So wichtig seine Mahnung auch ist, Schoeps vergaß, einen wesentlichen Aspekt zu
erwähnen: Der Antisemitismus hat sich auch im westlichen Europa vermehrt. In
Berlin und Paris gilt das Tragen einer Kippa wieder als riskant. Wer als Jude
erkennbar ist, lebt gefährlich. Nach den jüngsten Umfragen des Wiener
EU-Zentrums gegen Fremdenfeindlichkeit nahmen in den vergangenen Jahren
antisemitische Übergriffe in fast allen westeuropäischen Ländern drastisch zu.
Lenkt also der Verweis auf Osteuropa nur vom eigentlichen Problem ab? Die Sache
ist noch viel schlimmer. Der Antisemitismus aus dem Osten kommt nicht durch die
Hintertür, vielmehr trifft er in Europa auf viele neue Freunde. Hinweise darauf,
dass der Antisemitismus in Osteuropa weit verbreitet ist, gibt es mehr als
genug. So protestierte Anfang des Jahres Kornél Döbrentei vom ungarischen
Schriftstellerverband gegen den »moralischen Holocaust des Ungarntums«, der »von
falschen Propheten in falschen Kleidern und Masken – nur ihre Bärte sind echt –
geführt wird«.
Der Vorfall erregte zwar Empörung, zahlreiche Schriftsteller verließen den
Verband. Die Äußerungen fanden jedoch auch regen Zuspruch bei Teilen der
politischen und kulturellen Elite des Landes. Besonders großen Anklang fanden
sie in der ländlichen Bevölkerung, die sich wegen des Beitritts zur EU und der
damit verbundenen stärkeren Integration in den Weltmarkt bedroht sieht. Auf
solche Ängste stützt sich auch die reaktionäre Bewegung des polnischen
Bauernführers Andrej Lepper, die in den Umfragen weit vor allen anderen Parteien
liegt.
Die Angst vor dem sozialen Abstieg und dem Verlust des sozialen Milieus geht mit
dem Glauben an eine Verschwörung einher, die scheinbar nichts anderes im Sinn
hat, als die nationale Gemeinschaft zu zerstören. Die »Liberalbolschewiken«, die
»Kosmopoliten« oder schlicht die »Urbanen« würden das Land verkaufen, heißt es.
Wie in den dreißiger Jahren denunziert die völkische Ideologie die urbane
Moderne als Ursache für die »nationale Zersetzung« und verbindet diese Anklage
mit einem romantischen Rekurs auf das ursprüngliche bäuerliche Leben. So
erklärte der rechtsextreme ungarische Politiker István Csurka, dass »der
internationale Mensch der verlängerte Arm der Globalisierung ist«. Und die
Inkarnation dieses »heimatlosen Menschen« seien die Juden.
Csurka ist der Meinung, die »Liberalbolschewisten« hätten das Land in die
kapitalistische Kulturglobalisierung geführt. Die Juden gehörten mit der alten
Nomenklatura und der internationalen Finanzwelt zu den ewigen Verschwörern gegen
die Nation. Der antisemitische Kulturnationalismus verbindet sich so mit einer
reaktionären Globalisierungskritik.
Die Juden, so lautet die Botschaft, stecken hinter allen Übeln, die der
globalisierte Kapitalismus mit sich bringt. Seine Anführer sitzen in Tel Aviv,
seine Helfer in New York und Washington. Diese Botschaft kommt auch in Old
Europe schon längst nicht mehr durch die Hintertür. Der Haupteingang steht
offen.
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