Die Feuilletons reden gern über Thor Kunkel. Er
sei aufschneiderisch, wird geschrieben, er habe nicht richtig recherchiert,
heißt es. Man konfrontiert ihn gern mit seinen Aussagen, doch er zieht sich, mit
seinen Sätzen konfrontiert – auch dann, wenn es sich um Aussagen eines
auktorialen Erzählers handelt –, gern hinter die Behauptung zurück, alles sei
nur »Rollenprosa«. Es gibt vielleicht jene Nazi-Pornos, an denen Kunkel sich so
abarbeitet, vielleicht gibt es sie nicht, Kunkel jedenfalls gibt vor, eine
Darstellerin von damals zu kennen, sie freilich äußert sich nicht. Kunkel tut
dies, Kunkel tut das. Das ist allesamt höchst lächerlich, ein Autor demontiert
sich selbst, indem er sich aufs Widerlichste spreizt.
Der jungen Welt, die als eine der wenigen
Zeitungen bereit ist, sein Buch zu verteidigen, berichtet Kunkel von seiner
Intention: »Ich sehe das Dritte Reich als die Vorstufe einer Entwicklung zur
Pornokratie, in der wir heute leben, hin zu einer Biokratie, die schon bald
durch biometrische Erfassung der Bürger, der Kommerzialisierung des menschlichen
Genoms und bioästhetischen Normierung des Körpers droht, die Demokratie
abzulösen.« Ein Warner und Mahner also, der Thor Kunkel? Mal abgesehen davon,
dass »Pornokratie« ein so intelligentes und sinnvolles Wort wie »Kartoffelismus«
ist, kann man sein schönes Wort »Vorstufe« als Beleg dafür heranziehen, dass er
zu eben jenen Menschen gehört, die sich weigern, sich mit der Geschichte des
Dritten Reiches eingehend zu beschäftigen, zugleich aber offensichtlich
fasziniert davon sind.
In »Endstufe«, diesem schon vorab so sehr als
Skandal gehandelten, von seinem ursprünglichen Verlag schließlich aus dem
Programm gekippten Roman, präsentiert Kunkel, der angibt, jahrelang recherchiert
zu haben, seine Version vom Nazi-Leben, jener »Vorstufe«. Es gab ein paar
glückliche Menschen in diesem Deutschland, denen der Krieg, sofern er nicht sie
betraf, ziemlich piepegal war, die Vernichtung der Juden wurde als unangenehm
empfunden, doch war auch sie kein Thema, Opium und Kokain wurden im großen Stil
genommen, man war der schmucken Uniform wegen in der SS, pendelte irgendwas aus,
fuhr munter mit dem Volkswagen oder dem Mercedes umher, hatte selbst als
arbeitsloser Deserteur große Mengen Reichsmark auf der Tasche und die
Reichsführung war auch irgendwie nur Huipfui und windig. Solche Leute, denen das
Dritte Reich ein bohemehaftes Leben erlaubt (und die es zweifelsohne wirklich
gab), kommen in Kunkels Roman auf die Idee, Pornos zu drehen und gegen Rohstoffe
zu tauschen. Einer von ihnen, der Karl Fußmann heißt, und, haha, ein bisschen
ein Fußfetischist ist, wird, obschon ein stockbiederer Wissenschaftler mit einer
eher heimlich gepflegten sexuellen Obsession, unfreiwillig zum Darsteller in
einem dieser Streifen, den so genannten »Sachsenwald«-Filmen. Und er verliebt
sich in jene Frau, mit der er dort vor der Kamera agiert, die er, wie gesagt,
nicht bemerkt, so, als sei eine Filmkamera damals so leise gelaufen wie die
Digicam von heute.
Kunkel nimmt es mit der geschichtlichen
Wahrheit eh nicht so genau, das Berliner Zeitungsviertel liegt unweit des
Kudamms, man hat einfach so Parkuhren und sogar Porsches in seiner Nazizeit.
Lotte jedenfalls heißt die Frau, in die sich jener Fußmann, nun ja, verliebt,
sie ist selbstverständlich eine Edelhure, die allerdings wiederum gänzlich dem
Penis Fußmanns verfällt, da jener eine Standfestigkeit aufweist, welche die
ansonsten frigide Lotte zu Orgasmen bringt, endlich. Es ist also doch nur der
Vaginalverkehr, da haben wir es wieder!
Dann wird noch ein bisschen in Nordafrika
rumgemacht, in dem es aber auch nur Deutsche und Engländer, Italiener und ein
paar finstere »Beduinen« hat und das irgendwie nichts anderes als ein, äh,
Schauplatz war. Lotte, die Fußmann tot glaubt, verlustiert sich derweil mit
Kokain und dem Pornokameramann in Babelsberg, neben der Villa der Rühmanns, und,
hihi, der olle Heinz geht immer spannen, wenn sich Frau Lotte oben und unten
ohne sonnt.
Ist Ihnen schon schlecht? Es geht noch weiter.
Die Gestapo oder Ex-Gestapo will irgendwelche
Leute umbringen, hier knallt eine Handgranate in einem Zimmer, alle drei
Anwesenden überleben allerdings, dort agiert ein Junge mit einem Granatsplitter
im Kopf, der Junge ist offensichtlich magnetisch und übersinnlich begabt.
Das sei Trash, sagt Kunkel, der eben noch eine
politische Botschaft vorschützte. Alles egal, Hauptsache es gibt Kunkel
Gelegenheit für weitere, den bisherigen Wortreichtum der europäischen
Schmuddelliteratur mit Füßen tretende Bumsszenen. Schließlich allerdings kommen
die fiesen Russen und vergewaltigen alle Damen, die vorher so gern willig waren,
und das, Kunkel nimmt es mit den Fakten weiterhin nicht so genau, auf höchsten
Befehl. Da kann ein Stadtkommandant Bersarin zig Erlasse gegen vergewaltigende
Rotarmisten erlassen und drakonische Strafen verhängt haben, wen kümmert’s,
wenn’s der muntere Rechercheur nicht nachliest? Der ganze Krieg, eine große
Sexorgie. So wird es gewesen sein.
Da erwacht selbst im übelsten Nazi und
Pornoproduzenten das Gewissen, er wird allerdings sogleich erschossen, weil er
mit einem Amerikaner verwechselt wird. Recht so, es trifft ja gleich doppelt den
Richtigen. Fußmann und Lotte allerdings finden wieder zueinander, leben ihren
»Magnetismus« aus. Das, was hier Leidenschaft ist, klingt dann so: »Seine Hände
wanderten über ihren Körper; der letzte Hungerwinter hatte ihr nicht geschadet –
im Gegenteil, ihre Beckenschaufel war zu spüren, und ihr Podex fühlte sich fest
an, fest und kalt, wie er es mochte. ›Wenn ich in dir bin, weiß ich alles.‹ Sie
ertrug den Rückstoßantrieb ohne Geschrei, kein Laut drang über ihre Lippen. Nur
die kochende Vaseline schmatzte wie ein nächtliches Moor.« Es muss Liebe sein.
Das tolle Paar jedenfalls geht in die USA, schließlich ist Fußmann ausgelaugt,
er verelendet und verfällt. Lotte stirbt, weil ihr Körper hässlich wird und sie
zu viel Schindluder mit ihm treibt.
Die Männer, die Frauen. Die Liebe. Das Buch
lebt von einem Frauenbild, angesichts dessen selbst das von Otto Weininger als
höchst fortschrittlich betrachtet werden muss. Es ist auch noch restlos schlecht
geschrieben, eine umfangreiche Ansammlung von Stilblüten, und Kunkel sind die
Formen des inneren Monologs und der erlebten Rede weitgehend fremd. Dennoch ist
alles irgendwie Rollenprosa, politisch gemeint, dann wieder vor allem Trash,
dann wieder gut recherchiert, dann wieder große Erzählkunst. Kunkel ist nicht zu
fassen, einfach, weil er keine Reibefläche anbietet. Er ist im ekligsten Sinne
glitschig. Dennoch wird er im Pressetext allen Ernstes mit Jonathan Swift oder
Anthony Burgess verglichen. Kurz: Kunkel hat es nötig. All das ist eine
ärgerliche, zunächst aber nicht einmal besonders erregende Geschichte im an
dummen Geschichten nicht eben armen hiesigen Literaturbetrieb. Der jedoch
diskutiert gerade heiß und liebevoll die Frage, ob es diese Pornos wirklich gab.
Thor Kunkel ist lächerlich, ja, sein Buch ist
Mist, ja, doch der eigentliche Skandal ist: dass sich überhaupt, um des
Skandalbetriebes willen, ein anderer großer Verlag, Eichborn nämlich, auf die
elende Pubertätsfantasie gestürzt hat, obschon Rowohlt doch noch rechtzeitig
diesen braunen Müll aussortiert hatte.
Thor Kunkel: Endstufe. Eichborn 2004, 586 S., 24,90 Euro