwaffe des Polizisten gelöst habe, sprechen die
Neonazis von einem »staatlichen Mordversuch«.
Mittlerweile gibt die Polizei an, bei der Flucht der Täter über einen Zaun habe
sich der Schuss aus der durchgeladenen Dienstwaffe gelöst. Der 36jährige
Polizist wurde vom Dienst »freigestellt«. Die Sprecherin der zuständigen
Polizeidirektion in Gera, Steffi Kopp, sagte der Jungle World, dass dies in
keiner Form einer Suspendierung gleichkomme. Vielmehr sei dies in solchen Fällen
üblich, um es dem betroffenen Beamten zu ermöglichen, leichter die erlebte
psychische Extremsituation zu verarbeiten.
Die Staatsanwaltschaft leitete ein Ermittlungsverfahren gegen den Beamten wegen
des Verdachts auf fahrlässige Körperverletzung ein. Geklärt werden soll, aus
welchem Grund er die Waffe in der Hand gehalten habe, als er die zwei
Tatverdächtigen verfolgte. Bislang geht die Polizeidirektion davon aus, dass in
der engen Straße die Lage »völlig unübersichtlich« gewesen sei. Zudem sei der
Beamte alleine gewesen, da die zwei Kollegen, die ihn begleiteten, einen anderen
Weg zur Verfolgung genommen hätten, erklärte die Pressesprecherin weiter.
Der Thüringer Innenminister Karl-Heinz Gasser (CDU) sprach der Osterländer
Volkszeitung zufolge von einem »klaren Unfall«. Es lägen keinerlei Hinweise auf
ein absichtliches Handeln des Polizisten vor. »Es gibt Unfälle, die kann man
nicht verhindern.«
Die zwei Plakatkleber, die aus Sachsen stammen, sind der Altenburger Polizei
seit Jahren bekannt und schon mehrfach durch rechtsextremistische Aktionen in
Erscheinung getreten. Gegen sie wurde ebenfalls ein Ermittlungsverfahren
eingeleitet, und zwar wegen des Verdachts der Verleumdung, da auf den Plakaten
behauptet wurde, Rudolf Heß sei ermordet worden.
Die Neonazis in der Region wollten eine Klärung des Vorfalls nicht abwarten, zu
schön passte die Opferrolle ins eigene Selbstverständnis. So stellte das
sächsische Internetportal Heimatschutznetzwerk fest: »Ausgerechnet in der Nacht
zum 17. Todestag von Rudolf Heß hätte der Mordfall Heß fast einen weiteren Mord
zur Folge gehabt.« Für den Abend des 17. August wurde zu einer
Spontandemonstration in Altenburg aufgerufen. Daran nahmen etwa 230 Neonazis
teil, überweigend aus der Region, aber auch Angereiste aus weiter entfernten
Städten.
Der Hamburger Neonazi Christian Worch, die Kader des Thüringer »Heimatschutzes«
André Kapke und Ralf Wohlleben, Aktivisten des so genannten Selbstschutzes
Sachsen-Anhalt und der »Festungsstadt Magdeburg« sowie Sympathisanten der
verbotenen Kameradschaft Skinheads Sächsische Schweiz (SSS) marschierten mit
regionalen Anhängern der freien Kameradschaften durch eine fast menschenleere
Innenstadt.
Einer der Redner war der zweite am Plakatieren beteiligte 24jährige Neonazi. Er
behauptete, sein Kompagnon und er hätten beim Anblick der Polizei die Flucht
ergriffen und gerade versucht, über einen Zaun zu klettern, als ohne vorherige
Warnung ein Schuss gefallen und sein »Kamerad« am Oberarm getroffen worden sei.
Dann seien sie von den Beamten festgenommen worden. Die erste Reaktion des
Polizisten sei gewesen: »Nun kann ich meine Beförderung vergessen.«
Ralf Wohlleben aus Jena, der die Demonstration angemeldet hatte, forderte die
anwesenden Polizeibeamten auf, sich zu dem Vorfall zu äußern. Als sich
erwartungsgemäß keiner der Beamten zu Wort meldete, wertete er dies als
»Schuldeingeständnis«. Auf der Demonstration skandierten die Neonazis vorwiegend
Parolen, die eher von linken Demonstrationen bekannt sind. Sie riefen: »BRD
heißt das System, morgen wird es untergeh’n«, »Polizeistaat abschaffen« oder
»Fight the System! – Dem Polizeistaat die Stirn bieten!«
Mit der Demonstration gelang es den Neonazis, innerhalb weniger Stunden eine
große Anzahl von Unterstützern nach Altenburg zu bringen. Damit erzielten sie
einen Achtungserfolg für die lokale Szene. Aus der Region stammen etwa die
bekannten Neonazibands Kreuzfeuer und Moshpit. Letztgenannte gehören zu den
derzeit angesagtesten Szenebands aus dem Bereich »Hatecore«.
Der Leiter der Geraer Polizeidirektion, Lothar Kissel, der den Polizeieinsatz
bei dem Aufmarsch leitete, zeigte sich im Gespräch mit der Osterländer
Volkszeitung wenig beeindruckt. »«Dass binnen kurzer Zeit so viele Leute
mobilisiert werden können, hat mich nicht überrascht.«
DG / 700101
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