Erwartungsvoll stimmt, dass das
Rahmenprogramm zur Ausstellung eine Fülle von Attraktionen bietet. Neben einer
reichen Filmauswahl werden so in fünf ›Langen Nächten‹ unter dem Motto ›Achtung,
Achtung! Hier spricht der Krieg‹ von prominenten Schauspielern szenische
Text-Klang-Collagen aufgeführt, die aus der internationalen Kunst und Literatur
entstehen. (›Märkische Oderzeitung,‹ 12. Mai 2004)
Der britische Premierminister David Lloyd
George schreibt am 23. Dezember 1920: »Je mehr Memoiren und Bücher man über die
Begebenheiten vor dem 1. August 1914 liest, desto mehr begreift man, dass
niemand an leitender Stelle zu jener Zeit den Krieg geradezu gewollt hat.«
Dieses Zitat ziert den Komplex »Kriegsschuld« in der kürzlich eröffneten
Ausstellung
»Der Weltkrieg 1914-1918. Ereignis und Erinnerung« des Berliner Deutschen
Historischen Museums, dessen Verantwortliche es sich zur Aufgabe gemacht haben,
in den Köpfen der Besucher ein Bild des ungewollten Krieges fassbar zu machen.
Andere haben das Thema Kriegsschuld eindeutiger
beurteilt: »Dieser Krieg ist das größte Verbrechen gegen die Menschheit, das
jemals verübt worden ist. Die hieran Schuldigen (Österreich-Ungarn und
Deutschland) tragen eine furchtbare Verantwortung, und gegenwärtig sind sie
schon hinreichend entlarvt« (Sergej Sasonow, russischer Außenminister, am 22.
Februar 1916). Einige der Angesprochenen schienen das damals genauso zu sehen:
»Mit dem Augenblick, wo der moralische Aufputz der Strafjustiz aus dem
Friedensdokument (der Versailler Vertrag, J.K.) entfernt wird, ist es in einem
gewissen Umfange für Deutschland erträglich. Dass wir als Besiegte Opfer bringen
müssen an Macht und Gut, sehen wir ein«, wie Ulrich von Brockdorff-Rantzau, der
deutsche Außenminister, am 30. Mai 1919 sagt. Um anschließend den deutschen
Grundsatz zu formulieren: »Als Verbrecher unsere Versetzung in die zweite Klasse
des Nationenstandes zu unterschreiben, lehnen wir ab.«
So bleibt alles offen: Selbst 90 Jahre nach
Kriegsende ist die Schuldfrage in deutschen Ausstellungen nicht geklärt.
Wie ungewollt war der Krieg? Wie gewollter
Krieg daherkommt, erleben wir derzeit: Mord als bildhaft zynisches, pornophiles
Spektakel. War es früher für die kriegsführenden Parteien noch ein Problem, wenn
sie beim Schlachten gesehen wurden, ist dies nun zur Form der Kriegsführung
selbst geworden. Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, so
Carl von Clausewitz.
Wie die Politik funktioniert auch der Krieg
über das Bild. Alle Sinne konzentrieren sich auf das Auge, so haben es die
Killerfilme »Henry – Portrait of A Serial Killer« und »Natural Born Killers«
infolge der von den USA verlorenen Bildschlacht um Vietnam prognostiziert. Die
dort agierenden Massenmörder führen das Instrument Videokamera in das Töten ein.
Die Gegner schieben sich CD-Roms und Videobotschaften zu. Mit dem Bild scheinen
die »anderen Mittel« des preußischen Kriegstheoretikers nicht mehr wichtig zu
sein: Das Medium ist umfassend und steuert alles andere.
Der Zweck heiligt die Mittel, lautet eine
andere Kriegsweisheit. Was aber, wenn die Zwecke abhanden gekommen bzw. gar
nicht vorhanden sind? Nützt hier ein historischer Rückblick auf die Ursprünge
der modernen Schlachtordnung? Vielleicht kam der Krieg direkt aus der
Produktionsweise: Eine industrielle Verselbstständigung des Krieges wurde
bereits im Deutsch-Französischen Krieg 1870-71 ausgemacht. Zur Sache ging es
dann mit dem Ersten Weltkrieg. Mit ihm assoziieren wir Massen von Männern, die
sich in matschigen Schützengräben zu Tausenden umbringen.
Es gab andere Ausstellungen, die den Ersten
Weltkrieg sehr aussagekräftig als heißen Frieden definierten. 1995 zeigte das
Dresdner Hygienemuseum in einer Ausstellung über die Entwicklung der Kardiologie
eine Vielzahl von Herzen, die allesamt von jungen Männern stammten und alle von
Patronen durchlöchert waren. Die große Zahl »junger« Organe, die durch die
Kampfhandlungen in medizinischen Instituten landeten, brachten einen
unglaublichen Fortschritt auf dem Gebiet der Kardiologie, hieß es im Kommentar.
Eine andere Ausstellung zeigte Fotos von
deformierten Gesichtern, denen Nase, Unter- oder Oberkiefer fehlten. Die Technik
hatte Fortschritte gemacht, und hier konnte man sie betrachten.
»Was ist aus diesen Männern geworden?« fragt
sich Hans Ottomeyer, Leiter des Deutschen Historischen Museums. »Das wollten wir
herausfinden.« Fakten gibt es am Computer-Terminal.
Gewollt oder ungewollt – der eine wie der
andere Krieg produziert seine Bilder. Mord als bildhaft zynisches, pornophiles
Spektakel: »Der Weltkrieg 1914-1918« unter Ottomeyers Ägide könnte ein
bildhafter Kommentar zur EU-Osterweiterung sein. Betont wird, dass man einen
Schwerpunkt auf die Auseinandersetzungen im Osten legen wollte – um die neu
hinzugekommenen Länder daran zu erinnern, dass Europa bedeutet: Deutschland
schlägt dem Rest den Schädel ein. Aber das wäre zynisch. Gewollt. Die Frage nach
den Männern bleibt unbeantwortet.
Der Erste Weltkrieg sei in der Erinnerung der
Deutschen weit zurückgetreten und werde verdeckt durch die noch größere
Katastrophe des Zweiten Weltkrieges, so Ottomeyer. Doch in anderen Ländern
Europas sei er in der nationalen Erinnerung lebendig geblieben. Die jetzige
Ausstellung reihe sich darüber hinaus ein in das umfassendere Programm zur
Auseinandersetzung mit Themenkreisen von zentraler politischer Bedeutung und
elementarem gesellschaftlichen Stellenwert. Holocaust, Hexenwahn, Idee Europa
und demnächst »Die Hugenotten«, so schnell geht das.
Außer brachen Flächen bei Verdun, einigen
Maschinengewehren, Plakaten, Prothesen, Hölzern aus den Schützengräben und
seltenen Filmaufnahmen, in denen Berlin beinahe so aussieht wie heute, kann man
hier nicht allzu viel präsentieren.
Einen Zugang über die Menschen zum
schrecklichen Ereignis kann man hier nicht finden: Es fehlen die entscheidenden
politischen Erläuterungen der Vor- und Nachgeschichte ebenso wie individuelle
Schicksale in größerem Ausmaß – auch der Widerstand läuft unter Fußnoten: Kein
Liebknecht, keine Luxemburg. Keine meuternden Matrosen. Mühselig wurden die
poppigen Räume in die Kapitel »Prolog«, »Erfahrung«, »Neuordnung«, »Erinnerung«
eingeteilt. Das hat man sofort wieder vergessen. Wen interessiert schon, ob die
Skulptur »Der Flieger« von Rudolf Belling zum ersten, dritten oder vierten
Bereich gehört. Wie so oft in Deutschland winkt uns auch hier am Ausgang Adolf
Hitler zu, in diesem Fall von einem düsteren Bildschirm herab. Den kennen wir.
Prothesen sollen dem Besucher erzählen, wie es um die Wirklichkeit des Krieges
bestellt war, der Gaskrieg ist weniger präsent.
Wo die Welt nichts anbietet, da helfen Kunst
und Devotionalien, da liegt die eingangs zitierte Märkische Oderzeitung schon
richtig, wenn sie ihren Lesern zum Besuch rät. Eine schöne Verbindung von Kunst
und Devotionalien stellt ein Exponat her: der Stahlhelm des Schriftstellers
Ernst Jünger.
Die Historiker sprächen heute von einer Kultur
des Krieges, bemerkte Gerd Krumeich vom Wissenschaftlichen Beirat anlässlich der
Eröffnung, und diese habe man umreißen wollen. Sollten die deutschen Historiker
tatsächlich angesichts eines organisierten Massensterbens von Kultur reden,
bitte schön, können wir ihnen dann noch helfen?
Ich kann und will es nicht und fange deshalb
noch mal bei Null an: Im engeren Sinne würde eine Kulturgeschichtsschreibung
eine Darstellung der populären Kultur während eines Krieges liefern – Ramsch,
Murks, Wegwerfzeugs. Und während im postmodernen Konflikt Bildangebote zur
Kriegsführung gehören, ist vom Ersten Weltkrieg nun nicht allzu viel übrig. Die
Überlebenden sind heute fast alle verstorben, der meiste Kram vermodert. Und
wenn es nicht so wäre: Wie sollte das Massenmorden von 1914 bis 1918 in ein paar
Ausstellungsräume passen?
So wirkt der Plan, eine Ausstellung des nicht
Ausstellbaren zu organisieren, wie das Gebaren der Schildbürger, die ihre
Kirchglocke vor den anrückenden Feinden im See versenken und zur Ortsbestimmung
eine Kerbe ins Boot ritzen.
Die knapp 700 Exponate sollen helfen, so
Kurator Rainer Rother, »die Historie neu zu entdecken, Gründe zu finden, die
verstehen lassen, warum sich zivilisierte Menschen und Nationen bekämpft, ja
totgeschlagen haben«. Das wird hier nicht geleistet. Aber: Man kann sich
ansehen, wie das Totschlagen sich auf die Alltagskultur auswirkt.
So gesehen, bleiben ein paar Ausstellungsstücke
im Gedächtnis.
Gleich am Anfang steht eine Panzerplatte von
Krupp, sieben Zentimeter dick, die von einem Projektil, vermutlich aus der
gleichen Produktionsstätte, durchschlagen wurde. Das 7,5-Zentimeter-Geschoss
wurde mit einer Geschwindigkeit von 390,3 Metern pro Sekunde abgeschossen. Wer
ist stärker? Die Schweißeisenplatte von Krupp? Oder die Kanonenkugel von Krupp?
Krieg soll man nur mit klar definiertem Ziel
führen, schrieb Carl von Clausewitz, sonst wird’s nichts. Sonst laufen einem die
anderen Mittel davon. Der Krieg unter populären Vorzeichen in der Kultur:
Welches Exponat könnte schon besser das Interesse der Industrie am Waffengang
zeigen? »Wir hätten gern einen Panzer ausgestellt«, bedauert die
Ausstellungsleitung, »aber die gibt es in Deutschland nicht.«
Anderes Beispiel: Ein Samtkissen mit
Bajonettbroschen. Die Soldaten im Kampf hatten Bajonette, abends konnte man sie
als Miniatur am Revers tragen. In der populären Kultur des Ersten Weltkrieges
trug man Mordwaffen en miniature als Schmuck; auf Partys und Empfängen gewann
man dem Töten eine fröhliche Komponente ab. Wie kann es sein, dass zivilisierte
Menschen sich auf einmal in rasende Mörder verwandeln, fragen die Aussteller,
ohne die Frage zu klären. Hier bekommt man die Antwort: Es galt als schick.
In der Verniedlichung und Devotionalisierung
liegt die Wahrheit. Ein Wahrzeichen des Krieges ist die lieblich rot leuchtende
Mohnblume. Sie ist das einzige Gewächs, dass sich auf bombenzerpflügten,
chemisch verseuchten Ackerböden schnell niederlässt und ausbreitet. Aus dem
Terror in die Idylle. Es gibt die Bilder der technischen Moderne und daneben
Atavismen, die geradezu vorsintflutlich anmuten: Morgensterne für den Nahkampf,
Brustharnische, wie für Ritter gemacht, Kinderspielzeug oder Puppen vom
aufgehängten Franz Ferdinand.
Vor Hungersnöten muss man jedoch kapitulieren
in der Museumsschlacht: Den Bauchgrimm kriegt man nur mit Tee-Ersatz,
Versuchsbrot und deutschem Humor weg: »Kollege Brot ist gestorben«, ist auf
einem Plakat zu lesen, das als fiktive Todesanzeige daherkommt. »Was? Uns will
England aushungern lassen? Ach nee«, steht unter den zwei dicken Berliner
Schupos, die für eine Postkarte zur englischen Seeblockade posieren.
Steckrübenwinter 1916/17. Zynismus gegen sich und andere – den geben die
Schultüte mit militärischen Motiven wider, das Spielzeug-Feldlazarett, die
Soldatenpuppe, das Schützengrabenfußballspiel, das Schlachtschiff, die
Pickelhaube, der Feldpostwagen als Christbaumschmuck, allesamt im Original. Und
es reizt in der Tat zum Lachen, wenn der 42-Zentimeter-Mörser der deutschen
Artillerie »Dicke Bertha« heißt, benannt nach der Tochter des Herstellers Alfred
Krupp.
Eine umfassend militarisierte Zone muss diese
Gesellschaft gewesen sein. Krieg war Pop, ganz wörtlich: Auf dem Cover eines
Liedheftes von Philipp Gretscher mit dem Titel »Ich habe dem König von Preußen
geschworen«, erfährt man: »Dieses Heft enthält eine neue Melodie zu ›Heil dir im
Siegerkranz‹.« So würde man es auch heute auf eine CD drucken. Nicht nur das
Kriegsgerät war modern, auch das Partysetting.
Zwar gelingt es der Ausstellung insgesamt nicht
zu zeigen, wie der Erste Weltkrieg auf den Zweiten verweist, allerdings kann man
diesen Zusammenhang anhand der gezeigten Devotionalien erkennen. Je nichtiger
der Gegenstand, desto größer die Wirkung. Wie ein Kritiker der Ausstellung
bemerkte: »Doch zeigt sich hier auch ein Problem: dass die Liebe zum
Ausstellungsstück in die Neigung zum Possierlichen abgleiten kann.« Das
Possierliche – aber genau dies ist die Verarbeitung von gewalttätigen
Gemütszuständen im Kollektiv, ist die andere Seite des Waffengangs, Krieg für
die Daheimgebliebenen. CD-Roms fürs beginnende 20. Jahrhundert.
Der Erste Weltkrieg aus dem Gedächtnis
gestrichen? Man sollte nicht vergessen, wie Täter-Erinnerung funktioniert. In
einem Bericht über die Internationale Luftausstellung in Berlin, die vorletztes
Wochenende ebenfalls in Berlin stattfand und mit vollen Auftragsbüchern für die
Rüstungsindustrie endete, notiert der Autor eine Begegnung an einem
Ausstellungsstand der Bundeswehr: »Beim Aufklärungsgeschwader ›Immelmann‹,
vertreten mit einem Tornado-Jet, erzählt ein Oberleutnant etwas über den
Namensgeber: Ein toller Hecht soll er gewesen sein, der Immelmann. Habe im
Ersten Weltkrieg 15 Gegner abgeschossen, bekam das EK I und EK II, schließlich
noch den Orden ›Pour le Merite‹.« Leider sei er dann doch abgeschossen worden.
So schnell verblasst deutsche Erinnerung
wenigstens bei einigen Traditionsbünden nicht. Wie gesagt: Am Ausgang steht
immer Adolf Hitler. Obszönität, Erinnern, Foto machen – vielleicht wäre das eine
bessere Einteilung der Ausstellung gewesen. Die Verpossierlichung ist nun mal
die Realität. Der Vollständigkeit halber zum Thema Gedenken der tollen Hechte:
Im Zweiten Weltkrieg flog Flieger-Ass Rudel in einem »Luftwaffengeschwader
Immelmann«. Der Name klingt auch heute noch: Die Bundeswehr verfügt über ein
»Aufklärungsgeschwader 51 Immelmann«.
Gestorben wird immer, digitale Kameras hin oder her, Bilder entstehen so oder
so. Krieg und Bewusstsein haben sich jedenfalls überhaupt nicht verändert und
werden sich nie ändern. Um dies devotional Possierliche im Ideologischen zu
begreifen, gibt es in der Weltkriegsausstellung eine Begreif-Zone, Kinder und
Männer finden das gut, mit einem echten WK1-Schießgewehr. Sag noch einer, diese
Ausstellung gäbe nichts her, Kritik hat es wie Mörsergranaten gehagelt: Man muss
nur darauf achten, worin ihr »Reiz« besteht und wie sie, die Deutschen mit ihren
Ausstellungen, eingebettet ist.