Serbien:
Im Minenfeld
Die neue serbische Regierung wird von Nationalisten,
Monarchisten, Neoliberalen getragen. Und von Sozialisten...
Boris Kanzleiter, Belgrad
Die Bewohner von Turija in der nordserbischen Provinz Vojvodina werden sich
wahrscheinlich bis an ihr Lebensende an die vergangene Woche erinnern. Denn bei
der traditionellen »Wurstolympiade« produzierten die Metzger der Ortschaft mit 2
020 Metern die längste mit Fleisch gefüllte Delikatesse der
Menschheitsgeschichte. Und was viel mehr zählt: Sie setzten dies gegen den
erbitterten Widerstand der serbischen orthodoxen Kirche durch. Diese hatte den
Dörflern das jährliche Volksfest ausdrücklich verboten und sie stattdessen zum
Osterfasten aufgefordert. Bei Zuwiderhandlung hatten die langbärtigen Popen
gedroht, während der »Wurstolympiade« alle 15 Minuten die Totenglocken zu läuten
und den Bewohnern des Dorfes für ein Jahr alle kirchlichen Dienste zu versagen,
sogar bei Beerdigungen. Doch diesen war Essen wichtiger als der Heilige Geist.
Ein Besucher meinte sogar völlig unorthodox: »Ich glaube an Tito.« Aus
Solidarität mit den Einwohnern von Turija wurden auch vor einigen Kirchen in
Belgrad Wurstessen veranstaltet.
Das waren dann aber auch schon die guten Nachrichten aus Serbien. Seit dem 2.
März befindet sich in dem Land, nach über zwei Monaten Nerven zerreibender
Koalitionsverhandlungen, eine neue Regierung an der Macht, die unter dem neuen
Premier Vojislav Kostunica von der Demokratischen Partei Serbiens (DSS) die
Klerikalisierung der Gesellschaft zum Programm erhoben hat. Nie zuvor seit 1945
konnte sich die nationalistische serbisch-orthodoxe Kirche über mehr politische
Unterstützung einer Regierung freuen als heute. Damit noch nicht genug. Während
für das spirituelle Wohl die unerbittlichen Männer in Schwarz zuständig sind,
wird die Finanzpolitik in Zukunft vom zur Partei transformierten neoliberalen
Think Tank »G17 plus« dominiert. Dessen Orthodoxie ist indes der freie Markt und
das Weitertreiben der Privatisierungspolitik, die für rekordverdächtige
Arbeitslosenquoten sorgt.
Die erste Amtshandlung des neuen Finanzministers Mladjan Dinkic von der Partei
G17 plus bestand denn auch in der Kürzung der Steuer auf Kapitaleinkünfte, einem
Geschenk an die Reichen also, um Investitionen zu erleichtern. Als Minister für
Kapitalinvestitionen soll in Zukunft der Politchaot Velimir Ilic Geld aus dem
Ausland besorgen. Er hat bisher vor allem mit nicht zitierfähigen Beleidigungen
für Aufsehen gesorgt. Als Außenminister firmiert der monarchistische Wirrkopf
Vuk Draskovic von der Serbischen Erneuerungsbewegung (SPO), der trotz
aggressiven Antikommunismus im Dienste der Vaterlandsverteidigung auch schon mal
in der Regierung Slobodan Milosevics saß. Zu allem Überfluss wird die Regierung
vom politisch bankrotten, aber immer noch nach der Macht gierenden Restbestand
der Sozialistischen Partei (SPS) toleriert, deren Funktionäre offensichtlich den
Ehrgeiz haben, die durch ihre autoritäre, nationalpopulistische Politik in den
neunziger Jahren gänzlich diskreditierte Partei nun endgültig zu entsorgen.
Dass die wunderliche Melange aus Nationalisten, Monarchisten, Neoliberalen und
Sozialisten lange Bestand hat, wird indes von den meisten politischen
Beobachtern bezweifelt. »Die Heterogenität wird in Immobilität und Stillstand
münden«, meint der Politologe Vladimir Goati von der Belgrader Universität. Für
seine These spricht tatsächlich viel. Denn neben der desaströsen Wirtschaftslage
wird sich der entscheidungsschwache Kostunica mit einer Reihe weiterer Probleme
befassen müssen, die wie Minenfelder um ihn herum liegen. So ist er mit dem
Versprechen an die Macht gelangt, die geforderten Auslieferungen einer Reihe von
hochrangigen serbischen Militärs an das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zu
stoppen. Dies wird aber von der US-Administration und den EU-Ländern zur
Vorbedingung für dringend benötigte Wirtschaftshilfe gemacht.
Gleichzeitig hat Kostunica angekündigt, dass es mit ihm »keine Diskussionen«
über eine Unabhängigkeit der südserbischen Provinz Kosovo geben wird. Das wird
allerdings nicht nur von albanischen Nationalisten vehement gefordert, sondern
auch von der »internationalen Gemeinschaft« wieder auf die Tagesordnung gesetzt.
Nicht zu vergessen ist, dass auch in der autonomen serbischen Region Vojvodina
die »Sezessionisten« mobil machen. Der Chef der Regionalregierung, Nenad Canak,
hat vergangene Woche eine neue eigene Fahne eingeweiht, was von den
Regierungsparteien in Belgrad in einer Erklärung postwendend als »direkte
Attacke auf die staatliche Integrität und die Interessen der serbischen
Mehrheitsbevölkerung in der Vojvodina« scharf verurteilt wurde. Und wenn es nach
den regierungsbildenden Eliten in der Teilrepublik Montenegro geht, wird auch
der Staatenbund Serbien-Montenegro bald der Vergangenheit angehören.
Hängen die Fragen des territorialen Bestandes des Landes letztlich hauptsächlich
von aus Belgrad schwer zu beeinflussenden Entscheidungen in Washington und
Brüssel ab, untergräbt die neue Regierung ihre Stabilität gleichzeitig mit
skandalösen Personalentscheidungen, die durchaus von ihr zu steuern wären. Um
die Nominierung von Ilic und Draskovic als Minister kam Kostunica zwar nicht
herum, weil er die benötigten Koalitionspartner mit lukrativen Jobs zufrieden
stellen musste. Anders verhält es sich aber bei der Ernennung von Zoran
Stojkovic zum neuen Justizminister. Der 58jährige Jurist war von 1980 bis 1987
Richter am Bezirksgericht in Belgrad und führte dort die letzten großen Prozesse
gegen Dissidenten im sozialistischen Jugoslawien. Unter anderem verurteilte er
in einem Schauprozess die so genannten »Belgrader 6« zu Haftstrafen wegen
»feindlicher Propaganda«. Tatsächlich handelte es sich bei den verurteilten
Intellektuellen um politische Aktivisten, die den Sozialismus in Jugoslawien vor
der sich nationalistisch wendenden Parteibürokratie retten wollten. Unter den
damals Inhaftierten war auch Dragomir Olujic. Während er heute noch einen Roten
Stern am Anorak trägt, ist sein damaliger Richter Minister einer
klerikal-nationalistischen Regierung.
Manche Beobachter, wie der Soziologe Vojin Dimitrijevic vom Belgrader Zentrum
für Menschenrechte, sehen in solchen Phänomenen eine »Konterrevolution«, die den
Demokratisierungsprozess nach dem Sturz Milosevics im Oktober 2000 rückgängig
mache. Diese Feststellung setzt indes voraus, dass es damals eine »Revolution«
gegeben hat. Tatsächlich dürfte die Wahrheit weniger spektakulär sein. Wenn
irgendwann einmal empirisch arbeitende Sozialforscher den Transformationsprozess
der vergangenen 15 Jahre untersuchen, werden sie vermutlich herausfinden, dass
es im Staatsapparat und in den Wirtschaftseliten eine weitgehende Kontinutät
gibt und lediglich die Farben der politischen Repräsentanz gewechselt haben. Das
gilt eben auch für die drei im Westen fälschlicherweise als »demokratisch«
bezeichneten Jahre zwischen der Machtübernahme durch Zoran Djindjic 2000 und
seiner Ermordung vor einem Jahr.
Jungle World
Jungle World Nummer 13 vom 17.03.2004
kt /
hagalil.com
/ 2004-03-17
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