taz: Israel ist
heute, anders als in den 90er-Jahren, eine Gesellschaft, die von Angst regiert
wird und sich nach außen abschottet. Warum?
Moshe Zuckermann:
Das hat eine Reihe von Gründen: Es gibt den täglichen Terror, den unerträglichen
wirtschaftlichen Zustand und die zunehmende Demontage der sozialen Strukturen
der Gesellschaft …
… etwa dass der
Finanzminister die Brotsubventionen kürzt und meint, genug für die Armen getan
zu haben, weil er die Zölle auf DVD-Player senkt?
Ja. Das
Klassenproblem in Israel ist enorm: Die Kluft zwischen Arm und Reich ist die
größte in der westlichen Welt. Gleichzeitig führt der Terror dazu, sich um das
nationale Stammesfeuer zu versammeln. Es gibt eine Reideologisierung: Man hat
wieder das Gefühl, in seiner Existenz bedroht zu sein.
Ist das wirklich
eine Rückkehr ans nationale Stammesfeuer? Kann man den zionistischen Mythos
einer geschlossenen, solidarischen Gesellschaft wieder hervorkramen?
In den realen
Lebenswelten war diese Gesellschaft schon immer zerrissen. Sie haben also Recht,
wenn Sie vom Mythos der geschlossenen Gesellschaft sprechen. Die Käseglocke des
Zionismus und der Kitt der Sicherheitsfrage haben lange gut als
gesellschaftliches Bindemittel funktioniert. In den 90er-Jahren, als der
Postzionismus blühte, galten sie als obsolet, weil der Konflikt mit den
Palästinensern scheinbar vor der Lösung stand.
Welche Wirkung
hatte die Aussicht auf Frieden auf die israelische Gesellschaft?
Die Diskurse wurden
offener, es war möglich, interne Zerrissenheiten sichtbar werden zu lassen. Es
ist kein Zufall, dass damals das ethnische Problem zwischen aschkenasischen,
europäischen und sephardischen, orientalischen Juden einen Höhepunkt erreichte.
Damals entstand die Schas-Partei, die gegen die aschkenasische Elite gegründet
wurde. Das Gleiche gilt für die Kluft zwischen religiösen und weltlichen Juden:
ein Konflikt, der so in keinem anderen westlichen Land existiert. In den 90ern
wurde auch der Konflikt mit der palästinensischen Minderheit in Israel sichtbar.
Hinzu kommt die russische Zuwanderung, die zu 30-40 Prozent gar keine jüdische
ist - mit ihr sind mehr Nichtjuden nach Israel emigriert als in den 50 Jahren
davor. Dies ist wichtig, nicht weil ich mich für ihre Religion interessiere,
sondern weil es heißt, dass diese Einwanderer keine Zionisten sind und sich
viele weigern, sich zu assimilieren. Das ist neu - und es verstärkt die
Fragmentierung der Gesellschaft.
Der Blick auf diese
Fragmentierung ängstigt?
Ja. Eine
Gesellschaft, die so zerrissen ist, braucht die Bedrohung von außen, um sich
noch als Gemeinschaft zu empfinden.
Demonstranten
wurden kürzlich erstmals vom Militär angeschossen. Beim Inlandsgeheimdienst
existieren schwarze Listen gegen Friedensaktivisten, Schwule werden mitten in
Tel Aviv von der Polizei zusammengeschlagen. Die Gewalt richtet sich auch nach
innen.
Je mehr die
Gesellschaft die inneren Kräfte der Negation, Linke und Oppositionelle,
ausgrenzt und verfolgt, desto mehr entwickelt sie sich zu einer eindimensionalen
Gesellschaft. Das kann sich in der Gleichschaltung der mentalen Vorgänge
niederschlagen: So spricht man heute erstaunlich selbstverständlich von
Vertreibung und Tötung der Palästinenser und dem Recht der Armee, israelische
Friedensdemonstranten niederzuschießen. Dann ist es nicht mehr weit zu dem, was
wir faschistoide Denkstruktur nennen.
Der Schlüssel für
die israelische Gesellschaft ist also der Frieden. Warum tun sich die Israelis
damit so schwer?
Israel steht vor
einer irritierenden historischen Weggabelung. Die eine Möglichkeit lautet:
Israel verzichtet komplett auf die besetzten Gebiete. Allerdings würde die
massive Räumung der Siedlungen nicht glatt laufen - es würde
bürgerkriegsähnliche Situationen geben. Die Alternative dazu heißt: Israel
bleibt langfristig in den besetzten Gebieten. Einige meinen, dass dies so kommen
wird, weil die fortschreitende Verzahnung Israels mit den besetzen Gebieten
irreversibel geworden ist. Doch dann gibt es die demografische Falle: Die
Palästinenser werden über kurz oder lang die Mehrheit im Land haben. Und damit
würde Israel entweder als jüdischer Staat oder als Demokratie in der heutigen
Form aufhören zu existieren. Dem Durchschnittsisraeli erscheint diese Wahl wie
die zwischen Pest und Cholera. Er fühlt sich total überfordert - das ist der
Grund für die totale Stagnation im heutigen Israel.
Wie ein
Friedensvertrag aussehen kann, ist in den Grundzügen bekannt. Wäre eine
Intervention aus dem Ausland nötig, um sie durchzusetzen?
Walter Grab,
Gründer des Instituts für deutsche Geschichte, das ich heute leite, schrieb
einmal, dass ein Volk sich selbst befreien muss. Das ist an sich einleuchtend.
Ich glaube, dass jeder Frieden gewollt werden muss, und dazu gehört die
Bereitschaft, den Preis dafür zu entrichten. Die Israelis sind tief davon
überzeugt, dass sie Frieden wollen - doch sie sind nicht bereit, dafür den
notwendigen Betrag zu zahlen. Was historisch zur Zahlung ansteht, ängstigt sie
so sehr, dass sie lieber in der Stagnation weiterleben. Dass die Gesellschaft
dabei zugrunde geht, ist das Resultat dessen. Deshalb befürworte ich, obwohl
Grab im Prinzip Recht hat, eine Intervention von außen.