Mir gefiel die Idee, diesen Film mit einem
deutschen Regisseur zu machen, auch wegen der Spannung, die sich aus dieser
Situation ergibt«, verrät der Produzent von »Supertex«, Haig Balian, in einem
Interview, das sich im Presseheft zum Film findet. »Die Deutschen leben immer
noch mit ihren Schuldgefühlen. Auch die Generationen, die erst nach dem Krieg
geboren wurden. Wenn man sieht, auf welche Weise sich Europa derzeit verändert,
sollte man sich von solchen Gefühlen allmählich lösen«, glaubt der gebürtige
Niederländer mit einem armenischen Vater, der heute zu Europas renommierten
Independent-Produzenten zählt.
Der Regisseur von »Supertex«, Jan Schütte, ist
da schon zurückhaltender. »Es gibt natürlich viele Punkte, an denen man
vorsichtig sein muss, vor allem als Deutscher, der einen Film über eine
jüdisch-holländische Familie macht.«
Bleibt noch der mehrfach preisgekrönte Autor
der gleichnamigen Buchvorlage zu »Supertex«, Leon de Winter. »Leon meint immer,
der Jan ist ein richtiger Goi«, referiert ihn Schütte freudig, »und den hat es
auch gebraucht, damit der Film nicht vor Klischees trieft. Eine interessante
Sichtweise.«
Sollte er das wirklich so gesagt haben, hätte
de Winter einen Preis für Diplomatie verdient. Denn Schüttes Film ist
tatsächlich eine Ansammlung von Klischees.
Es geht um eine jüdische Familie im heutigen
Amsterdam. Der Vater Simon Breslauer (Jan Decleir), Gebieter über das
florierende Unternehmen für Billigkleidung »Supertex«, hat das KZ überlebt. Sein
Geschäft schuf er aus dem Nichts. »Meine Schule war die Straße«, sagt Simon, der
seinen Kindern eine teure Ausbildung bezahlt hat und nun im Alter fürchtet,
seine Bücher lesenden Jungs vom Gymnasium könnten nicht das Zeug haben, seine
Erfolgsgeschichte fortzuschreiben.
»Wie soll man das übertreffen«, mault sein
ältester Sohn Max (Stephen Mangan) schon in der ersten Szene des Films aus dem
Off. Gegenüber diesem übermächtigen Vater, der die Shoah überlebte und von
diesem absoluten Nullpunkt aus wie selbstverständlich zum reichen Selfmademan
avancierte, hat er mit seinen universitär geschulten Marktforschungstipps nichts
zu melden. Max ist ein 33jähriger Yuppie, verwöhnt und egoistisch. Er rast mit
einem silbernen Porsche durch die Gassen Amsterdams. Ein Suchender, ein
verlorener Sohn. Erst nachdem sein Vater nach einem Herzinfarkt gestorben ist,
wird Max am Ende doch noch der fröhlich lachende, zupackende Geschäftsmann, den
sich Papa immer gewünscht hat.
»Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin will ich
gehen?« Es ist allen Ernstes diese abgedroschene Weltschmerzformel, die sowohl
der Regisseur als auch der Produzent zur Charakterisierung des Filmthemas
favorisieren. Jüdische Identitätssuche als Melodram: Max‘ Freundin Esther
(Meital Barda) findet in Israel zu sich selbst, und sein kleiner Bruder Boy
(Elliot Levey) bleibt am Ende in der Medina des marokkanischen Casablanca
hängen. Dort findet er in einer ärmlichen jüdischen Familie sein Glück. Mit
schwarzem Hut und Vollbart verlässt er schweigend die Familie, um zu den
einfachen Wurzeln des Glaubens zurückzukehren und in der jüdischen Tradition
seinen persönlichen Frieden zu finden.
Irgendwie ist das alles so, wie es sich die
Leute hierzulande schon immer vorgestellt haben: Diese Juden haben viel Geld,
reden aufgeregt durcheinander und irren auf der Suche nach ihrem verlorenen
Selbst verzweifelt und rastlos auf der ganzen Welt umher. Und in Sachen Sex
lassen sie auch nichts anbrennen: Simon hält sich noch im hohen Alter die
hübsche blonde Polin Maria (Ana Geislerovà) als Geliebte. In der streng
patriarchal strukturierten Familie hat daran auch kaum jemand irgendetwas
auszusetzen, außer Max – aber daran ist dann wohl der Ödipus-Komplex schuld.
Denn kaum liegt Simon im Sterben, wälzen sich auch schon Max und Maria auf dem
Bett.
Immerhin haben an diesem Film viele gute Leute
mitgearbeitet. Edward Klosinski zum Beispiel. Der polnische Kameramann, der u.a.
schon von Stars wie Krzysztof Kieslowski und Lars von Trier engagiert wurde,
taucht das Dekor der Innenräume in geschmackvolle Rot-, Gelb- und Brauntöne.
Draußen regnet es dagegen dauernd. Sogar in Casablanca scheint kaum die Sonne.
Zbigniew Preisner, Polens führender Filmmusikkomponist, unterlegt dieses
erlesene Kontrastspiel der Farben stilecht mit schüchternem, perlendem
Pianogetaste.
Doch wirkliche Melancholie oder anrührende
Gefühle möchten sich in dieser angeblichen filmischen Auslotung seelischer
Untiefen einfach nicht einstellen. »Trauer, Verzweiflung und Liebe – ausgelebt
bis zur Neige«, verspricht der Pressetext, »mit einer Träne im Auge, Wut im
Bauch und einem selbstironischen Lachen auf den Lippen«. Von einem
»Mittdreißiger in der Identitätskrise« (Max) soll hier erzählt werden, ja gar
»vom Getriebensein des modernen Menschen«. »Pralle Lebenslust und der Schmerz
einer Reise ins Ich verbinden sich zu einem witzigen und humorvollen Reigen.«
Das klingt nach einer Melange aus
Courts-Mahler, Rosamunde Pilcher und Judith Hermann. Nur dass hier alle naslang
ein jiddisches Bonmot zitiert und prompt von irgendeinem herumstehenden Akteur
hölzern übersetzt wird, um eine behutsam dokumentierte Authentizität jüdischen
Familienlebens zu suggerieren, die der Zuschauer auch bloß verstehen soll. Alles
bleibt im konsumierbaren Rahmen – ohne Irritationen und ohne schmerzliche
Erinnerungen an die leidensvolle Vergangenheit des Vaters. Passend zu diesem
abgeschmackten Wohlfühlkino spricht in der Synchronfassung ausgerechnet Ulrich
Matthes den Hauptdarsteller Max – die raunende Schongang-Stimme des deutschen
Selbstfindungskinos schlechthin.
Jan Schütte hätte besser die Finger von dem
Projekt gelassen. Sich mit melodramatischer Verve in die »jüdische Seele« zu
versetzen, ohne auch nur den blassesten Schimmer von der historischen Fallhöhe
dieses Unterfangens zu haben, muss scheitern.
In diesem Fall ist handwerklich gekonnter
Hochglanz-Kitsch daraus geworden. Doch genau der ist wohl fehl am Platze, wenn
man von der Grundfrage ausgeht, wie heute ein »sehr säkularer Jude mit der ihm
vorgegebenen Situation und der Welt umgehen« könne (Schütte). Eine Beantwortung
dieser Frage findet man wohl eher beim Studium der Tageszeitungen als in
Schüttes geschmäcklerischem Film. Diese versöhnliche Inszenierung modernen
jüdischen Familienlebens könnte dem deutschen Publikum so passen.
Vor lauter warmen Pastellfarben sehnt man sich
dringend nach schwarzen Wänden und kaltem Neonlicht, wenn man das Kino verlässt.
»Supertex – Eine Stunde im Paradies« (D, NL 2003) R: Jan Schütte. Start: 11.
März 2004