Nachkriegsgeschichte:
Die Flucht ins Schweigen
Ein weiterer Beitrag zur Debatte um die einstige
NSDAP-Mitgliedschaft der Nachkriegsgermanistik...
Willi Winkler
Im Jahr 1953, der
Krieg und die berühmten "dunklen Jahre" lagen nun schon etwas zurück, beschloss
der Rat im niedersächsischen Stadtoldendorf, die Unterlagen über die
Parteimitgliedschaft seiner Mitglieder der reinigenden Flamme des kommunalen
Gaswerks zu übergeben. Was gestern Recht war, sollte heute keinem mehr zum
Unrecht ausschlagen, und mit diesem Programm des "kollektiven Beschweigens", wie
es Hermann Lübbe einmal genannt hat, gelang nicht nur im kleinen Stadtoldendorf,
sondern in ganz Westdeutschland das Wirtschaftswunder und der Wiederaufstieg in
der Welt. 1954 wurden alle NS-Täter weitgehend amnestiert, denn stolz, ein
Deutscher zu sein, konnte nur der sein, der nicht ständig mit dieser
Vergangenheit belästigt wurde.
Der Preis für das
kollektive Vergessen schien nicht übertrieben hoch: Mangels besserer Kräfte
führten die Parteigenossen des "Dritten Reiches" die Geschäfte der
Bundesrepublik Deutschland weiter, die besten Männer der Wehrmacht bauten die
Bundeswehr auf, die zweifellos gerechten Richter der Nazizeit sprachen auch in
der Bundesrepublik Recht. Das zerrissene Volk fand wieder zusammen, und sei´s
durch den Wahlkämpfer Konrad Adenauer, der dem Emigranten Willy Brandt
"Landesverrat" vorwarf. Wäre nicht der Frankfurter Generalstaatsanwalt Leo Bauer
gewesen, hätte nicht die DDR aus einschlägig ideologischem Interesse unermüdlich
gegen die ehemaligen Nazis in der westdeutschen Justiz und Verwaltung gewühlt,
es wäre beim einträchtigen Schweigen geblieben.
Umso überraschender
das vorweihnachtlichen Kinderstaunen darüber, dass selbst die Germanistik-Heroen
der Nachkriegszeit der Zeit davor inniger verbunden waren, als man bisher
glaubte. Nicht nur ein Dichter wie Gottfried Benn verschrieb sich 1933 mit Leib
und Leben dem Nationalsozialismus, nicht nur ein Philosoph wie Martin Heidegger
bebte vor Erregung ob der neuen Zeit, auch die Deutsche Philologie hatte ihre
Mitläufer. Das Internationale Germanistenlexikon 1800 -1950 weist bei einer
Reihe von illustren Ordinarien die NSDAP-Mitgliedschaft nach. Weil so was immer
geht, hat der Spiegel aus der NSDAP-Nummer bei Walter Jens, Peter Wapnewski und
Walter Höllerer gleich den moralischen Vorwurf konstruiert, sie hätten sich "den
braunen Machthabern angedient".
Jens, Höllerer,
Wapnewski sind mit dem "Dritten Reich" aufgewachsen; für sie - Walter Jens hat
in einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung darauf hingewiesen - gab es
nichts anderes als die Schmährede von der "entarteten Literatur". Das zu
begreifen, fällt den Jüngeren offenbar schwer. In einem Aufsatz für die
Frankfurter Hefte bat der KZ-Überlebende Eugen Kogon schon 1947 um klare
Verhältnisse: "Es ist nicht Schuld, sich politisch geirrt zu haben. Verbrechen
zu verüben oder an ihnen teilzunehmen, wäre es auch nur durch Duldung, ist
Schuld." Die NSDAP-Mitgliedschaft der in den 20-er Jahren geborenen späteren
Professoren (und man kann Martin Broszat hinzuzählen, den Leiter des Münchner
Instituts für Zeitgeschichte) reicht nicht als Beweis irgendeiner Schuld.
Bei einer
Diskussion über die Literatur der sogenannten "Inneren Emigration" hat Günter
Grass einmal auf die wichtigste Lebenslüge der Bundesrepublik hingewiesen: die
Stunde Null. "Ein fragwürdiger Glücksfall, mein Jahrgang 1927, verbietet mir
letzte, den Stab brechende Worte. Ich war zu jung, um ernsthaft geprüft werden
zu können." Wäre er zehn Jahre älter gewesen, er hätte "zwanglos die
Kapitulation, die angebliche Stunde Null überbrücken und mich der neuen, kargen,
kalorienarmen, der pazifistischen bis antifaschistischen Inhalte annehmen
können; wie es geschehen ist laut tausend und mehr Biografien".
Dieses Glück blieb
einem jungen, aufstrebenden Germanisten namens Benno von Wiese versagt. Wie
Benn, wie Heidegger bemühte auch er sich 1933 um einen Platz an der neuen Sonne:
"Die deutsche Hochschule gehört nach Lehre, Unterricht, Forschung und Verwaltung
den Deutschstämmigen, das heißt all denen, die dem natürlichen Lebensraum und
der räumlich-geschichtlichen Welt deutscher Nation blutsmäßig entstammen." Die
neuen Machthaber folgten dem Germanisten aufs Wort: Die Juden wurden sofort aus
den Universitäten vertrieben, karrierebewusste junge Männer wie von Wiese
folgten ihnen nach und lieferten die scheinwissenschaftliche Begründung dafür
nach. Da Wissenschaft aber nicht alles ist, trat Benno von Wiese im April 1933
auch noch in die NSDAP ein.
Anders verhält es
sich mit der Generation davor, die sich 1933 dem NS-System in die Arme warf und
die sogenannte "Deutschwissenschaft" so gründlich aufnordete, wie´s das Amt
Rosenberg grad verlangte. Die Herren von Wiese, Fricke, Pyritz, Martini et. al.
haben das "Dritte Reich", dem sie mehr oder minder leidenschaftlich gedient
hatten, überlebt und durften anschließend ohne größere Beschwer die
Nachkriegsgermanistik aufbauen. Beim Einmarsch hatten die Amerikaner in einer
Münchner Papierfabrik die NSDAP-Mitgliederkartei gefunden. Sie wurde im Berliner
Document Center aufbewahrt, sollte aber keinem groß schaden. Den akademischen
Mitgliedern jedenfalls geschah kein Leids.
Zwar hatte Thomas
Mann über alle im "Dritten Reich" erschienenen Bücher geurteilt: "Ein Geruch von
Blut und Schande haftet ihnen an", doch die zwischen 1933 und 1945 gepflogene
"Innere Emigration" bewährte sich als geistige und literarische Lebensform bis
Anfang der sechziger Jahre. Eine Auseinandersetzung fand lieber nicht statt.
Statt dessen gab es ja die legendäre Stunde Null. Auch Karl Otto Conrady,
Jahrgang 1926, ein Schüler Benno von Wieses, bot die Kunst einen Fluchtort, weil
sie einen "genussvollen Aufenthalt in der Sphäre des Schönen" erlaubte. Von
Wolfgang Kasacks Stadt hinter dem Strom bis Wilhelm Lehmanns Naturgedichten
regierten in der Literatur Allegorisierung und möglichste Zeitferne. Passend
dazu versenkte sich die Literaturwissenschaft leidenschaftlich in die Kunst der
werkimmanenten Interpretation, ein, wieder Conrady, "probates Mittel zur Flucht
aus den faschistischen Verstrickungen der jüngsten Vergangenheit".
Die Germanistik
hatte so wenig wie das ganze neue Deutschland ein Interesse daran, sich mit der
kaum vergangenen Vergangenheit auseinander zu setzen. Man sprach über Kunst, und
schloss das Schweigen über so viele Untaten ins politische Nachtgebet ein. In
seinem kulturpessimistischen Werk Die deutsche Katastrophe bot der große
Historiker Friedrich Meinecke 1946 den Ausweg aus dem Chaos der Gegenwart und
den, nun ja, Irrtümern der Vergangenheit an; es war, wie immer, der Weg nach
Innen: "Auf eine Verinnerlichung unseres Daseins kommt heute alles, alles an."
Und damit sich ja nicht alles wende, "siedelte man sich", wie es Conrady
selbstkritisch formuliert, "in der vermeintlich unabhängigen Zone des
Ästhetischen, des sprachlichen Kunstwerks an oder besorgte Literaturgeschichte
allein als Geschichte der Literatur und des Geistes". Je geistiger, desto
geheimnisvoller, desto unverfänglicher. "Tiefsinnige Gedankendichtung von der
Art der Goetheschen und Schillerschen sind vielleicht das Deutscheste vom
Deutschen in unserem gesamten Schrifttum. Wer sich ganz in sie versenkt, wird in
allem Unglück unseres Vaterlandes und inmitten der Zerstörung etwas
Unzerstörbares, einen deutschen character indelebilis spüren." (Friedrich
Meinecke) Ein schönes, ein Programm auf der Höhe der Zeit: Statt Zerstörung
Versenkung, und gegen das Unglück ganz viel Tiefsinn. Aber Peter Szondi (nicht
in der Partei, sondern 1944 nach Bergen-Belsen verschleppt) galt als Roter, weil
er die Meinung vertrat, dass "der Humanitätsbegriff kein Ersatz ist für die
Demokratisierung der Gesellschaft".
Wie weit es damit
während der Regentschaft der Alt-Germanisten her war, durfte der stud. phil.
Peter Rühmkorf 1957 erleben. Rühmkorf studierte in den fünfziger Jahren an der
Universität Hamburg beim berühmten Barock-Forscher Hans Pyritz. Der war bereits
1933 in die SA eingetreten, tat vom folgenden Jahr an Dienst im "Amt für
Reichsschrifttumspflege", beantragte 1941 die Aufnahme in die NSDAP, die ihn am
15. Juni 1942 zu sich holte. In Berlin wurde er deswegen 1945 entlassen, aber
1947 konnte er sich bereits wieder als Professor entfalten, 1950 war er
Ordinarius. Pyritz stellte, so Rühmkorf in seinen Erinnerungen Die Jahre, die
ihr kennt (1973), "gelegentlich einer Anwesenheitserhebung im Oberseminar die
Abwesenheit des Chinareisenden Rühmkorf" fest und ließ ihn nach seiner Rückkehr
"programmgemäß durch das bereits vorpräparierte Sieb" fallen. Für den Studenten
bedeutete das den "sicheren Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte und - nicht nur
ideelle - Existenzgefährdung". Der autoritäre Charakter hat immer Recht.
So schön die
Legende vom Neubeginn nach 1945 klingt, manchmal muss man die Wahrheit drucken:
Es gab keine Stunde Null. Fritz Martini (Parteimitglied seit 1933) passte seine
vielgelesene Deutsche Literaturgeschichte (zuerst 1949; heute in der 15. und
natürlich vielfach bearbeiteten Auflage) der jeweils neuesten Zeit an. In der 2.
Auflage von 1950 dröhnt es kaum leiser als eineinhalb Jahrzehnte zuvor bei Adolf
Bartels, wenn von "Schuld und Tragik, die im Schicksal des eigenen Volkes
liegt", geraunt wird und die "schwersten Jahrzehnte deutscher Geschichte"
beschworen werden. Elisabeth Frenzel war, das betont das Germanistenlexikon,
nicht in der Partei. Sie promovierte 1940 über Die Gestalt des Juden auf der
neueren deutschen Bühne und trug nach dem Krieg die ständig überarbeiteten Daten
deutscher Dichtung (Erstausgabe 1953; heute in der 30. beziehungsweise 32.
Auflage) zusammen, in denen, bei den halbwegs modernistischen Fünfzigern, zwar
nicht mehr von "entarteter Kunst", aber doch vom "Abbild, Zerrbild, Vexierbild"
die Rede ist.
In der Zeitung,
nicht an der Universität, wurde schließlich die Frage nach der Geschichte der
Germanistik aufgeworfen. Es war die Zeit, und dort vor allem eine 1964
erschienene Polemik von Walter Boehlich, die der deutschesten aller
Wissenschaften zuzusetzen verstand. Conrady berichtet, dass er einmal den
älteren Kollegen Fritz Martini um Aufklärung über dessen NS-Vergangenheit bat.
Martini brach den Briefwechsel sofort ab. Benno von Wiese verschanzte sich
hinter dem bewährten Nichts, das sei damals eine "sehr komplexe Einheit" gewesen
und außerdem habe man Schlimmeres verhüten wollen. Auf dem Münchner
Germanistentag 1966 versuchten die Jüngeren schließlich die Vätergeneration zum
Reden zu bringen. Viel zu hören gab es nicht. Erst 1972 wurde im Marbacher
Literaturarchiv die "Arbeitsstelle für die Erforschung der Geschichte der
Germanistik" eingerichtet, die jetzt immerhin das Germanistenlexikon
herausgebracht hat.
Wenn man der
Generation von Jens, Höllerer, Wapnewski, Albrecht Schöne und Eberhard Lämmert
etwas vorwerfen kann, dann ist es ihre Bereitschaft, den alten Herren so lange
widerspruchslos zu folgen, bis man selber endlich einen Lehrstuhl erklommen
hatte. Für den Sammelband Ansichten einer künftigen Germanistik lieferte der
Schriftsteller Herbert Heckmann 1969 den "Lebenslauf eines Germanisten in
aufsteigender Linie", der in dem ewiggültigen Fazit schloss: "Es bestand kein
Zweifel, er war nun ein Vollblutgermanist, in langer Affirmation gestählt, jetzt
selbst nur Affirmation heischend." Der Vatermord, den die Jüngeren versuchten,
fand dann lieber doch nicht statt, die alten Fürsten wurden mit allerlei
Festschriften und weihrauchverhangenen Grußbotschaften ins Emeritat begleitet.
Vereinzelte Dissertationen entstanden im Umfeld von Lehrstühlen, auf den früher
die Alt-Ordinarien nach Gutsherrenart gewirkt hatten. Sonst geschah: nichts.
Conradys enttäuschtes Fazit: "Noch zwanzig Jahre nach Kriegsende Flucht ins
Schweigen."
Es ist eher
zweifelhaft, ob das Schweigen jetzt aufhört. Der nächste Germanistentag soll
wieder in München stattfinden. Vermutlich wird man dann einen längst verwehten
Ortsgeist beschwören, denn man will sich nostalgisch der so kurzen
Selbstbefragung des Fachs widmen. Danach, das lässt sich schon jetzt
vorhersagen, geht die Wissenschaft weiter ihren trägen, deutschen Gang. Zu sehr
ist die jeweils nachwachsende Akademiker-Generation darauf angewiesen, sich mit
der vorigen ins rechte Benehmen zu setzen. Der Germanist Joachim Dyck, Professor
in Oldenburg, hat es in der Welt mit wünschenswerter Deutlichkeit formuliert:
"Die Universität war und ist eine Bürokratie, die von ihren Mitgliedern, wollen
sie ein einigermaßen ruhiges Leben führen, auch heute ein gerüttelt Maß an
Anpassung verlangt." Das hat mit Politik wenig, aber viel mit Taktik zu tun.
Opportunismus ist auch kein Charakterfehler, sondern die deutsche
Nationaltugend. Wer schwieg, musste nicht notwendig zustimmen, kam aber immer
eins rauf.
Der gescheiterte
Germanist Rühmkorf hat die Aufregung über das Internationale Germanistenlexikon
deshalb "herzlich begrüßt" (als wär´s noch die späte Rache der Universität,
fehlt er in der Liste der Pyritz-Schüler). Auf Nachfrage erwähnt Rühmkorf das
Hörensagen von einem Gipfeltreffen der alten und der neuen Generation. Danach
habe Hans Magnus Enzensberger (wie Rühmkorf Jahrgang 1929) dem Großgermanisten
Benno von Wiese (Jahrgang 1903) "kritisch auf den Pelz rücken" wollen, wurde
"aber von dem riesendicken Kerl so herzlich an die Brust gezogen, dass es dem
Kritiker prompt die Puste verschlug".
Doch muss man gerecht sein: Das Modell Bundesrepublik wäre nie so erfolgreich
gewesen, wenn man sich nicht auf die Filbinger-Formel verständigt hätte: Was
gestern Recht war, kann heute nur gut sein. Der Rest ist immer noch Schweigen.
Der Freitag
Der Freitag Nummer 11 vom 05.03.2004
kt /
hagalil.com
/ 2004-03-05
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