taz: Frau Klapheck, im
Januar wurden Sie zur Rabbinerin ordiniert. Ist es Beruf oder Berufung?
Elisa Klapheck: Berufung.
Ich bin Politologin und war immer politisch und säkular orientiert. Gleichzeitig
habe ich mit Freundinnen eine Torahgruppe gegründet. Zum Spaß und um mein
Hebräisch aufzufrischen. Später als Journalistin war ich dann am Institut für
Judaistik der Freien Universität immatrikuliert und habe Talmud gelernt. Über
Jahre habe ich so jüdische Studien betrieben, wusste aber nie, warum. Es hat
lange gedauert, bis ich mir eingestehen konnte, dass ich religiös bin.
Fromm?
Das weiß ich nicht. Ich
konnte nicht sagen: "Ich glaube an Gott."
Können Sie es jetzt
sagen?
Jetzt brauche ich es nicht
mehr zu sagen. Im Judentum geht es gar nicht um Glauben. Gott kannst du erleben,
und du entscheidest, ob du das willst. Jeder hat in sich eine göttliche
Dimension.
Dann sind Sie auch Gott?
Wie in jedem Menschen ist
auch in mir in der Tat ein göttlicher Funke. Es gibt den einen Gott aus dem
alles erschaffen ist, und das reflektiert sich in uns. Es ist ein dialogischer
Prozess. Du bist ja nie ganz Gott, du musst ihn suchen, auch in dir, das macht
das Dialogische aus.
Ist Ihr Gott mehr eine
Kraft, oder hat er personale Züge?
Er hat dialogische Züge. Ich
hatte schon sehr intensive Situationen in meinem Leben, Zufälle, die dann doch
keine Zufälle waren und die auch als Botschaften verstanden werden können.
Also sind Ihnen Engel
begegnet?
Boten.
Warum keine Engel?
Weil "Engel" christlich
kodiert und mit Bildern versehen sind. Kleine Putten mit Flügeln etwa. Aber
darum geht es nicht. Im jüdischen Verständnis sind Engel Boten. Es gibt
verschiedene Auslegungen dazu. Eine: Die Boten sind höhere geistige Stufen der
Erkenntnis.
Was muss eine Rabbinerin
wissen?
Sie muss die religiösen
Schriften aus 3.000 Jahren kennen. Die Urtexte, die Bibel, die Auslegungen dazu.
Sie muss mit dem Talmud und der jüdischen Rechtsliteratur umzugehen wissen.
Können Sie ein Beispiel
geben?
Heute werde ich oft gefragt,
wie das Judentum beispielsweise zu interkonfessionellen Partnerschaften oder zu
gleichgeschlechtlichen Ehen steht. Da wird von mir erwartet, dass ich erläutere,
wie die Themen Hochzeit und Ehe in den rabbinischen Schriften behandelt wurden.
Was gibt es dazu für Rechtsentscheidungen. Quer durch alle Strömungen, von jenen
der Reformer über die orthodoxen Auslegungen bis hin zu Talmud und Bibel. Daraus
entwickle ich dann meine Antwort.
Gleichgeschlechtliche
Liebe wird in den Büchern Moses stark verurteilt.
Es gibt Stellen, die so
gesehen werden: "Ein Mann, der mit einem anderen Mann wie mit einer Frau liegt,
begeht ein Gräuel." Man weiß jedoch nicht, worauf sich dieser Satz bezieht: Geht
es um Liebe, um eine Beziehung, um heidnisch-kultischen Sex? Das gab es ja
alles. Homosexualität gibt es in der Bibel eigentlich nicht als Thema. Im Talmud
auch nicht, was allerdings nicht heißt, dass es das grundsätzlich nicht gab,
denn der Hellenismus, der Homosexualität erlaubte, war in der Antike auch in
Israel groß in Mode.
War das ein wichtiges
Thema für Sie?
Für mich als Feministin, die
sich nicht als hetero oder lesbisch, dies oder das einordnen will, ist es ein
wichtiges Thema. Ich bin froh, dass es in meinem Rabbinatsstudium erwünscht war,
sich zu solchen Themen Gedanken zu machen.
Ist es die Aufgabe einer
Rabbinerin, Anweisungen zu geben?
Sie kann Entscheidungen
treffen, wie etwas gemacht wird, aber in ersten Linie ist sie Lehrerin. Das
ergibt sich aus dem Prinzip des Judentums. Die Hauptidee, die im Talmud
festgelegt ist, besagt, dass das Leben zu heiligen ist, und zwar in allen
Einzelheiten. Egal was man tut, was man isst, mit wem man Beziehungen hat. Immer
muss entschieden werden, ob ich das auf die profane Weise mache oder ob ich das
heilige. Idealtypisch obliegt jedem Juden, jeder Jüdin dieses Prinzip des
Heiligens. Das impliziert, dass alle immer entscheiden müssen, wie sie was tun.
Das klingt aufregend -
und anstrengend.
Es ist das Ideal. Die
orthodoxen Juden sagen, das muss man so machen. Ich bin nicht orthodox, aber ich
bin auch keine Reformjüdin im Sinne des 19. Jahrhunderts, für die große Teile
dieser Tradition obsolet sind. Ich habe in einer bestimmten Richtung studiert.
Renewal heißt sie, Erneuerung. Das schließt neue Zugänge zu traditionellen und
orthodoxen Themen ein.
Wie muss man sich das
vorstellen?
Ein Beispiel: Lange Zeit war
die Mikwe, das rituelle Tauchbad, in dem Frauen nach der Menstruation
untertauchen, im liberalen Judentum verpönt. Neuerdings gibt es Frauen, aber
auch Männer, die es für sich wieder entdecken und in dieses lebendige Wasser
eintauchen. Wasser ist in der jüdischen Auslegung auch ein Synonym für Torah,
die Lehre. Die Mikwe bietet demnach im Übertragenen ein Eintauchen in die Lehre.
Vor meiner Ordination bin ich in die Mikwe gegangen. Als ich jünger war, wäre es
für mich undenkbar gewesen. Das war aus meiner Sicht nur was für streng
orthodoxe Frauen.
Sie haben ein Buch über
Regina Jonas geschrieben, weltweit die erste Berliner Rabbinerin. Ist sie Ihr
Vorbild?
Sie ist meine geistige
Mentorin. Das Buch besteht aus zwei Teilen: der Biografie und ihrer
Streitschrift zur Frage: "Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?" Es ist
eine klassische rabbinische Abschlussarbeit. Durch Jonas habe ich die Systematik
rabbinischen Denkens gelernt. Als ich das Buch schrieb, war ich eineinhalb Jahre
wie im Rausch. Mit der Zeit wurde sie für mich immer präsenter. Irgendwann hatte
ich das Gefühl, dass sie mich fragt: "Und was ist mit dir? Ich hab dir gezeigt,
wie es geht, jetzt bist du dafür verantwortlich."
Also ist das eines der
Engel-Boten-Erlebnisse?
Man kann es als Einbildung
abtun, aber ich hatte auch andere Erlebnisse. Ich komme aus einer jüdischen
Familie, die seit 800 Jahren in Deutschland lebt. Bei meinem Studium bin ich auf
einen Talmud-Kommentator gestoßen, der mein Urahn ist. Danach habe ich nachts
von ihm geträumt. Er sagte mir: "Jetzt weißt du, warum dein Leben so kompliziert
ist." Den Traum kann man deuten, wie man will. Aber ich habe plötzlich
verstanden, warum ich in Deutschland lebe. Ich habe das große jüdische Erbe
gesehen, das mich mit dem Land verknüpft. Man braucht das Rabbinat deswegen aber
nicht so hoch zu hängen. Letztlich sind wir doch nur Lehrer.
Wenn es so einfach ist,
warum hat es dann Jahrzehnte gedauert, bis Frauen wieder Rabbinerinnen sind?
Historisch ist das eben ein
Riesenschritt. Als ich die erste Frau mit Tallit, dem Gebetsschal, gesehen habe,
war ich geschockt. Ich dachte, es ist Travestie, obwohl ich als Teenager schon
feministisch angehaucht war. Mir vorzustellen, ich werde mal Rabbinerin in
diesem Judentum, das so verhakt, so verkrustet, so traumatisiert ist, das war
ein mehrjähriger Prozess mit vielen Hürden.
Die Hindernisse waren
Geschichte und Geschlecht?
Und der Mangel an
traditioneller Bildung. In der Synagoge wusste ich ja gar nicht genau, was man
da macht.
Wie ist es mit der Frage,
ob man als Linke überhaupt an Gott glauben darf?
Ich würde mal sagen: Von der
taz zum Rabbinat das war eigentlich der direkte Weg. Es geht doch bei beiden um
Gerechtigkeit, um die Idee, dass alle Menschen gleiche Rechte haben. Die
Propheten bieten eine komplette Sozialkritik an, und das Judentum stellt jede
Hierarchie in Frage. Aus der ägyptischen Gefangenschaft in die Befreiung, diese
historische Katharsis, die wir mit dem Pessach-Fest feiern, impliziert, dass
jeder sich aus seiner Sklaverei befreit. Was immer das heute sein mag.
Jedenfalls sind das doch alles linke Themen. Im Unterschied zur taz-Haltung bin
ich allerdings für eine Religion der Stärke. Eine Welt muss sich wehren können
gegen Diktatoren. Deshalb war ich für den ersten Golfkrieg und auch für den
letzten Irakkrieg. Ich bin für ein tätiges Einschreiten gegen Ungerechtigkeiten.
Ich finde, viele Linke lügen sich da eins in die Tasche.
Machen Sie es sich nicht
zu einfach?
Nichtstun kann
Gleichgültigkeit sein. Ich bin für eine wehrhafte Religion, die die Menschen
befähigt, einschreiten zu können. Da ist das Judentum stärker als das, was wir
im Augenblick an linker säkularisierter Christentumkultur haben. Man hat Angst,
was falsch zu machen, aber man stiehlt sich auch aus der Verantwortung, lässt
schlimmste Sachen zu und wähnt sich moralisch auf der richtigen Seite.
Hat Ihr Plädoyer für ein
wehrhaftes Judentum etwas mit der Schoah zu tun?
Dass ich so denke, wie ich
denke, hat bestimmt etwas damit zu tun.
Ihr Rabbinat wird von
orthodoxen Juden nicht anerkannt. Stört Sie das?
Dass Orthodoxe mich
ablehnen, damit kann ich leben. Es verletzt mich aber, wenn ich von Leuten aus
den eigenen Reihen nicht akzeptiert werde. Nicht nur wegen des Studiums, weil es
so offen ist und neue Themen anregt, sondern weil auch mein ganzer Lebensweg
darin steckt.
Haben Sie solche
Reaktionen bekommen?
Von einigen ja. Ich glaube,
es hat was damit zu tun, dass ich als Frau aus der Reihe getanzt bin. Rabbinerin
zu sein heißt, sich zu exponieren und dem auch noch eine Form zu geben. Diese
Haltung ist mir aber nicht zugeflogen, ich musste sie mir erkämpfen.
Was wollen Sie als
Rabbinerin in Berlin erreichen?
Vor allem möchte ich eine
Verbindungen schaffen zwischen säkularem und religiösem Judentum. "Politische
Religion" ist ein weiteres Stichwort, das ich mit Leben füllen möchte.
Was meinen Sie damit?
Derzeit wird Judentum in
Deutschland doch meist nur als Synonym für Holocaust und Antisemitismus gefasst,
aber nicht als positives gesellschaftsgestaltendes Element. Warum wird die
jüdische Expertise bei Gesellschaftsfragen nicht hinzugezogen? In
parlamentarischen Ethikkommissionen etwa, haben da nicht auch Juden was zu
sagen? Oder profaner: Warum nimmt in Deutschland niemand die Feiertage der
nichtchristlichen Religionen wahr? Da fehlt doch was. Jom Kippur, Rosch
Haschana, das islamische Opferfest - wer weiß schon, wann die sind?
Meldet sich die
Politologin in Ihnen wieder zu Wort?
Religion ist nicht nur
Privatsache.