Antisemitismus in der Türkei :
»Belagert und bedroht«
Sie bezeichnen den Antisemitismus als »das bestgehütete
Geheimnis der Türkei«. Wie reagiert das Land auf einen, der sich in den letzten
Jahren alle Mühe gegeben hat, dieses Geheimnis preiszugeben...
Interview: Deniz Yücel
So gut wie gar nicht. Ich werde ignoriert. Oder es
heißt, die Probleme, die ich anspreche, seien die Probleme eines Juden, die
tatsächlich gar nicht existierten.
Sie kritisieren den türkischen Staat und die
türkische Öffentlichkeit, weil sie den Antisemitismus verdrängen und dulden. Sie
kritisieren aber auch die jüdische Gemeinde in der Türkei, weil sie den
Antisemitismus nicht thematisiert. Wie reagiert die jüdische Gemeinde auf Ihre
Kritik?
Als 1999 mein erstes Buch erschien, waren viele
Juden beunruhigt, dass das Buch ihnen oder mir Unannehmlichkeiten bereiten
könnte. Aber die Türkei ist dabei, sich zu verändern. Zudem behandelte das Buch
die Phase von 1923 bis 1945, deren problematische Aspekte inzwischen etwas ins
öffentliche Bewusstsein gelangt sind. Die erste Aufregung hat sich gelegt.
Anders sieht die Lage aus, wenn man nach Antisemitismus in der jüngsten
Vergangenheit oder der Gegenwart fragt.
Unmittelbar nach den Anschlägen vom November
2003 begann in jüdischen Internetforen und in Salom, der Zeitung der jüdischen
Gemeinde, eine Debatte darüber, ob das Engagement für den türkischen Staat
richtig war. Waren dies nur Reaktionen auf den Schock?
Nein, die Debatte wird fortgeführt. Unter den
türkischen Juden gibt es Stimmen, die sagen: Wir haben uns in den letzten
Jahrzehnten für den türkischen Staat eingesetzt, haben seine internationalen
Lobby- und Public-Relations-Aktivitäten unterstützt. Aber für unser Engagement
bekommen wir kein Entgegenkommen, nicht einmal die bestehenden Gesetze werden
angewandt, um die antisemitische Propaganda zu stoppen. Allerdings diskutiert
man nicht öffentlich über diese Fragen. Wie bei allen Minderheiten gibt es zwei
Sprachen, eine öffentliche und ein interne. Man will gegenüber dem Staat keine
Uneinigkeit demonstrieren. Außerdem befürchtet man, dass jede öffentliche
Diskussion über das Verhältnis zum türkischen Staat den Islamisten Anlass für
Attacken liefern könnte.
Wie ist die Stimmung unter den türkischen
Juden vier Monate nach den Anschlägen?
Die Wunden dieses traumatischen Erlebnisses
sind noch frisch. Mehr als zuvor sehen sie sich als Angriffsziel. Das Gefühl,
beobachtet, belagert und bedroht zu sein, hat sich verstärkt. Salom erscheint
nun ohne Redaktionsadresse im Impressum, vom Kulturverein bis zum Altersheim
stehen alle jüdischen Einrichtungen unter polizeilicher Bewachung.
Könnte ein EU-Beitritt der Türkei ein Ausweg
sein?
Nun, die verbliebenen Minderheiten unterstützen vehement einen EU-Beitritt, weil
sie hoffen, dass so dem extremen Nationalismus und dem Islamismus Einhalt
geboten werden könnte. Überhaupt werden mit der EU die vielfältigsten Hoffnungen
verknüpft. Ich bin eher skeptisch. Es reicht nicht aus, demokratische Reformen
zu beschließen, es braucht auch den Willen, Gesetzesänderungen umzusetzen. Und
es müssen zivilgesellschaftliche Kräfte vorhanden sein, die auf eine
Realisierung dieser Reformen drängen. Was die nicht muslimischen Minderheiten
betrifft, sind sie schon zahlenmäßig zu einflusslos, auch sonst fehlt es an
zivilgesellschaftlichen Strukturen, die für eine Demokratie unentbehrlich sind.
Umgekehrt kann man davon ausgehen, dass eine Ablehnung der Türkei durch die EU
zu einem Anwachsen des Islamismus und des extremen Nationalismus führen wird.
Jungle World
Jungle World Nummer 12 vom 10.03.2004
kt /
hagalil.com
/ 2004-03-10
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