Rolf Isaacsohn
bekommt Anweisungen zugerufen: Er möge das Ariowitsch-Heim nun aufschließen, er
möge nun dort und dort hinschauen, dort und dort hingehen. Der 70-jährige
Vorsteher der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig macht das scheinbar
ungerührt, weder verdrießlich noch begeistert, er blickt ernst in die Kameras,
er geht am Haus von rechts nach links, stellt sich vor das Baustellenschild,
geht zur Tür hinauf, greift zum Schlüssel. Er macht das ohne Murren. Es ist, wie
es ist. Bauen kann schwer sein. Nichtbauen ist es noch mehr.
Was soll man
machen, wenn fünf Nachbarn gegen die Baugenehmigung für das neue Gemeindezentrum
klagen? Was soll man sagen, wenn ein Kläger aus München schreibt, es sei ihm als
Wohneigentümer nicht zuzumuten, "die Wohnung zur Wahrung meiner
Vermögensinteressen an eine rechtsradikale Wohngemeinschaft zu vermieten oder an
einen Islamisten zu verkaufen"? Wenn ein anderer klagt, bei der gegenwärtigen
israelischen Politik sei kein jüdisches Gebäude vor Anschlägen sicher? Wenn ein
weiterer argwöhnt, sein Baumbestand sei durch den Einbau eines
Versammlungsraumes im Kellergeschoss gefährdet?
Rolf Isaacsohn
redet zwar in Mikrofone, doch eigentlich ist er stumm. Was soll man auch sagen,
wenn man als Nachbar nicht erwünscht ist? Vor anderthalb Jahren wollte die
Gemeinde den ersten Spatenstich feiern, aber das Ariowitsch-Heim, das ehemalige
jüdische Altersheim, ist immer noch kein Begegnungszentrum, es ist ein alter,
leer stehender Bau mit Moos auf den Stufen. Vor einigen Jahren hat die Stadt das
Haus als Altersheim aufgegeben - seitdem ist es ein grauer Klotz im sanierten
Waldstraßenviertel, dem schönsten Leipziger Gründerzeitquartier. Das sagt
Isaacsohn dann doch noch ins Mikrofon: "Die wahren Gründe sind zum Teil
Antisemitismus."
1931 wurde das von
Louise Ariowitsch gestiftete Heim eröffnet. Ihr Mann Julius Ariowitsch kam aus
dem weißrussischen Slonim nach Sachsen und galt um 1900 als König vom Leipziger
Brühl, dem Zentrum des deutschen Pelzhandels. Allein im Waldstraßenviertel gab
es fünf Synagogen und Beträume, in ganz Leipzig waren es siebzehn für über
13.000 Juden - jeder fünfte wohnte rings um die Waldstraße. Es gab ein Theater,
ein Krankenhaus, eine Hebräischschule, ein Sozialamt, Sportvereine, eine
Hochschule, einen Kindergarten und einen Hort. In diesen Hort wurde auch Rolf
Isaacsohn geschickt, um der Enge der "Judenhäuser" zu entgehen, in denen Juden
seit Kriegsbeginn leben mussten.
"Da oben haben wir
nach Wandmalereien gesucht. Aber es waren nur Wasserflecken." Rolf Isaacsohn ist
unter den Augen der Kamera ins Haus gegangen, blickt zur Decke und dann aus dem
Fenster hinüber zum Nachbarhaus. Der Notar, der dort seine Kanzlei führt, ist
einer der Kläger. Es soll um die Platane gehen, die zwischen beiden Häusern
steht.
Rolf Isaacsohn geht
über die Treppe ins Obergeschoss. Im September 1942 wurden die letzten 87
Insassen nach Theresienstadt deportiert, manche wurden auf Tragen weggebracht.
"Die mauschelnde Rasse kann sich heute nicht mehr so breit machen wie früher"
schrieb die Leipziger Tageszeitung damals. Nach der Deportation richtete sich im
Ariowitsch-Heim die Gestapo ein.
Josif Besnosov
steht abseits und raucht. Es hat etwas Entspanntes. Wie Julius Ariowitsch stammt
er aus Weißrussland. 1990 ist er aus Minsk gekommen, heute ist Besnosov der
Geschäftsführer der Gemeinde. Als er nach Leipzig kam, waren in der Gemeinde
noch drei Dutzend Mitglieder, heute sind es über tausend. Es scheint wie eine
biblische Verheißung: Ein beinahe abgehackter Baum treibt kräftig Zweige - die
Leipziger Gemeinde ist unter den drei sächsischen am schnellsten gewachsen. Das
alte Gemeindehaus konnte nicht mitwachsen. Nun ist es viel zu klein.
Die ehemalige
"Brodyer Synagoge" in der Keilstraße, von Kaufleuten aus dem galizischen Brody
als Treffpunkt errichtet, wenn sie zur Messe in der Stadt waren, hat als einzige
der dreizehn Synagogen die Nazis überstanden. Sie mag noch ausreichen. Aber wo
soll man die vielen Zuwanderer aus dem Osten unterbringen? Man kann ja
schließlich nicht auf der Straße feiern, kochen, tanzen, musizieren, Schach
spielen, wissenschaftliche Dispute führen, Zeitungen lesen, Deutsch lernen und
was sie sonst noch alles machen.
Josif Besnosov
folgt Rolf Isaacsohn und trägt ein sperrhölzernes "JA" groß wie ein Schild vor
sich her. Nachbarn haben Unterschriften gesammelt, Nachbarn, die sich freuen,
dass das jüdische Leben zurückkehrt. Auf den Zetteln stand: "Leider klagen
einzelne Anwohner gegen dieses Bauvorhaben offenbar mit dem Ziel, das
Begegnungszentrum zu verhindern. Wir jedoch sehen Leipzig als eine weltoffene
Stadt, und deshalb: Wir sagen JA zum jüdischen Begegnungszentrum." Über tausend
haben ihre Unterschrift darunter gesetzt. Neulich wurde die Liste mitsamt dem JA
der Gemeinde übergeben.
Rolf Isaacsohn
kommt die Treppe herunter. Das Ariowitsch-Heim soll sich mit neuem jüdischen
Leben füllen. Isaacsohn scheint der ergraute Stammvater des Neuen zu sein,
schweigend trägt er diese Last. Der Notar ist für eine Erklärung nicht zu
erreichen. Er mache Beurkundungen, heißt es, außerdem sei es eine
Privatangelegenheit.
Rolf Isaacsohn
verschließt mit ernster Miene das Heim. Im Februar 1945 wurde er mit dem letzten
Transport aus Leipzig nach Theresienstadt deportiert, da war er elf. Auch Josif
Besnosov nimmt das hölzerne JA und geht.
Am Abend hat ein
Bürgerverein zum Gespräch in die Lessing-Schule geladen: "Das neue Jüdische
Gemeindezentrum - Anlass zur Sorge oder neue Chance?" Die Aula ist brechend
voll, Rolf Isaacsohn steht vorn und redet. Nein, es werde höchstens einen
Gottesdienst im Jahr geben, und was den Verkehr betreffe: Die meisten in der
Gemeinde seien alt und erhielten Sozialhilfe, da werde kaum einer mit dem Auto
zum Ariowitsch-Heim fahren. Es werde auch keine Großküche gebaut. Kurzum: es
werde kein Remmidemmi geben, wie Anwohner vielleicht befürchteten. Isaacsohn
setzt sich und greift zum Wasserglas.
Danach kommen
haufenweise Bekenntnisse, und es klingt manchmal, als würde man Isaacsohn
Kleinmut vorwerfen, weil er die Gegner eher leise beschwichtigt, statt lauthals
sein Recht einzufordern. Rolf Isaacsohn hört schweigend zu. Was soll man sagen?
Da will ein Eigentümer bauen - und dreihundert Menschen erscheinen, schütten ihr
Herz aus, vor der Tür steht Bereitschaftspolizei, Fernsehen ist da, vom Rathaus
kommt ein Gesandter, Parteien schicken Parteisoldaten, die Solidaritätsadressen
abgeben, ein Flugblatt kursiert, ruft zu einer Kundgebung auf, und mittendrin
sitzt ein Mann von 70 Jahren, der schnell eine Tablette schluckt und dem man
eigentlich einen wohlverdienten Ruhestand gönnt. Alles wegen eines Hauses. Juden
bauen.
Die einen reden,
die anderen hören zu. Josif Besnosov etwa. Er steht schräg hinter Isaacsohn am
Fenster und lächelt, wenn einer aufsteht und wie jetzt eine Mahnwache fordert.
In der Hand hält er das große stumme JA, als wolle er es noch heute in den
Leipziger Himmel hängen.
Etwas später
spricht Isaacsohn noch einmal und betont, dass er nicht kleinmütig, sondern nur
realistisch sei, er erzählt von einem Anruf: "Merken Sie nicht, dass wir Sie
nicht haben wollen?", habe einer durchs Telefon gerufen. "Da ist es mir kalt den
Rücken runtergelaufen." Der Abend sei gut verlaufen, heißt es später, die Kläger
seien isoliert.
Am nächsten Morgen
ist Rolf Isaacsohn nicht zu sprechen. Sein Büro im zu klein gewordenen
Gemeindehaus in der Löhrstraße bleibt leer. Die ganze Sache setze ihm zu, sagt
die Sekretärin. "Auch die Vorwürfe gestern Abend." Vorwürfe? "Na, dass er sich
verstecken würde mit dem Projekt." Die Gemeinde hätte früher an die
Öffentlichkeit gehen müssen, sagen viele. Aber mitten in der Olympiabewerbung?
Als "Spielverderber"?
Als Isaacsohn aus
Theresienstadt zurückkam, war er zwölf, und sein Leben in der DDR begann.
Isaacsohn wurde Elektroinstallateur. Die wenigen Juden waren für die SED
Statisten im Passionsspiel über den antifaschistischen Widerstand. Wer zu
eigenständig agierte, wurde schnell des Zionismus verdächtigt. Wer stillhielt
wurde dekoriert, wie Aron Adlerstein, Isaacsohns Vorgänger, dem Erich Honecker
zum 50. Jahrestag der Pogromnacht den Vaterländischen Verdienstorden verlieh.
Als wäre das Überleben an sich ein Verdienst. Die Gemeinde stand vor ihrem Ende.
Zwei Jahre später trifft Josif Besnosov ein. Und mit ihm viele Juden aus dem
zerfallenden Sowjetreich.
Auch Efim Kerzhner.
Er kam 1995. Der 56-jährige Maler, der aus Kiew stammt, arbeitet in der
Bibliothek des Gemeindehauses in der Löhrstraße. "Wir haben einen Platz
gefunden, wo wir nach unseren Traditionen leben können", sagt er. "Und die
Jungen - die waren in Russland nicht zu sehen! - aber hier in der Freiheit
unterrichten sie plötzlich die Alten in jüdischem Leben und Tradition." Die
Jungen lehren die Alten, wo hat man so was schon gesehen? "Ein Wunder!", ruft
Kerzhner. "Wir bemühen uns, die Leipziger Tradition fortzusetzen!"
Gott sei dank, alles gehe "normalno", sagt er auf Russisch. Normalno kann außer
Weltuntergang zwar fast alles bedeuten, aber Kerzhner wirkt zufrieden. Auf dem
Flur warten Frauen und drücken ihre Taschen an die Brust. Sie wollen Bücher,
einen Rat oder einfach nur Gesellschaft. "Das ist hier ihr zweites Zuhause",
sagt Efim Kerzhner. Ihr drittes ist Leipzig. Überall wird gebaut. Die Gemeinde
will jetzt anfangen. Die Eilanträge der Kläger wurden am Freitag zurückgewiesen.
Endgültig entschieden ist die Sache noch nicht. Aber es ist eine gute Nachricht.
Bauen ist schwer, Nicht bauen noch viel mehr.