Die öffentliche
Debatte um die Rede des Abgeordneten Martin Hohmann gab eine eigentümliche
Blindstelle zu erkennen. Konzentriert auf den Vorwurf des Antisemitismus, wurde
der erste Teil der Rede übersehen, in dem sich Hohmann über das Anspruchsdenken
und die Pflichten der Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft äußerte. Was er hier
im Gewand der volkstümlichen Forderung, Gemeinnutz habe vor Eigennutz zu gehen,
formulierte, stammt tatsächlich aus dem Arsenal volksgemeinschaftlichen Denkens.
Und es steht im Rückblick auf den Verlauf der öffentlichen Auseinandersetzungen
zu befürchten, dass im Unterschied zum Antisemitismus, der in Deutschland
mittlerweile auf öffentlichen Widerspruch trifft, die Rhetorik der
Volksgemeinschaft hingegen kaum Anstoß erregt, ja sogar auf Zustimmung stößt.
"Wir wollen uns
über das Thema ,Gerechtigkeit für Deutschland', über unser Volk und seine etwas
schwierige Beziehung zu sich selbst einige Gedanken machen", mit diesen Worten
begann Hohmann seine Rede und präsentierte dem Auditorium drei Beispiele: den
Fall des so genannten Kalifen von Köln, der trotz Verurteilung nicht ausgewiesen
werden könne, weil ein deutsches Gericht deutsche Gesetze so auslege, dass
jener, so Hohmann wörtlich, "sich nicht zur Rückreise in die Türkei, sondern zum
weiteren Bezug deutscher Sozialhilfe gezwungen" sehe. Der zweite Fall betraf den
bekannten Sozialhilfeempfänger in Florida, über den Hohmann sich mit einer Verve
ausließ, die ironisch klingen sollte, deren Gehässigkeit jedoch unüberhörbar
war. Der dritte Fall führte Hohmann ins heimatliche Hessen, wo eine
Kreisverwaltung dazu "verdonnert" worden sei, einem 54-jährigen
Sozialhilfeempfänger das Potenzmittel Viagra nicht grundsätzlich zu verweigern.
Man könnte die
Klagen als populistisches Schüren von Sozialneid abtun, als das Lamento derer,
die, eigener Überzeugung gemäß stets zu kurz gekommen, für sich das Recht des
klandestinen Rechtsbruchs reklamieren, ganz persönliche "Wiedergutmachung"
beanspruchen und also ihre Steuererklärung fälschen, Versicherungen betrügen
oder mit anhaltender Lust die Straßenverkehrsordnung missachten. Vielleicht zog
der Fall von "Florida-Rolf" nicht deshalb so viel Empörung auf sich, weil er vom
allgemeinen Verhalten in eklatanter Weise abwich, sondern solche Praktiken
publik machte. Cosí fan tutte, aber bitte doch heimlich!
Allerdings ging es
Hohmann durchaus nicht um den Vorwurf der Regelverletzung, darum, dass man alles
tun könne, solange man sich nicht erwischen lasse. Er erhob die drei Fälle zu
anschaulichen Exempeln einer in seiner Sicht offenbar grundsätzlichen Malaise:
"Viele von Ihnen kennen ähnliche Beispiele, in denen der gewährende deutsche
Sozialstaat oder der viele Rechtswege eröffnende Rechtsstaat gnadenlos
ausgenutzt wird. Dabei hat der Einzelne, den man früher Schmarotzer genannt
hätte, in der Regel kein schlechtes Gewissen. Wohlmeinende Sozialpolitiker aller
Couleur haben das individuelle Anspruchsdenken kräftig gestärkt, man kann sogar
sagen verselbständigt. […] Wie viele Menschen in Deutschland klopfen ihre Pläne
und Taten auch darauf ab, ob sie nicht nur eigennützig, sondern auch
gemeinschaftsnützig sind, sie der Gemeinschaft nützen, ob sie unser Land
voranbringen?"
Da ist es heraus,
das hässliche Wort vom "Schmarotzer", wie man "früher" gesagt hätte! Martin
Hohmann argumentiert ja nicht, der Wohlfahrtsstaat sei aufgrund der ökonomischen
wie demografischen Entwicklung nicht mehr in der Lage, einstmals beschlossene
soziale Sicherungen weiterhin zu finanzieren, weshalb Reform wie Umbau der
Sozialsysteme unumgänglich seien.
Nein, Hohmann
bestreitet vielmehr das Recht, Recht in Anspruch zu nehmen. Unter seiner Hand
verwandelt sich das Recht eines Sozialhilfeempfängers auf Gleichbehandlung, das
Recht eines Angeklagten auf Verteidigung und umfassende, unparteiische Prüfung
seines Falls in "gnadenlosen" Missbrauch des Rechtsstaates, ohne dass Hohmann
bereits an dieser Stelle seiner Intervention kenntlich machte, wie denn der
pflichtbewusste Bürger vom "Schmarotzer" zu trennen wäre. Recht soll, das
jedenfalls ist klar, nicht mehr für alle gleichermaßen und ohne Ansehen der
Person gelten, sondern nach anderen, augenscheinlich "gemeinschaftsnützigen"
Kriterien gehandhabt werden. Nur, wer der Gemeinschaft nützt, wer "unser Land
voranbringt", soll künftig auf Hilfe und Rechtsschutz hoffen dürfen.
Der Begriff des
bonum commune, des "gemeinen Wohls", ist ebenso alt wie ehrwürdig. In der
katholischen Soziallehre reicht das Gemeinwohlkonzept bis auf den Kirchenvater
Thomas von Aquin zurück, in etlichen Länderverfassungen ist es verankert, und
auch das Grundgesetz unterstreicht die Sozialbindung des Eigentums. Freilich
sind für katholische Begriffe und den christlichen Universalismus generell alle
Menschen gleich vor Gott, über ihren Wert oder Unwert wird auch nicht auf Erden,
sondern erst am Tage des Jüngsten Gerichts von Gott höchstselbst geurteilt.
In einer solchen
katholischen, im Wortsinne: allgemein-umfassenden Perspektive denkt der
christdemokratische Bundestagsabgeordnete Hohmann allerdings nicht, denn seine
Vorstellung vom Gemeinwohl orientiert sich am Nettonutzen des Einzelnen für die
Gesellschaft als Ganzes. Damit knüpft er unausgesprochen an eine andere,
namentlich utilitaristische Tradition an, die das "gemeine Wohl" in bestimmten
Versionen partikularisiert, also nur ausgewählten Menschen zukommen lassen will.
Einer solchen
Deutung entsprechend war es keineswegs abwegig, dass auch das
nationalsozialistische Parteiprogramm im Februar 1920 den Satz "Gemeinnutz geht
vor Eigennutz" aufnahm: "Erste Pflicht jedes Staatsbürgers", hieß es unter Punkt
10, "muß sein, geistig oder körperlich zu schaffen. Die Tätigkeit des einzelnen
darf nicht gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen, sondern muß im
Rahmen des Gesamten und zum Nutzen aller erfolgen", und dann unter Punkt 24: Die
NSDAP "bekämpft den jüdisch-materialistischen Geist in und außer uns und ist
überzeugt, daß eine dauernde Genesung unseres Volkes nur erfolgen kann von innen
heraus auf der Grundlage: Gemeinnutz geht vor Eigennutz".
Zwar hatten auch
die übrigen Parteien der Weimarer Republik die Parole "Gemeinnutz geht vor
Eigennutz" in ihre Programme geschrieben, aber die NSDAP vermochte sie besonders
wirksam zu vertreten, da sie sich im Unterschied zu den Liberalen,
Konservativen, Katholiken und Sozialisten mit keiner Klientel verband, sich
vielmehr als "junge", klassenübergreifende "Volkspartei" präsentierte, die nicht
Einzelinteressen repräsentieren wollte, sondern die ganze "Volksgemeinschaft".
"Gemeinnutz geht vor Eigennutz" geriet nach 1933 in den Worten des
Staatssekretärs der Reichskanzlei, Dr. jur. Hans-Heinrich Lammers, zum "das
gesamte Leben des Volkes beherrschende, alles umfassende und daher von der
Staatsführung in den Vordergrund gestellte Glaubensbekenntnis des
Nationalsozialismus".
Die
Nationalsozialisten begriffen rasch - und das unterschied ihren Standpunkt
fundamental von katholischen oder sozialdemokratischen Sozialtheoretikern -,
dass sich mit der griffigen Formel "Gemeinnutz geht vor Eigennutz" der
Rechtsstaat aushebeln ließ. Kraft dieses Satzes konnte die Trennung von privatem
und öffentlichem Recht, damit zugleich auch der Schutz der Privatsphäre vor
staatlichem Zugriff aufgehoben werden. Unter dem Gemeinwohlpostulat galten
individuelle Rechte als eigennützig und wurden zugunsten der "Volksgemeinschaft"
zurückgeschnitten.
Zugleich konnten
neue rassistische Grenzen zwischen vormals gleich zu behandelnden Staatsbürgern
errichtet werden. Nur wer zur "Volksgemeinschaft" zählte, durfte am "Gemeinwohl"
teilhaben. Anders als die liberalen und demokratischen Parteien der Weimarer
Republik, die den Begriff der "Volksgemeinschaft" ebenfalls im Munde führten,
damit aber eine klassenversöhnlerische, sozial nivellierende, politisch
inkludierende Vorstellung verbanden, war der Begriff auf der Rechten vor allem
durch eine Praxis der Exklusion bestimmt. Weniger die Frage, wer zur
"Volksgemeinschaft" gehörte, beschäftigte die Nationalsozialisten, als vielmehr
diejenige, wer nicht zu ihr zählte, allen voran die Juden.
"Der Vorstellung,
daß die Gemeinschaft alleinige Quelle des Rechts sei", schrieb Ernst Fraenkel in
"The Dual State", seiner 1941 in den USA veröffentlichten Analyse des
NS-Regimes, "entspricht die Lehre, daß es außerhalb der Gemeinschaft kein Recht
geben könne". Und seinen Befund präzisierend, fährt der in die Emigration
gezwungene Rechtswissenschaftler fort: "Wer außerhalb der Gemeinschaft steht,
ist der wirkliche oder potentielle Feind. Innerhalb der Gemeinschaft gelten
Friede, Ordnung und Recht. Außerhalb der Gemeinschaft gelten Macht, Kampf und
Vernichtung."
Damit schließt sich
der Kreis zum Bundestagsabgeordneten Hohmann. "Gerechtigkeit" soll nach dessen
Geschmack eben nur für "Deutsche" gelten und unter ihnen nicht für
"Schmarotzer", sondern für den Kreis der "pflichtbewussten" Deutschen. Noch
herrscht hierzulande ein anderes Rechtsverständnis, denn, so Martin Hohmann:
"Wer seine staatsbürgerlichen Pflichten erfüllt, fleißig arbeitet und Kinder
großzieht, kann dafür in Deutschland kein Lob erwarten, im Gegenteil, er fühlt
sich eher als der Dumme. Bei ihm nämlich kann der chronisch klamme Staat seine
leeren Kassen auffüllen." Mehr noch: "Leider, meine Damen und Herren, kann ich
den Verdacht, dass man als Deutscher in Deutschland keine Vorzugsbehandlung
genießt, nicht entkräften."
Durch drei Anfragen
an die Bundesregierung suchte Hohmann seinen "Verdacht" zu erhärten: Ob die
Bundesregierung angesichts der Entwicklung der öffentlichen Haushalte ihre
Zahlungen an die Europäische Union einschränken werde? Ob sie sich, nachdem sie
Milliarden Euro Entschädigung an ausländische Zwangsarbeiter gezahlt habe, nun
auch für deutsche Zwangsarbeiter einsetzen werde? Und ob die Bundesregierung
angesichts sinkender Steuereinnahmen ihre Entschädigungszahlungen an "vor allem
jüdische Opfer des Nationalsozialismus", wie Hohmann eigens hervorhebt,
reduzieren werde?
Selbstverständlich
hat die Bundesregierung sämtliche Fragen verneint bzw. ihre kaum verhüllte
agitatorische Intention zurückgewiesen, was Hohmann zu dem von vornherein
feststehenden Resümee führte: "Mich haben diese Antworten nachdenklich gemacht
und sie bestätigen die in unserem Land weit verbreitete Anschauung: Erst kommen
die anderen, dann wir. Überspitzt gesagt: Hauptsache, die deutschen Zahlungen
gehen auf Auslandskonten pünktlich und ungeschmälert ein. Dafür müssen die
Deutschen den Gürtel halt noch ein wenig enger schnallen."
Damit legt Hohmann
endlich die Kriterien seiner Unterscheidung zwischen pflichtbewussten
Staatsbürgern und "Schmarotzern" offen, die er zunächst im Unklaren gelassen
hatte. Die erste Unterscheidung trennt zwischen "Ausländern" und "Deutschen",
wobei Hohmann erneut leugnet, dass jüdische Staatsbürger des Deutschen Reiches,
die vom Staat verfolgt, beraubt und vertrieben wurden und glücklicherweise
überlebten, das Recht auf Entschädigung besitzen. Auch bestreitet er Ausländern,
die ihre Freiheit einbüßten, zur Arbeit gezwungen, unter elenden Bedingungen
festgehalten und um ihren rechtmäßigen Lohn geprellt wurden, das bürgerliche
Recht auf Schadenersatz.
Dass sich die Höhe
der Entschädigung nicht nach dem Schaden, sondern nach der aktuellen
Zahlungskräftigkeit des Schuldners richten soll, offenbart schließlich auf
geradezu infame Weise Hohmanns verdrehtes Rechtsverständnis.
Die zweite
Differenz betrifft die deutsche "Volksgemeinschaft" selbst, in der zwischen
denjenigen, die "fleißig arbeiten und Kinder großziehen" auf der einen Seite und
den "Arbeitsscheuen" und "Schmarotzern", wie man "früher" gesagt hätte, auf der
anderen Seite unterschieden wird. Hohmann zieht scharfe Grenzen, unterteilt die
Bürger in Gemeinschaften diesseits und jenseits des Rechts. Den einen mag
"Viagra" zustehen, den anderen bestimmt nicht; die einen dürfen sich als
"Deutsche" der Staatshilfe erfreuen, für die anderen ist sie an den Ort
gebunden, wo sie sich aufhalten; für die einen gilt der rechtliche Schutz des
Individuums, für die anderen nicht.
Was Hohmann hier
propagiert, ist nichts anderes als die Ethnifizierung und Utilitarisierung des
Rechts. Allein Deutsche und unter ihnen nur die Arbeitswilligen und Fruchtbaren
dürfen seinem Blickwinkel zufolge am "Gemeinwohl" teilhaben, nur für sie soll
Recht gelten. Von den Prinzipien des bundesrepublikanischen Grundgesetzes hat
sich diese Rede weit entfernt. Sie ist nicht allein antisemitisch, sondern gegen
Rechtsgleichheit und Rechtsstaatlichkeit überhaupt gerichtet.
Ganz unverhohlen
fordert MdB Hohmann die Rückkehr der Volksgemeinschaft.
Es handelt sich hier um eine gekürzte Fassung eines Essays, der in der aktuellen
Ausgabe der Zeitschrift "Mittelweg
36" erscheint. Michael Wildt ist Historiker und
wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung. Von
ihm ist 2002 in der Hamburger Edition erschienen: "Generation des Unbedingten.
Das Führerkorps des Reichssicherheitshauptamtes".
Hintergrund >> Martin Hohmann:
"Ein Mann für Deutschland"
Am 3.Oktober hält der CDU Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann in seinem Fuldaer
Wahlkreis eine Rede zum Nationalfeiertag. Der Titel der Rede: "Gerechtigkeit für
Deutschland".
Nachdem er die
Stimmung mit populistischen Sprüchen über vermeintliche "Schmarotzer" angeheizt
hat, greift er die Bundesregierung an, da diese keine Bereitschaft zeige die
Entschädigungszahlungen für Überlebende des NS-Terrors einzuschränken. Danach
ergießen sich ausführliche und blutrünstige Schilderungen angeblicher Untaten
"jüdischer Bolschewisten" über das versammelte Publikum.