antisemitismus.net / klick-nach-rechts.de / nahost-politik.de / zionismus.info

Judentum und Israel
haGalil onLine - http://www.hagalil.com
     

 
[Der Pressespiegel im Klick nach Rechts]

Serbien:
Im Minenfeld

Die neue serbische Regierung wird von Nationalisten, Monarchisten, Neoliberalen getragen. Und von Sozialisten...

Boris Kanzleiter, Belgrad

Die Bewohner von Turija in der nordserbischen Provinz Vojvodina werden sich wahrscheinlich bis an ihr Lebensende an die vergangene Woche erinnern. Denn bei der traditionellen »Wurstolympiade« produzierten die Metzger der Ortschaft mit 2 020 Metern die längste mit Fleisch gefüllte Delikatesse der Menschheitsgeschichte. Und was viel mehr zählt: Sie setzten dies gegen den erbitterten Widerstand der serbischen orthodoxen Kirche durch. Diese hatte den Dörflern das jährliche Volksfest ausdrücklich verboten und sie stattdessen zum Osterfasten aufgefordert. Bei Zuwiderhandlung hatten die langbärtigen Popen gedroht, während der »Wurstolympiade« alle 15 Minuten die Totenglocken zu läuten und den Bewohnern des Dorfes für ein Jahr alle kirchlichen Dienste zu versagen, sogar bei Beerdigungen. Doch diesen war Essen wichtiger als der Heilige Geist. Ein Besucher meinte sogar völlig unorthodox: »Ich glaube an Tito.« Aus Solidarität mit den Einwohnern von Turija wurden auch vor einigen Kirchen in Belgrad Wurstessen veranstaltet.

Das waren dann aber auch schon die guten Nachrichten aus Serbien. Seit dem 2. März befindet sich in dem Land, nach über zwei Monaten Nerven zerreibender Koalitionsverhandlungen, eine neue Regierung an der Macht, die unter dem neuen Premier Vojislav Kostunica von der Demokratischen Partei Serbiens (DSS) die Klerikalisierung der Gesellschaft zum Programm erhoben hat. Nie zuvor seit 1945 konnte sich die nationalistische serbisch-orthodoxe Kirche über mehr politische Unterstützung einer Regierung freuen als heute. Damit noch nicht genug. Während für das spirituelle Wohl die unerbittlichen Männer in Schwarz zuständig sind, wird die Finanzpolitik in Zukunft vom zur Partei transformierten neoliberalen Think Tank »G17 plus« dominiert. Dessen Orthodoxie ist indes der freie Markt und das Weitertreiben der Privatisierungspolitik, die für rekordverdächtige Arbeitslosenquoten sorgt.

Die erste Amtshandlung des neuen Finanzministers Mladjan Dinkic von der Partei G17 plus bestand denn auch in der Kürzung der Steuer auf Kapitaleinkünfte, einem Geschenk an die Reichen also, um Investitionen zu erleichtern. Als Minister für Kapitalinvestitionen soll in Zukunft der Politchaot Velimir Ilic Geld aus dem Ausland besorgen. Er hat bisher vor allem mit nicht zitierfähigen Beleidigungen für Aufsehen gesorgt. Als Außenminister firmiert der monarchistische Wirrkopf Vuk Draskovic von der Serbischen Erneuerungsbewegung (SPO), der trotz aggressiven Antikommunismus im Dienste der Vaterlandsverteidigung auch schon mal in der Regierung Slobodan Milosevics saß. Zu allem Überfluss wird die Regierung vom politisch bankrotten, aber immer noch nach der Macht gierenden Restbestand der Sozialistischen Partei (SPS) toleriert, deren Funktionäre offensichtlich den Ehrgeiz haben, die durch ihre autoritäre, nationalpopulistische Politik in den neunziger Jahren gänzlich diskreditierte Partei nun endgültig zu entsorgen.

Dass die wunderliche Melange aus Nationalisten, Monarchisten, Neoliberalen und Sozialisten lange Bestand hat, wird indes von den meisten politischen Beobachtern bezweifelt. »Die Heterogenität wird in Immobilität und Stillstand münden«, meint der Politologe Vladimir Goati von der Belgrader Universität. Für seine These spricht tatsächlich viel. Denn neben der desaströsen Wirtschaftslage wird sich der entscheidungsschwache Kostunica mit einer Reihe weiterer Probleme befassen müssen, die wie Minenfelder um ihn herum liegen. So ist er mit dem Versprechen an die Macht gelangt, die geforderten Auslieferungen einer Reihe von hochrangigen serbischen Militärs an das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zu stoppen. Dies wird aber von der US-Administration und den EU-Ländern zur Vorbedingung für dringend benötigte Wirtschaftshilfe gemacht.

Gleichzeitig hat Kostunica angekündigt, dass es mit ihm »keine Diskussionen« über eine Unabhängigkeit der südserbischen Provinz Kosovo geben wird. Das wird allerdings nicht nur von albanischen Nationalisten vehement gefordert, sondern auch von der »internationalen Gemeinschaft« wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Nicht zu vergessen ist, dass auch in der autonomen serbischen Region Vojvodina die »Sezessionisten« mobil machen. Der Chef der Regionalregierung, Nenad Canak, hat vergangene Woche eine neue eigene Fahne eingeweiht, was von den Regierungsparteien in Belgrad in einer Erklärung postwendend als »direkte Attacke auf die staatliche Integrität und die Interessen der serbischen Mehrheitsbevölkerung in der Vojvodina« scharf verurteilt wurde. Und wenn es nach den regierungsbildenden Eliten in der Teilrepublik Montenegro geht, wird auch der Staatenbund Serbien-Montenegro bald der Vergangenheit angehören.

Hängen die Fragen des territorialen Bestandes des Landes letztlich hauptsächlich von aus Belgrad schwer zu beeinflussenden Entscheidungen in Washington und Brüssel ab, untergräbt die neue Regierung ihre Stabilität gleichzeitig mit skandalösen Personalentscheidungen, die durchaus von ihr zu steuern wären. Um die Nominierung von Ilic und Draskovic als Minister kam Kostunica zwar nicht herum, weil er die benötigten Koalitionspartner mit lukrativen Jobs zufrieden stellen musste. Anders verhält es sich aber bei der Ernennung von Zoran Stojkovic zum neuen Justizminister. Der 58jährige Jurist war von 1980 bis 1987 Richter am Bezirksgericht in Belgrad und führte dort die letzten großen Prozesse gegen Dissidenten im sozialistischen Jugoslawien. Unter anderem verurteilte er in einem Schauprozess die so genannten »Belgrader 6« zu Haftstrafen wegen »feindlicher Propaganda«. Tatsächlich handelte es sich bei den verurteilten Intellektuellen um politische Aktivisten, die den Sozialismus in Jugoslawien vor der sich nationalistisch wendenden Parteibürokratie retten wollten. Unter den damals Inhaftierten war auch Dragomir Olujic. Während er heute noch einen Roten Stern am Anorak trägt, ist sein damaliger Richter Minister einer klerikal-nationalistischen Regierung.

Manche Beobachter, wie der Soziologe Vojin Dimitrijevic vom Belgrader Zentrum für Menschenrechte, sehen in solchen Phänomenen eine »Konterrevolution«, die den Demokratisierungsprozess nach dem Sturz Milosevics im Oktober 2000 rückgängig mache. Diese Feststellung setzt indes voraus, dass es damals eine »Revolution« gegeben hat. Tatsächlich dürfte die Wahrheit weniger spektakulär sein. Wenn irgendwann einmal empirisch arbeitende Sozialforscher den Transformationsprozess der vergangenen 15 Jahre untersuchen, werden sie vermutlich herausfinden, dass es im Staatsapparat und in den Wirtschaftseliten eine weitgehende Kontinutät gibt und lediglich die Farben der politischen Repräsentanz gewechselt haben. Das gilt eben auch für die drei im Westen fälschlicherweise als »demokratisch« bezeichneten Jahre zwischen der Machtübernahme durch Zoran Djindjic 2000 und seiner Ermordung vor einem Jahr.

Jungle World
Jungle World Nummer 13 vom 17.03.2004

kt / hagalil.com / 2004-03-17

Die im Pressespiegel veröffentlichten Texte spiegeln die Meinungen der jeweiligen Autoren.
Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Verantwortlichen dieser Website wieder.


DE-Titel
US-Titel

Books

haGalil.com ist kostenlos! Trotzdem: haGalil kostet Geld!

Die bei haGalil onLine und den angeschlossenen Domains veröffentlichten Texte spiegeln Meinungen und Kenntnisstand der jeweiligen Autoren.
Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Herausgeber bzw. der Gesamtredaktion wieder.
haGalil onLine[Impressum]
Kontakt: hagalil@hagalil.com
haGalil - Postfach 900504 - D-81505 München

1995-2013 © haGalil onLine® bzw. den angeg. Rechteinhabern
Munich - Tel Aviv - All Rights Reserved