Es gibt
Verlagsankündigungen, die einem Bange machen. "Eine epochale Gesamtdarstellung
des Dritten Reiches" verspricht die Deutsche Verlagsanstalt und will das erste
Buch des dreibändigen Werkes von Richard J. Evans in einer Startauflage von
50.000 Exemplaren drucken. In erster Linie solle sich das Werk, so der Autor
selbst, an LeserInnen wenden, "die nichts oder nur wenig über das Thema wissen
und gern mehr erfahren möchten". Aber warum sollten sie gerade nach drei dicken
Büchern greifen? Schließlich gibt es seit Jahren sehr gute, moderne und
preiswerte Darstellungen des "Dritten Reiches", etwa von Norbert Frei, Ludolf
Herbst, Bernd-Jürgen Wendt oder Wolfgang Benz.
Evans meint, die
Zeit sei reif für eine Synthese älterer Werke. So will er von Karl Dietrich
Bracher die lange Linie der deutschen Geschichte übernehmen, von Michael
Burleigh die Hervorhebung der Gewalt und von William L. Shirer das erzählende
Moment. Reicht das für eine "epochale Gesamtdarstellung"?
Der erste Band soll
die Ursprünge des Nationalsozialismus und den Weg an die Macht behandeln. Weit
ausholend beginnt Evans im deutschen Kaiserreich. Dort sieht er autoritäre
Strukturen, soziale Spannungen und kulturelle Orientierungslosigkeit im Prozess
der Modernisierung in Nationalismus und Antisemitismus münden.
Das ist nicht
falsch, aber ähnelt großteils eher einem allgemeinen Lehrbuch zur deutschen
Geschichte. Wenn Evans erneut Adolf Stoecker, Wilhelm Marr und andere als
Sprecher eines mittelständischen, kleinbürgerlichen Antisemitismus vorstellt und
insbesondere die Arbeiter vor jedweder Judenfeindschaft gefeit sieht, geht er
über die älteren Interpretationen nicht hinaus. Zudem vermeidet er die spannende
Frage nach dem christlichen und milieugeprägten Volksantisemitismus.
Und warum
Deutschland? Wäre zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Beobachter gefragt worden,
in welchem Land er "eliminatorischen" Antisemitismus erwarten würde, hätte er
sicher Frankreich genannt. Überall in Europa wurde der Ruf nach "Lösung der
Judenfrage" laut, und doch war der Nationalsozialismus eine deutsche Erfindung.
Will man nicht wie Daniel Goldhagen eine mörderische Mentalität der Deutschen
erkennen, die nur auf die Gelegenheit zur Praxis wartete, so wird man sich auf
die Zwischenkriegszeit konzentrieren. Neben den "Modernisierungskrisen" des
Kaiserreichs gelten generell die Niederlage im Ersten Weltkrieg und die
nachfolgenden schweren politischen wie wirtschaftlichen Erschütterungen als
Gründe für den Nazismus. So sieht es auch Evans.
Nun kann man ihm
nicht vorwerfen, den nahezu zeitgleich erschienenen jüngsten Band der deutschen
Gesellschaftsgeschichte von Hans-Ulrich Wehler nicht zu berücksichtigen. Aber im
Vergleich fällt auf, wie stark Evans seinen Blick auf die Kabinetts- und
Parteipolitik richtet und wie wenig auf die Erosion sozialer Bindungen und
politisch-kultureller Lebenswelten. Während die sozialmoralischen Milieus der
Liberalen, Konservativen, Katholiken und Sozialisten brüchig wurden, konnte sich
die NSDAP, wie Wehler darlegt, als junge, klassenübergreifende "Volkspartei"
präsentieren.
Evans bemüht sich
um kulturgeschichtliche Grundierung, aber dann greift er doch immer wieder auf
Victor Klemperers Tagebuchnotizen zurück. Seine Parteigeschichte der NSDAP
besteht aus einer Folge von Kurzbiografien der NS-Funktionäre. In seiner Analyse
der Wahlergebnisse mag Evans nicht vom falschen Glauben an die besondere
NS-Resistenz der Arbeiter lassen. Er bleibt bei einer Phänomenologie des
Geschehens, konstatiert etwa den frühzeitigen hohen NSDAP-Stimmenanteil in
ländlichen, protestantischen Gegenden, nennt aber dafür außer der Agrarkrise,
die ja auch für die katholische Landbevölkerung galt, keine überzeugende Gründe.
Die Untersuchung
des Amalgams, das der lutherische Staatsprotestantismus mit Nationalismus,
Judenfeindschaft und der religiösen Aufladung des Nationalsozialismus
eingegangen sein könnte, verlegt Evans auf den zweiten Band und weicht der
spannenden Frage nach der "politischen Religion" aus.
So entsteht das
bekannte Bild vom Scheitern der Weimarer Republik durch institutionelle
Schwäche, Mangel an Demokraten, Gewaltansturm der extremistischen Bewegungen,
nationale Demütigung durch den Versailler Vertrag und tiefe Verunsicherung durch
Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise. Das alles ist nicht verkehrt, aber stark
vergröbert und fällt vor allem hinter die Möglichkeiten zurück.
Die politischen
Emotionen, die in den eruptiven Wahlerfolgen der NSDAP ihren Ausdruck fanden,
sind damit ebenso wenig erklärt wie der Glaube an das Charisma des "Führers",
der die Wünsche nach Einheit und Heil mit dem Versprechen einer künftigen
"Volksgemeinschaft" zu bündeln wusste. Für Evans waren es vornehmlich Propaganda
und Straßenterror, mit denen die Nationalsozialisten den Deutschen die Köpfe
verdrehten. Das las sich schon bei Hans-Ulrich Thamer subtiler, der sein
Standardwerk programmatisch mit "Verführung und Gewalt" überschrieb.
Im letzten Drittel
dieses ersten Bandes schildert Evans den Furor der nationalsozialistischen
Machtergreifung 1933. Hier entsteht zum ersten Mal ein plastisches, fesselndes
und spannungsreiches Bild von der gewaltsamen Zerschlagung der politischen
Opposition und "Gleichschaltung" aller Verbände; von der Zerstörung der
demokratischen Institutionen, vom Aufbau eines Terrorsystems mit Gestapo und
Konzentrationslagern; von den antisemitischen Kampagnen und Gesetzen auf der
einen und der Inszenierung der "Volksgemeinschaft" auf der anderen Seite. Obwohl
bereits Bracher selbst, jüngst auch Saul Friedländer oder Peter Longerich diese
revolutionäre Dynamik eindringlich beschrieben haben, gehören diese Kapitel
dennoch zu den besten des Buches.
Richard Evans, eine
der internationalen Koryphäen der Geschichtswissenschaft, hat eine solide,
nüchterne und klar geschriebene Darstellung des Aufstiegs des
Nationalsozialismus vorgelegt. Aber die Synthese, die er anstrebt, gerät ihm
trotz seines Können und seiner Professionalität doch zur Reprise des Bekannten
und bereits Veröffentlichten. Zurück bleiben der Verdacht, dass das
Verlagskalkül nicht aufgehen wird, und zugleich die Hoffnung, dass gerade in
Zeiten, in denen die Großmeister der Zunft zu abschließenden Gesamtdarstellungen
anheben, sich die neuen Fragen als die interessanteren erweisen könnten.
Richard J. Evans: "Das Dritte Reich. Band I: Aufstieg". Aus dem Englischen von
Holger Fließbach und Udo Rennert, DVA, München 2004, 752 Seiten, 39,90€