Nach den ersten
freien Parlamentswahlen Ungarns, 1990, konnten die Zuschauer im ungarischen
Fernsehen fantastische Bilder sehen. Immer wieder tauchten Menschen auf und
deklamierten zündende Worte über Volk, Nation und ungarische Wahrheit. Vor allem
die Älteren vor den Bildschirmen hatten das Gefühl, sie irgendwo schon gesehen
zu haben. Ihre Stiefel, ihre Hüte, ihre Schnurrbärte, ihre pathetische
Stimmführung und Gebärden kamen ihnen irgendwie bekannt vor - sie erinnerten an
jene Menschen, die Anfang der Vierzigerjahre in der Wochenschau zu sehen waren.
Wie schafften sie es, dass sie sich in den letzten fünfzig Jahren gar nicht
verändert hatten? Zwar schwammen in der Donau 1990 keine Leichen, auf den
Straßen sah man keine mit gelbem Stern dekorierte Menschen, aber die damaligen
Festredner waren wieder da.
Im selben Jahr
erschien ein Essay, geschrieben von einem angesehenen Schriftsteller namens
Sándor Csoóri: "Umgekehrte Assimilationsbestrebungen zeigen sich in unserem
Land: Das liberale ungarische Judentum will im Stil und auch gedanklich das
Ungarntum assimilieren. Dazu hat es sich ein Podium im Parlament gezimmert." Die
Gedankenwelt dieser der ungarischen Seele fremden Minderheit sei liberal,
Liberalismus also eine jüdische Erfindung. Später haben wir oft genug gehört,
dass auch Sozialismus und Kommunismus jüdische Erfindungen sind. Der
Liberalbolschewik ist also doppelt jüdisch. Ein nur durch Rasseneigenschaften
definiertes Ungarntum gilt nicht als jüdisch.
Die jetzigen
antisemitischen Äußerungen eines Vorstandsmitglieds des Schriftstellerverbandes,
die bis heute schon fast zweihundert Schriftsteller dazu gebracht haben, aus der
Vereinigung auszutreten, wiederholen nur die zitierte These aus dem Jahr 1990:
Die Juden wollen die Ungarn unterdrücken. Das bedeutet, dass sie selbst keine
Ungarn sind. Sogar einen Holocaust planen sie für die Madjaren - das ist die
einzige interessante Neuerung des Vorstandsmitglieds. Das Präsidium des
Schriftstellerverbandes übrigens und der Präsident selbst bewerteten diese
Äußerungen als Früchte der neu gewonnenen Freiheit.
Womit ist diese
unversöhnliche Hartnäckigkeit des ungarischen Antisemitismus zu erklären? Die
historischen Ursachen sind bekannt. Ungarn - wie die anderen mittel- und
osteuropäischen Länder auch - machte aus geopolitischen Gründen eine verspätete
und verzerrte bürgerliche Entwicklung durch, in der der Citoyen kaum eine Rolle
spielen konnte und sich das Bürgertum anfangs meist aus deutschen und jüdischen
Elementen konstituierte.
Dieses Bürgertum
und seine städtische Kultur galt von Anfang an als unungarisch. Als die jungen
Landadligen ab dem Ende des 19. Jahrhunderts aus wirtschaftlichen Gründen
gezwungen waren, massenhaft in die Städte zu ziehen, fanden sie dort die
jüdischen Rivalen als ein Hass erregendes fremdes Element vor. Das ist keine
ungarische Spezialität. Es gibt aber seit dem Ende des Ersten Weltkrieges eine
Besonderheit, die dem ungarischen Antisemitismus einen speziellen,
unversöhnlichen Charakter verleiht.
Nach dem
Friedensdiktat von Trianon, 1920, bei dem Ungarn zwei Drittel seiner Gebiete und
mehr als die Hälfte seiner Bevölkerung verloren hatte, verbreitete das
gegenrevolutionäre System eine Lügenpropaganda, die für die schreckliche
Verstümmelung die Juden verantwortlich machte. Wenn die Juden 1918/19 nicht die
beiden Revolutionen - die so genannte bürgerliche Herbstrosenrevolution und die
kommunistische Räterepublik - initiiert und geführt hätten, wären wir nicht auf
diese schreckliche Weise bestraft worden. In Wahrheit war die bürgerliche
Revolution deshalb zusammengebrochen, weil ihre Führer die Verantwortung für die
Verstümmelung des Landes nicht auf sich nehmen wollten; und allein die
Räterepublik versuchte, die demografischen Grenzen mit Waffen zu verteidigen.
Solche Tatsachen zählen aber nichts, wenn ein traumatisches, kollektives
Erlebnis einen Sündenbock sucht. Im Vergleich zum Nazi-Antisemitismus war und
ist der moderne ungarische Judenhass weniger rassistisch; er ist eher historisch
und psychologisch angelegt. Eine grausame Kastration fand an dem Körper der
Nation statt, und die Täter sind wieder gefährlich.
Schwerer ist die
Frage zu beantworten, warum gerade die ungarischen Schriftsteller vierzehn Jahre
brauchten, transparente Tatsachen zu durchschauen. Auch dafür gibt es
historische Gründe. Seit den Dreißigerjahren ist die ungarische Literatur in
zwei Lager geteilt: in Urbanisten und Populisten. Zwischen ihnen gab es kaum
Vermittler. Die Urbanisten - unter ihnen viele jüdischer Herkunft - waren Kinder
der städtischen Kultur, meistens westlich und weltlich orientiert, die
Populisten dagegen betrachteten das Bauerntum als das wertvollste, unverdorbene
Element der Nation und eine modernisierte bäuerliche Lebensform als einzige
lebensrettende Perspektive des Ungarntums.
Allerdings hat in
den Dreißiger- und Vierzigerjahren die erste große Generation der Populisten
bedeutende Lebenswerke geschaffen. Sie hatten sich als wichtige
gesellschaftliche Aufgabe vorgenommen, die landlosen ungarischen Bauern aus
ihrer halb feudalen Unfreiheit herauszuheben, sie wollten Landreform,
Bildungsmöglichkeiten für die Bauernjugend, sie wollten "die ungarische Hölle"
erfassen und darstellen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden ihre
Hauptbestrebungen verwirklicht, dann aber hatte die kommunistische Macht durch
Zwangskollektivierung die Landreform und durch Diktatur die neu erworbenen
Freiheitsrechte zurückgenommen. Die neue Generation der Populisten sah vor sich
keine wichtige und wirklich realisierbare Aufgabe mehr. Der soziale Inhalt ihres
Populismus entleerte sich allmählich, und sie selbst erfüllten sich mit einer
immer phrasenhafter werdenden Bauernromantik und nationaler Romantik. Jetzt gibt
es um die "Schicksalsfragen der Nation" ein großes populistisches Lager, aber
keine nennenswerte populistische Literatur. Einige so genannte Urbanisten aber -
befreit von der Zensur des Parteistaats - entwickeln eine Literatur, die mit den
westlichen Bestrebungen viele Berührungspunkte hat und international immer mehr
akzeptiert wird. Sie gelten wegen ihres Stils, ihrer Thematik, ihrer Erfolge -
egal, ob sie Juden sind oder nicht - in den Kreisen der Populisten als
unungarisch.
Aber viele Urbanisten tragen auch eine Last: Sie haben den Parteistaat unter
Kadars Führung zwar nicht geliebt, doch innerlich ebenso akzeptiert wie die
meisten Populisten. Deshalb sind auch sie nicht interessiert an dem Spezialfach
der Vergangenheitsbewältigung, und auch nicht an einer schonungslosen Analyse.
Das ist die Hauptursache ihrer Spätreaktionen. Sie sind daran gewöhnt, peinliche
Konflikte zu verschleppen. Der Skandal, der jetzt ausgebrochen ist, zwingt die
Intellektuellen hoffentlich zu einer unangenehmen Klarsicht."
Erster Teil der Serie :
"Der Antisemitismus in Osteuropa hat alte Wurzeln"
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