Ein Zentrum gegen
Vertreibungen? Dass ein solches Haus nicht als singularisierende deutsche
Einrichtung mit Mahnmalscharakter und einigen europäischen Bezügen in Berlin,
sondern nur als im Wortsinne europäische Dokumentations-, Forschungs-,
Begegnungs- und Erinnerungsstätte zu konzipieren ist, ist der
länderübergreifende Konsens sowohl in den Geistes- und Sozialwissenschaften wie
unter Museumsfachleuten. Der deutsche Fall ist nach ihrer Meinung als einer
unter anderen Vertreibungsgeschehen zu behandeln, in die Geschichte Deutschlands
im 20. Jahrhunderts einzuordnen sowie in den gesamteuropäischen Kontext
ethnopuristischer Nationalstaatsbildung zu stellen.
Dass in einer
solchen Institution den über Kreuz verlaufenden Geschichten von Deutschen, Polen
und Tschechen in der kritischen Dekade 1938-1948 besondere Aufmerksamkeit
zukommt, liegt dabei nahe. Insgesamt aber reicht die inhaltliche und
chronologische Spannweite von den ethnozentrischen Nationalbewegungen des 19.
Jahrhunderts bis zu den "ethnischen Säuberungen" um die Wende vom 20. zum 21.
Jahrhundert und berücksichtigt dabei die Berührungspunkte zu Holocaust/Shoa,
Genozid und Soziozid. Auf diesem Gebiet innerhalb und außerhalb Europas
Forschende optieren dabei für eine transnational vergleichende und
multidisziplinäre Aufarbeitung.
Mehrstimmigkeit
herrscht allerdings darüber vor, mit welchen konkreten Aktionsformen und
Produkten ein solches Zentrum seine Ziele erreichen kann und seine Aufgaben
realisieren soll. Dies geht aus zwei Unternehmungen hervor, welche die
Bandbreite vorstellbarer Tätigkeitsgattungen auszuloten und Vorschläge zur
Profilbildung entwickeln. Dabei handelt es sich zum einen um den Tagungsband des
internationalen wissenschaftlichen Kolloquiums Ein europäisches Zentrum gegen
Vertreibungen. Historische Erfahrungen - Erinnerungspolitik -
Zukunftskonzeptionen, welches das Deutsche Polen Institut in Darmstadt, das
Geisteswissenschaftliche Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas in
Leipzig und das Historische Institut der Universität Warschau im Dezember 2002
im Darmstädter Haus der Deutsch-Balten durchgeführt haben. Zum anderen ist dies
ein Schwerpunktheft der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft zum Thema Flucht
und Vertreibung in europäischer Perspektive, initiiert vom Zentrum für
vergleichende Geschichte Europas in Berlin und dem Zentrum für Zeithistorische
Forschung in Potsdam.
In dem Darmstädter
Tagungsband rät der Wittenberger Museumsexperte Stefan Laube angesichts des
Umstandes, dass die Erlebnisgeneration der Vertreibungen der vierziger Jahre
derzeit ausstirbt, dazu "die Erinnerung systematisch zu musealisieren". "Wenn
nicht gehandelt wird, verschwinden mit dem Ableben der Betroffenen die
Brucherfahrungen ins Grab und viele dazugehörige Dokumente und Artefakte wandern
in den Müll. Jetzt wäre die Zeit sammlungs- und ausstellungspolitischer
Initiativen gekommen." Ihm schwebt "eine multisensuelle, szenografische
Museumswelt vor", die als "emotional-intellektuelles Erlebnis ein touristisches
Highlight" jedes denkbaren Standorts wäre. Vorbilder erkennt er im Jüdischen
Museum Berlin sowie in dem explizit als "Konfliktmuseum" konzipierten Imperial
War Museum North im englischen Manchester. Laube denkt dabei neben einem
"Dokumentenspeicher/Erlebnismuseum" zugleich an ein "Mahnmal/Forschungszentrum",
das "therapeutische Funktion", "wissenschaftliche Ziele", "pädagogische und
präventive Aspekte" vereint. Dabei warnt er davor, dass "Erinnerungsarbeit vom
Trauerdiskurs und Opferperspektiven absorbiert wird", denn "diejenigen, die das
Vertreibungsgeschehen im Zweiten Weltkrieg noch ›hautnah‹ miterlebt bzw.
-erlitten haben, werden zum großen Teil nicht mehr leben. Die Frage, an wen sich
dann der Traueroktroi und die Therapieziele richten sollen, bleibt ohne
Antwort". Als Museumsmacher rät er überdies dazu, "das Projekt nicht nur in der
Hand von Zeithistorikern zu lassen, sondern in die Diskussion Wissenschaftler
anderer Disziplinen, zudem Museologen, Künstler sowie touristische
Standortpolitiker einzubeziehen."
Der Görlitzer
Kulturpolitikexperte Matthias Theodor Vogt wirbt für eine "Erarbeitungsstätte
von Wanderausstellungen" zur Herstellung von didaktischem Material für Lehrer
und anderen Multiplikatoren. Überdies regt er an, nicht nur an ein klassisches
Museum(sgebäude) zu denken, sondern an "eine Stadt, in der man
Vertreibungsschicksal durchwandern, persönlich erleben kann" - Görlitz zum
Beispiel. Der Ostmitteleuropa-Historiker Philipp Ther aus Frankfurt/Oder optiert
gleichfalls für eine "alleuropäische Wanderausstellung", die von der
Zentrumsneugründung zu konzipieren sowie "in Geschichtswerkstätten an dem
jeweiligen Ort der Ausstellung" zu präsentieren wäre. Und der Berliner
Südosteuropa-Historiker Holm Sundhaussen schlägt vor, bereits im Vorfeld einer
Zentrumsgründung ein internationales Netzwerk einschlägig Forschender aufzubauen
sowie sich als erstes Arbeitsziel eine Enzyklopädie der Vertreibungen zu
stecken.
Übereinstimmung
herrscht bei den Beiträgern darüber, dass eine Zentrumsneugründung neben den
wissenschaftlich-pädagogischen Funktionen von Dokumentation, Forschung,
Konferenz, Ausstellung/Wanderausstellung und Mahnbereich/europäisches Denkmal
auch als Ort des Dialogs der Opfer/Täter über noch nicht "verarbeitete"
Vertreibungen, als Instanz zur Beratung bei der konstruktiven Bearbeitung
solcher Konflikte, in denen Vertreibungen stattgefunden haben, sowie als
Instrument zur Prävention von Vertreibungsabsichten fungieren solle.
Im Themenheft
Flucht und Vertreibung in europäischer Perspektive zieht der US-amerikanische
Deutschland- und Osteuropa-Historiker Norman M. Naimark eine Parallele zu den
Debatten im Vorfeld der Gründung des U.S. Holocaust Memorial Museum/Center for
Advanced Holocaust Studies in Washington und zu dessen Entwicklung nach
erfolgter Gründung. Dabei spricht er mit Blick auf ein europäisches Zentrum
gegen Vertreibungen von einer Modellfunktion des Washingtoner Museums. Den
amerikanischen Debatten über Standort und Zielgruppen - Deutschland/Täter oder
USA/Opfer? - folgten damals Diskussionen über den Kreis derjenigen, derer zu
gedenken wäre - nur Juden oder auch Sinti und Roma, Homosexuelle,
Euthanasieopfer? - sowie über eine Ausweitung auf amerikanische Indianer und
Afroamerikaner. Die Inhalte wurden seinerzeit vor allem anhand der Frage "Sollte
es ein Ort des Lernens und Forschens werden und nicht nur ein Ort des Erinnerns
und der Einkehr?" diskutiert. Im Ergebnis konstatiert Naimark, dass die
Neugründung zu einer der wichtigsten Institutionen für das Studium von Holocaust
und Völkermord allgemein geworden ist: "Es hat eine ganze Reihe von hochrangigen
wissenschaftlichen Konferenzen veranstaltet und unterstützt ein wichtiges
Journal auf dem Gebiet der Genozidforschung. Mehr noch: Es wurde zu einer
wichtigen Archiveinrichtung, die im Bereich der Erforschung der Massentötungen
im Europa des 20. Jahrhunderts ihresgleichen sucht." Diesen auch in der
amerikanischen Öffentlichkeit einhellig so gesehenen Erfolg des
Holocaust-Museums sieht Naimark vor allem in der "kreativen Absorption der
verschiedenen Kontroversen um seine Entstehung", denn durch Integration anstelle
von Exklusion konnte es "zu einer Modellinstitution für die Forschung und
Bildung, zu einem Ort des Lernens wie auch der Erinnerung und des Totengedenkens
werden."
Im selben Heft
sehen die Potsdamer Zeithistoriker Jürgen Danyel und Christoph Klessmann als
Aufgabe eines solchen Zentrums "einen Prozess der gemeinsamen Erinnerung und
Begegnung einzuleiten bzw. ihn dort, wo er schon in Gang gekommen ist, zu
stärken. Nur so kann den zahllosen europäischen Regionen, die durch die
gewaltsamen Bevölkerungstransfers gebeutelt wurden, ihre ganze Geschichte
zurückgegeben werden." Dabei plädieren sie für eine dezentrale Struktur,
bewirken doch aus ihrer Sicht Projekte und Gespräche vor Ort mehr als die von
den "politisch formierten Erinnerungskollektiven eingeklagten und inzwischen
wohlfeil gewordenen Rituale der Entschuldigung oder weiterer zentraler
Denkmäler." Die Neugründung kann den Autoren zufolge zwar einen festen Ort
haben, sollte aber primär als Wanderausstellung konzipiert werden. "Es müsste
unterwegs in Europa sein, wie es einst die Flüchtlinge, Vertriebenen und
Deportierten waren oder heute wieder sind." Ein solches mobiles Zentrum könnte
lokale und regionale Projekte einbinden und Diskussionen vor Ort auslösen und
wäre zugleich "immer wieder zur kritischen Selbstreflexion gezwungen".
Historiker wie Museumspädagogen in ganz Europa sind sich darüber einig, dass ein
Europäisches Zentrum gegen Vertreibungen eine wegweisende Innovation werden
kann, deren Inhalte und Aufgabenprofil in einem ergebnisoffenen Dialog mit den
Entscheidungsträgern im politischem Raum zu konzipieren und auszuhandeln sind.
In nationalem Denken verhaftete Parteipolitiker, Verbandsfunktionäre und andere
Lobbyisten sind dabei nicht die richtigen Gesprächspartner.