Fast zehn Jahre hat
der Vernichtungskrieg, den Hitler-Deutschland im Osten Europas führte, die
deutsche Öffentlichkeit beschäftigt. Anschläge von Neonazis, Aufmärsche der
nationalistischen Rechten und parlamentarische Debatten begleiteten die
Ausstellung zum Thema und deren Veranstalter, das
Hamburger Institut für Sozialforschung
("Reemtsma"-Institut). Salopp hat man die Folie, auf der Vernichtungskrieg und
Wehrmachtsverbrechen dargestellt wurden "Wehrmachtsausstellung" genannt, was den
Zustand des deutschen Seelenlebens noch zusätzlich verschlimmerte, denn für die
Schärfe der Kontroverse sorgte angeblich nicht, was in der Militärforschung
lange bekannt war, sondern die Interpretationen dieser Ausstellung, die in
Bildern zuspitzte, was 50 Jahre lang öffentlich tabuisiert wurde.
"Tapfere
Frontsoldaten" und "verrohte Kerle in der Etappe"
Im "Kampnagel"
endete am 28. März die zweite "Wehrmachtsausstellung", sie wird nun künftig in
einem Berliner Archiv gelagert. Die Erleichterung der Leitung des Instituts für
Sozialforschung schien spürbar, als sie im März für drei Tage Historiker,
Autoren und Journalisten zu einer bilanzierenden Konferenz in die Bibliothek des
Hamburger Warburg-Hauses geladen hatte.
In mir bildete sich
dabei ein behaglich unbehagliches Gefühl. Das Ambiente des Gebäudes war schön,
in den Pausen wurde für alle rührend gesorgt, mit Kaffee, Säften, Obst sowie
diversen Keksen und Plätzchen. Angenehme (Neben-) Wirkungen des Mäzenatentums.
Drinnen in der Bibliothek ging´s um härtere Kost. Immer noch schwerverdaulich.
Auf der Empore schlief ab und zu der Doyen der deutschen Historiker, Hans
Mommsen - nur ein Zeichen seines Alters? Wir sind alle mit der
"Wehrmachtsausstellung" älter geworden, ermüdet von den immer differenzierter
gewordenen Debatten und den variantenreichen Einfällen derjenigen, die irgendwie
zu den Befürwortern der Ausstellungsthesen gehörten, aber doch den schweren
Schuldvorwurf vom verbrecherischen Vernichtungskrieg abschwächen wollten - ganz
anders als jene, die mechanisch aufgestaute Wut herauslassen konnten, weil sie
die Ehre ihrer Väter und ihres Vaterlands verunglimpft sahen. Bei manchen
"Differenzierern" ließ sich die Methode erkennen, "den Schaden zu begrenzen",
damit Wehrmacht und Soldaten nicht unter "Vernichtungskrieg" und "Verbrechen"
subsumiert werden.
Mein Unbehagen
richtete sich auch gegen die Wahl des Mitveranstalters im Warburg-Haus, das
Institut für Zeitgeschichte (IfZ) aus
München, weil es in Berlin und Bremen andere wichtige Forschergruppen gibt, die
zum Thema viel zu sagen gehabt hätten, vielleicht sogar mit größerer Klarheit
und Prägnanz, ohne Differenzierungen auszublenden.
Den zweiten
"Bilanz"-Tag durfte dann auch Christian Hartmann vom IfZ eröffnen. Erst kürzlich
hatte er in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte noch einmal seine Kritik
an der neuen "Wehrmachtsausstellung" bekundet, und die Zuhörer erwarteten
gespannt seine Ausführungen. Die wurden allerdings gleich enttäuscht, weil er
vorwegnahm, was dann kam: Etwas fade, etwas eigentümlich unsicher wurde da
formuliert: "Vernichtungskrieg ?" Ja, aber... "Verbrechen der Wehrmacht?" Ja,
aber ... Viele Differenzierungen und unsichere Abwägungen, das alles drückte
Hartmann unbeabsichtigt, aber bezeichnend aus, indem er zur Frage der
Quantifizierung der Verbrechen meinte, Zahlen seien "nicht mehr als Metaphern".
Die Quantifizierungsthese war schon früh hochgespielt und gegen den Leiter der
ersten Ausstellung, Hannes Heer, gerichtet worden. Ohne Zweifel ist die Frage,
wie viele Soldaten Verbrechen verübt haben, eine wichtige Frage, aber es ist
nicht die einzige und vielleicht gar nicht einmal die entscheidende. Auch der
Unterschied, den Hartmann zwischen den "tapferen Frontsoldaten" und den
"verrohten Kerlen in der Etappe" machte, erschien als fragwürdige
"Differenzierung".
Das jedenfalls
verdeutlichte im Warburg-Haus Christoph Rass. Der Aachener Forscher steht für
eine ganze Gruppe junger Historiker, die auf beeindruckende Weise Ergebnisse
vorlegten, mit denen die zugegeben zugespitzten Thesen der ersten
"Wehrmachtsausstellung" bestätigt wurden: Die Verantwortung der "Truppe" und
einfachen Landser für die Mordtaten und die mannigfaltigen und
unterschiedlichsten Formen der Beihilfe, auch durch Unterlassen anderer
Handlungsoptionen.
Das Tagesgeschäft
der 253. Infanteriedivision seit 1939
Christoph Rass
berichtete aus seiner Dissertation und beantwortete am Fall der 253.
Infanteriedivision die Frage, was die Soldaten der Wehrmacht - ganz normale
Männer, wie er schreibt - zu willigen Vollstreckern von Handlungsanweisungen
gemacht hat und so viele von ihnen zu Kriegsverbrechern werden ließ. Um seinen
erschütternden Befund vorweg zu nehmen, die Tötung von Kriegsgefangenen, die
Ausbeutung, Versklavung, Vertreibung und auch die Ermordung von Zivilisten sei
von den Soldaten "tagtäglich" ausgeführt worden. Das Erschütternde - so Rass -
sei gewesen, dass viele der Soldaten nicht nur als "Vollstrecker
institutioneller Anweisungen" fungierten, sondern "gerade dann, wenn sie ihr
Verhalten selbst bestimmen konnten", brutal, menschenverachtend und
verbrecherisch handelten, "um ihre persönlichen Ziele zu verfolgen".
Zu Beginn des
Vernichtungskriegs hatte die Division eine Personalausstattung von 16.194
Soldaten. Der soziale Wandel im Personalbestand war gering, die Truppe zeichnete
sich durch eine hohe Kontinuität aus. Altersstruktur, regionale und soziale
Herkunft waren in hohem Maße homogen - die Grundlage für Zusammenhalt und
Leistungsfähigkeit. Die Soldaten der Division waren früh an den NS-Staat
gebunden worden, sie gehörten vorzugsweise der Arbeiter- schaft an. Für ihre
Sozialisation hatten der Reichsarbeitsdienst (RAD), die Wehrmacht und
NS-Organisationen gesorgt. Aus all dem habe sich - so Rass - eine
Übereinstimmung im Ziel ergeben, wofür die spürbare Annäherung von Wehrmacht und
NS-System zwischen 1933 und 1939 unabdingbar notwendig gewesen sei.
Deportationen, Selektionen und Zwangsevakuierungen, Vertreibungen, Morde und
andere Grausamkeiten gehörten bereits seit September 1939 zum Tagesgeschäft der
253. Infanteriedivision. Nicht jeder Soldat musste selbst gemordet haben, um zum
Täter zu werden. Nicht jeder musste an der systematischen Vernichtung der
jüdischen Bevölkerung beteiligt sein. Allein die fortwährende Zusammenarbeit der
Division mit Einsatzgruppen und der SS ließ sie zu Mittätern werden, so dass
damit für diese Wehrmachtseinheit die Frage beantwortet ist, dass gegebene
soziale, ideologische und gruppenspezifische Voraussetzungen sowie Wollen und
Handeln der Soldaten zielführend gewesen sind.
Viele andere
Historiker der jungen Generation haben ähnlich ertragreiche Arbeiten zum Thema
vorgelegt wie Christian Gerlach, Dieter Pohl oder Andrej Angrick. Das dürfte der
größte Gewinn sein, den die "Wehrmachtsausstellungen" im Grunde erst bewirkten.
Der Vorwurf des
Antifaschismus und das Täter-Opfer-Paradigma
Das Unbehagen blieb
auch am Ende, weil neben Christian Hartmann auch Ulrike Jureit, Sprecherin der
neuen "Wehrmachtsausstellung" im jüngsten Heft des institutseigenen Mittelweg 36
vor Beginn der Tagung noch einmal ausgeholt und besonders den früheren
Ausstellungsleiter Hannes Heer scharf attackiert hatte. Heer wurde dort - wie in
den Hochzeiten der Kampagne - mit dem Vorwurf des "Antifaschismus" konfrontiert.
Jureit behauptete, die erste Ausstellung sei (eher) einem politischen Anliegen
verpflichtet gewesen und die zweite stärker dem "wissenschaftlichen Diskurs".
Mein Unbehagen hat
mit der Befürchtung zu tun, dass die vergangenheitspolitische Abkehr vom
Täter-Opfer-Paradigma zur Folge haben wird, dass alle Verantwortlichen
"irgendwie" zu Opfern erklärt werden.
Das Verdienstvolle
und zugleich Provozierende der ersten Ausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen
der Wehrmacht 1941 bis 1944 war es, den Einzelnen dafür verantwortlich zu
machen, was er tat oder unterließ. Dominierende gesellschaftliche Mentalitäten
wurden ins Bild vom Vernichtungskrieg gesetzt. Ein Denken, Fühlen und Handeln,
das sich in "komplexen Verwicklungen" zwischen scheinbar "normalem bürgerlichen
Leben" in der NS-Gesellschaft und dem politisch-ideologischen Antrieb
konstituierte, das heißt im (extremen) Antisemitismus, im Rassismus, im
rigorosen Streben nach mehr "Lebensraum" und im Größenwahn siedelte. Der Einsatz
von extremer Gewalt bis zur Vernichtung gehörte zu den täglichen
Handlungsoptionen des Naziregimes.
Blicken wir auf das
Jahr 1997 zurück: Damals sah Jan Philipp Reemtsma, der Leiter des Hamburger
Instituts für Sozialforschung, die Bereitschaft vieler Deutscher zu akzeptieren,
was zu Vernichtungskrieg und zu Wehrmachtsverbrechen letztendlich führte:
nämlich die Einsicht, dass während der NS-Zeit "die Obsession, die jüdische
Bevölkerung Europas als ein Problem zu sehen, das gelöst werden müsste, äußerst
verbreitet gewesen ist und die Formulierung des Problemphantasmas sowie der
möglichen Lösungen in einem zunehmend mörderischen Vokabular erfolgte - und dass
der Kreis derjenigen, die zur Mittäterschaft bereit waren, weit größer war, als
zuvor angenommen".
Reemtsma hatte den
Tatbestand des Missbrauchs von Auschwitz zur Auslöschung der Erinnerung an den
Judenmord im Vernichtungskrieg als "eine Unsichtbarmachung durch Beleuchtung des
Extrems" bezeichnet. Deshalb hatte die erste Ausstellung die "potentiellen
Verbrechen des Jedermann - von Mann, Vater, Bruder, Onkel, Großvater" -
thematisiert. Die aktuelle deutsche biographische Schreibwut in Literatur und
Feuilleton über Vertreibung und deutsche Opfer hat diesen Ansatz längst
verdrängt.
Der Autor hat die beiden Ausstellungen publizistisch begleitet: Vgl. Mythos
Wehrmacht. Nachkriegsdebatten und Traditionspflege, Berlin 2001; zus. Mit Detlef
Bald und Wolfram Wette.
Weitere Artikel zum Thema Wehrmachtsaustellung u.a. :
Der Hamburger Händedruck
Ausnahmezustand in der Jarrestadt
Sieg für Opi und Vati
Materialsammlung zur Wehrmachtsausstellung