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Zentrum gegen Vertreibungen:
Unterwegs in Europa

Wissenschaftler plädieren dafür, die Vertreibungen europäisch zu erforschen und erinnern. Eine kleine Übersicht zum Stand des Diskurses...

Stefan Troebst

Ein Zentrum gegen Vertreibungen? Dass ein solches Haus nicht als singularisierende deutsche Einrichtung mit Mahnmalscharakter und einigen europäischen Bezügen in Berlin, sondern nur als im Wortsinne europäische Dokumentations-, Forschungs-, Begegnungs- und Erinnerungsstätte zu konzipieren ist, ist der länderübergreifende Konsens sowohl in den Geistes- und Sozialwissenschaften wie unter Museumsfachleuten. Der deutsche Fall ist nach ihrer Meinung als einer unter anderen Vertreibungsgeschehen zu behandeln, in die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhunderts einzuordnen sowie in den gesamteuropäischen Kontext ethnopuristischer Nationalstaatsbildung zu stellen.

 

Dass in einer solchen Institution den über Kreuz verlaufenden Geschichten von Deutschen, Polen und Tschechen in der kritischen Dekade 1938-1948 besondere Aufmerksamkeit zukommt, liegt dabei nahe. Insgesamt aber reicht die inhaltliche und chronologische Spannweite von den ethnozentrischen Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts bis zu den "ethnischen Säuberungen" um die Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert und berücksichtigt dabei die Berührungspunkte zu Holocaust/Shoa, Genozid und Soziozid. Auf diesem Gebiet innerhalb und außerhalb Europas Forschende optieren dabei für eine transnational vergleichende und multidisziplinäre Aufarbeitung.

 

Mehrstimmigkeit herrscht allerdings darüber vor, mit welchen konkreten Aktionsformen und Produkten ein solches Zentrum seine Ziele erreichen kann und seine Aufgaben realisieren soll. Dies geht aus zwei Unternehmungen hervor, welche die Bandbreite vorstellbarer Tätigkeitsgattungen auszuloten und Vorschläge zur Profilbildung entwickeln. Dabei handelt es sich zum einen um den Tagungsband des internationalen wissenschaftlichen Kolloquiums Ein europäisches Zentrum gegen Vertreibungen. Historische Erfahrungen - Erinnerungspolitik - Zukunftskonzeptionen, welches das Deutsche Polen Institut in Darmstadt, das Geisteswissenschaftliche Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas in Leipzig und das Historische Institut der Universität Warschau im Dezember 2002 im Darmstädter Haus der Deutsch-Balten durchgeführt haben. Zum anderen ist dies ein Schwerpunktheft der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft zum Thema Flucht und Vertreibung in europäischer Perspektive, initiiert vom Zentrum für vergleichende Geschichte Europas in Berlin und dem Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.

 

In dem Darmstädter Tagungsband rät der Wittenberger Museumsexperte Stefan Laube angesichts des Umstandes, dass die Erlebnisgeneration der Vertreibungen der vierziger Jahre derzeit ausstirbt, dazu "die Erinnerung systematisch zu musealisieren". "Wenn nicht gehandelt wird, verschwinden mit dem Ableben der Betroffenen die Brucherfahrungen ins Grab und viele dazugehörige Dokumente und Artefakte wandern in den Müll. Jetzt wäre die Zeit sammlungs- und ausstellungspolitischer Initiativen gekommen." Ihm schwebt "eine multisensuelle, szenografische Museumswelt vor", die als "emotional-intellektuelles Erlebnis ein touristisches Highlight" jedes denkbaren Standorts wäre. Vorbilder erkennt er im Jüdischen Museum Berlin sowie in dem explizit als "Konfliktmuseum" konzipierten Imperial War Museum North im englischen Manchester. Laube denkt dabei neben einem "Dokumentenspeicher/Erlebnismuseum" zugleich an ein "Mahnmal/Forschungszentrum", das "therapeutische Funktion", "wissenschaftliche Ziele", "pädagogische und präventive Aspekte" vereint. Dabei warnt er davor, dass "Erinnerungsarbeit vom Trauerdiskurs und Opferperspektiven absorbiert wird", denn "diejenigen, die das Vertreibungsgeschehen im Zweiten Weltkrieg noch ›hautnah‹ miterlebt bzw. -erlitten haben, werden zum großen Teil nicht mehr leben. Die Frage, an wen sich dann der Traueroktroi und die Therapieziele richten sollen, bleibt ohne Antwort". Als Museumsmacher rät er überdies dazu, "das Projekt nicht nur in der Hand von Zeithistorikern zu lassen, sondern in die Diskussion Wissenschaftler anderer Disziplinen, zudem Museologen, Künstler sowie touristische Standortpolitiker einzubeziehen."

 

Der Görlitzer Kulturpolitikexperte Matthias Theodor Vogt wirbt für eine "Erarbeitungsstätte von Wanderausstellungen" zur Herstellung von didaktischem Material für Lehrer und anderen Multiplikatoren. Überdies regt er an, nicht nur an ein klassisches Museum(sgebäude) zu denken, sondern an "eine Stadt, in der man Vertreibungsschicksal durchwandern, persönlich erleben kann" - Görlitz zum Beispiel. Der Ostmitteleuropa-Historiker Philipp Ther aus Frankfurt/Oder optiert gleichfalls für eine "alleuropäische Wanderausstellung", die von der Zentrumsneugründung zu konzipieren sowie "in Geschichtswerkstätten an dem jeweiligen Ort der Ausstellung" zu präsentieren wäre. Und der Berliner Südosteuropa-Historiker Holm Sundhaussen schlägt vor, bereits im Vorfeld einer Zentrumsgründung ein internationales Netzwerk einschlägig Forschender aufzubauen sowie sich als erstes Arbeitsziel eine Enzyklopädie der Vertreibungen zu stecken.

 

Übereinstimmung herrscht bei den Beiträgern darüber, dass eine Zentrumsneugründung neben den wissenschaftlich-pädagogischen Funktionen von Dokumentation, Forschung, Konferenz, Ausstellung/Wanderausstellung und Mahnbereich/europäisches Denkmal auch als Ort des Dialogs der Opfer/Täter über noch nicht "verarbeitete" Vertreibungen, als Instanz zur Beratung bei der konstruktiven Bearbeitung solcher Konflikte, in denen Vertreibungen stattgefunden haben, sowie als Instrument zur Prävention von Vertreibungsabsichten fungieren solle.

 

Im Themenheft Flucht und Vertreibung in europäischer Perspektive zieht der US-amerikanische Deutschland- und Osteuropa-Historiker Norman M. Naimark eine Parallele zu den Debatten im Vorfeld der Gründung des U.S. Holocaust Memorial Museum/Center for Advanced Holocaust Studies in Washington und zu dessen Entwicklung nach erfolgter Gründung. Dabei spricht er mit Blick auf ein europäisches Zentrum gegen Vertreibungen von einer Modellfunktion des Washingtoner Museums. Den amerikanischen Debatten über Standort und Zielgruppen - Deutschland/Täter oder USA/Opfer? - folgten damals Diskussionen über den Kreis derjenigen, derer zu gedenken wäre - nur Juden oder auch Sinti und Roma, Homosexuelle, Euthanasieopfer? - sowie über eine Ausweitung auf amerikanische Indianer und Afroamerikaner. Die Inhalte wurden seinerzeit vor allem anhand der Frage "Sollte es ein Ort des Lernens und Forschens werden und nicht nur ein Ort des Erinnerns und der Einkehr?" diskutiert. Im Ergebnis konstatiert Naimark, dass die Neugründung zu einer der wichtigsten Institutionen für das Studium von Holocaust und Völkermord allgemein geworden ist: "Es hat eine ganze Reihe von hochrangigen wissenschaftlichen Konferenzen veranstaltet und unterstützt ein wichtiges Journal auf dem Gebiet der Genozidforschung. Mehr noch: Es wurde zu einer wichtigen Archiveinrichtung, die im Bereich der Erforschung der Massentötungen im Europa des 20. Jahrhunderts ihresgleichen sucht." Diesen auch in der amerikanischen Öffentlichkeit einhellig so gesehenen Erfolg des Holocaust-Museums sieht Naimark vor allem in der "kreativen Absorption der verschiedenen Kontroversen um seine Entstehung", denn durch Integration anstelle von Exklusion konnte es "zu einer Modellinstitution für die Forschung und Bildung, zu einem Ort des Lernens wie auch der Erinnerung und des Totengedenkens werden."

 

Im selben Heft sehen die Potsdamer Zeithistoriker Jürgen Danyel und Christoph Klessmann als Aufgabe eines solchen Zentrums "einen Prozess der gemeinsamen Erinnerung und Begegnung einzuleiten bzw. ihn dort, wo er schon in Gang gekommen ist, zu stärken. Nur so kann den zahllosen europäischen Regionen, die durch die gewaltsamen Bevölkerungstransfers gebeutelt wurden, ihre ganze Geschichte zurückgegeben werden." Dabei plädieren sie für eine dezentrale Struktur, bewirken doch aus ihrer Sicht Projekte und Gespräche vor Ort mehr als die von den "politisch formierten Erinnerungskollektiven eingeklagten und inzwischen wohlfeil gewordenen Rituale der Entschuldigung oder weiterer zentraler Denkmäler." Die Neugründung kann den Autoren zufolge zwar einen festen Ort haben, sollte aber primär als Wanderausstellung konzipiert werden. "Es müsste unterwegs in Europa sein, wie es einst die Flüchtlinge, Vertriebenen und Deportierten waren oder heute wieder sind." Ein solches mobiles Zentrum könnte lokale und regionale Projekte einbinden und Diskussionen vor Ort auslösen und wäre zugleich "immer wieder zur kritischen Selbstreflexion gezwungen".

Historiker wie Museumspädagogen in ganz Europa sind sich darüber einig, dass ein Europäisches Zentrum gegen Vertreibungen eine wegweisende Innovation werden kann, deren Inhalte und Aufgabenprofil in einem ergebnisoffenen Dialog mit den Entscheidungsträgern im politischem Raum zu konzipieren und auszuhandeln sind. In nationalem Denken verhaftete Parteipolitiker, Verbandsfunktionäre und andere Lobbyisten sind dabei nicht die richtigen Gesprächspartner.

Der Freitag
Der Freitag Nr.6 vom 30.01.2004

kt / hagalil.com / 2004-01-30

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