Der Antisemitismus wird »in allen seinen Formen« verurteilt. So hat es die
Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) beschlossen, als
sie in der letzten Woche in Berlin tagte. 55 Staaten machen also ernst mit der
Bekämpfung von Antisemitismus. Übergriffe werden, so wird der Beschluss
konkretisiert, an ein Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte in
Warschau gemeldet. Und damit nicht so viel gemeldet werden muss, wollen die
Regierungen besonders gegen antisemitische Propaganda im Internet vorgehen. Auch
sollen Programme aufgelegt werden, die in den Schulen über Antisemitismus
aufklären.
Das klingt nicht nur gut, das ist es auch, aber gerne wüsste man, ob alle 55
Regierungsvertreter wissen, was sie da beschlossen haben.
»Damals kam die Barbarei vom Staat«, erinnerte Bundespräsident Johannes Rau an
den bislang mörderischsten Auftritt des Antisemitismus, den Holocaust. Rau
konkretisierte korrekt: »vom deutschen Staat« und schob zufrieden nach, dass
heute ja alle europäischen Staaten wie auch die internationale Gemeinschaft den
Antisemitismus kompromisslos ablehnten.
Wer nach Gründen sucht, warum er Rau glauben will, dürfte schnell fündig werden.
Schließlich heißt es in der von allen unterzeichneten »Berliner Erklärung«
eindeutig: »Internationale Entwicklungen oder politische Fragen, einschließlich
solcher in Israel oder anderswo im Nahen Osten, rechtfertigen niemals
Antisemitismus.«
Es scheint also, dass sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts ausgerechnet von
Berlin ausgehend alles zum Guten entwickelt. Dass da noch Kritik laut wird,
wonach etwa islamischer Antisemitismus nicht zur Genüge thematisiert wurde, will
man, wo doch sonst alles auf einem guten Weg ist, nicht allzu laut bemäkeln, das
regelt sich bestimmt auch bald.
Schließlich ist ja der Antisemitismus »in allen seinen Formen« geächtet. Wir
haben es doch schriftlich.
Aber Johannes Raus Rede, dass die Nazibarbarei »vom deutschen Staat« ausging,
ist ja nur die halbe Wahrheit und verweist auf ein Problem. Die Barbarei ging
gleichermaßen von der Gesellschaft aus, die nicht nur den Staat gewähren ließ,
als er Juden aus ihren Wohnungen holte und deportierte, sondern die zunächst bei
Wahlen, später bei Pogromen und zwischendurch bei »Arisierung« genanntem
Diebstahl wacker dabei war, wenn es gegen die Juden ging.
So ist, wenn man nun die in der OSZE versammelten Staaten lobt und dabei die
Gesellschaft außer Acht lässt, auch nur die halbe Wahrheit ausgesprochen.
Was Staaten, selbst wenn man ihnen ihren guten Willen abnähme, bekämpfen können,
ist eben nur das, was Staaten angeht: das Politische, mithin das
Skandalisierbare.
Staaten können also Entgleisungen des politischen Personals, wie etwa die Rede
des CDU-Abgeordneten Hohmann, politisch sanktionieren. Staaten können (und
müssen) Angriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen mit den Mitteln des
Strafrechts bekämpfen. Und Staaten können (und sollten) Beleidigungen,
Verunglimpfungen etc. juristisch ahnden.
Die staatliche Zuständigkeit hört da auf, wo gesellschaftliche Normalität
widergespiegelt wird. Kein Staatsanwalt ist dafür zuständig, wenn mir mein
Nachbar erklärt, dass man den Juden an seiner krummen Nase erkennt.
Selbstverständlich ist kein Polizist zu rufen, wenn mein Kollege weiß, dass die
Juden alle sehr intelligent sind. Welches Gesetz ist in Anwendung zu bringen,
wenn mein Verwandter herausgefunden hat, dass die Jüdin eine rassige Schönheit
ist und ein anderer mit dem Hinweis reüssiert, dass die Juden alle sehr gut mit
dem Geld umgehen können? Und wie sollte der Staat zuständig sein, wenn große
Bevölkerungsschichten, vielleicht gar die Mehrheit, der Meinung sind, dass die
Juden zu viel Macht besitzen?
Staatlicherseits bekämpfbar ist der antisemitische Skandal, nicht die
antisemitische Normalität. »Die Antisemiten sind vielleicht skurrile
Randerscheinungen einer normal sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft«,
schreibt Detlev Claussen in »Grenzen der Aufklärung«, »aber das ist notwendig
falscher Schein. Die Gesellschaft selbst ist antisemitisch strukturiert.«
Und spätestens hier endet die Zuständigkeit der gewiss wohlmeinenden 55
OSZE-Staaten. Das Erkennen und ursächliche Bekämpfen von Antisemitismus gehört
nicht in die Zuständigkeit von Staaten. Auch wenn sie, was man ja einem wie
Johannes Rau durchaus abnehmen mag, gutmeinend sind, gibt es noch drei
Argumente, die gegen eine solche Ausweitung staatlicher Zuständigkeiten
vorzutragen sind.
Es ist zum ersten der Schaden, den eine sich selbst als liberal verstehende
Demokratie nimmt, wenn bedachte oder unbedachte Äußerungen, die zu Recht oder zu
Unrecht unter Antisemitismusverdacht stehen, staatlich erlaubt oder verboten
werden. Dann sind sie dem gesellschaftlichen Diskurs entzogen, denn schließlich
wirkt die Legitimation durch Verfahren, dass also, wer jemand anderes vor
Gericht zerrt, letztlich den Spruch dieses Gerichts akzeptieren muss.
Zum zweiten ist eine solche Kompetenzübertragung an den Staat, der sich auch um
Äußerungen am Stammtisch über etwaige Macht der Juden kümmern sollte, selbst in
dem Fall, dass er sie sorgfältig ausübte, aus staatstheoretischer Sicht nur eine
sekundäre. Das Gebot, Antisemitismus zu ächten, rückt in keinem Fall in den Kern
staatlichen Handelns, in die Staatsräson vor. Das, nebenbei, ist anders im Fall
des bürgerlichen Staates Israel, der sich ja als jüdischer Staat versteht. Der
bürgerliche Staat, wie er etwa in Deutschland existiert, ist nicht solchen
politischen Projekten verpflichtet, sondern seinem wesentlichen Zweck, Form der
politischen Herrschaft des Bürgertums zu sein. Die Ächtung von Antisemitismus
ordnet sich da bestenfalls ein in die Ächtung der Todesstrafe, die Gewährung des
Briefgeheimnisses oder des Rechts auf politisches Asyl. All dies ist labil und
jederzeit kündbar.
Drittens schließlich ist zu bedenken, dass schon die Frage, welche Rede, Tat,
Geste oder ähnliches als antisemitisch zu charakterisieren ist, nicht in die
Zuständigkeit sich als unabhängig verstehender Richter gehört. Wenn ein
Schwarzer beleidigt wird, liegt die Entscheidung darüber, ob er rassistisch
beleidigt wurde, selbstverständlich bei ihm, und weder die Versicherung des
Beleidigers, das sei ja alles nur ein Scherz gewesen, noch das Urteil eines
nicht beteiligten Zuhörers, na, so schlimm sei die Rede vom »Scheißnigger« ja
wohl auch nicht, sollten ihn beruhigen. Wenn eine Frau von einem Mann betatscht
wird, liegt die Entscheidung darüber, ob sie sexistisch beleidigt wurde,
selbstverständlich bei ihr, und auch hier sollte weder die Beteuerung, dass es
nur ein Spaß war, noch das vermeintlich abwägende Urteil eines Betrachters, die
Frau solle sich nicht so haben, Geltung erhalten.
So weit, so selbstverständlich, aber Ähnliches hört man im Falle antisemitischer
Ausfälle selten: Wenn, um nur ein Beispiel zu nennen, Ignatz Bubis die Rede
Martin Walsers 1998 in der Frankfurter Paulskirche als antisemitisch bezeichnet,
dann ist sofort eine Schar von nicht jüdischen Walser-Exegeten zur Stelle, die
dem aufgeregten und ob seiner Befangenheit wohl nicht ganz zurechnungsfähigen
Juden erklärt, das sei alles nicht so schlimm.
Die 55 in der OSZE zusammengeschlossenen Staaten werden also künftig den
Antisemitismus »in allen seinen Formen« bekämpfen und ächten. In staatliche
Realität übersetzt heißt das, dass diese Staaten in mal überzeugender und mal zu
verachtender Weise sich zum Schiedsrichter in allen Fragen erheben, was zu sagen
erlaubt ist. Es hat zur Folge, dass, was nicht vom Staat sanktioniert ist,
künftig überhaupt nicht mehr sanktioniert ist, auch nicht von der Gesellschaft.
weitere Artikel zur Konferenz u.a. :
"Man musste klar reden"
OSCE-Conference on Anti-Semitism
"Es gibt eine neue Judenfeindschaft"