Sachsen ist nicht mehr das Tal des ahnungslosen Gedenkens. Das vor einem Jahr
verabschiedete Gesetz zur Errichtung der Stiftung Sächsische Gedenkstätten sorgt
für Furore. Der Zentralrat der Juden in Deutschland, der Bundesverband Opfer der
NS-Militärjustiz, das Dokumentationszentrum der Sinti und Roma sowie die
Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes sind aus der Stiftung ausgetreten.
Damit ist diese faktisch arbeitsunfähig. Der Vorwurf lautet: Der Primat des
antistalinistischen Erinnerungsziels relativiere die Verbrechen des NS-Regimes.
Salomon Korn, der Vizepräsident des Zentralrats der Juden, argumentierte, die
Unterschiede »zwischen den Verbrechen der Nationalsozialisten mit europäischer
Dimension und denen der Willkürherrschaft des Kommunismus in Ostdeutschland mit
nationaler Dimension« würden eingeebnet.
Das sächsische Gesetz will jedoch an »politische Gewaltverbrechen« erinnern und
»die Opfer politischer Gewaltherrschaft und den Widerstand gegen die Diktaturen«
der Nationalsozialisten und der Kommunisten würdigen. Nur in Deutschland artet
das Erinnern so in Arbeit aus, dass den Erinnernden der Schweiß auf der Stirn
steht.
»Gedenkstättenarbeit« macht eben nicht automatisch frei von Schuld und enthebt
nicht von der Verantwortung, die Geschichte immer wieder neu interpretieren zu
müssen. Es geht wie immer um die Definitionen. Die Diktatur in der ehemaligen
DDR kann so wenig mit dem Terrorregime der Nationalsozialisten verglichen
werden, wie es eine »Konkurrenz« zwischen den Opfern gibt. In Gedenkstättenbeton
gegossene Erinnerung hat nur dann einen Sinn, wenn das Besondere der Opfer und
Opfergruppen erklärt wird.
Was ist also das Motiv der sächsischen CDU und der Bundestagsfraktion der
CDU/CSU, die ein Gesetz vorlegen will, das sich an das sächsische Vorbild
anlehnt? Das Neue Deutschland nennt Sachsens Gedenkpolitik »dumm und
gefährlich«. Doch dumm ist sie bestimmt nicht. Die CDU kann gar nicht anders,
sonst würde sie ihre Identität aufgeben.
Die deutsche Staatsdoktrin, das Erinnern betreffend, würde gleich mit über Bord
geworfen, wenn die bürgerliche Rechte zugeben würde, dass nicht die »Extremen«
von links und rechts die erste deutsche – die Weimarer – Demokratie zerstört
haben, sondern das Bündnis der Nationalkonservativen, der geistigen Vorläufer
der CDU, mit dem Großkapital und der NSDAP.
Das Gespräch über die historischen Wurzeln der deutschen Nation hat sich nie von
der Totalitarismus-Doktrin gelöst. Die Shoah als europäische Tragödie soll
nationalisiert und für die spezifisch deutsche »Erinnerungsarbeit« eingemeindet
werden.
Die Union spricht von einer »doppelten Vergangenheit«. Daher ist es nur zu
konsequent, wenn das Haus der Wannseekonferenz, das Holocaustmahnmal, die
KZ-Gedenkstätten, die ehemalige Stasizentrale, das DDR-Gefängnis Bautzen und das
Berliner Mauermonument Bernauer Straße gemeinsam von kollektiven nationalen
Gefühlen »bearbeitet« werden.
Das Motiv reduziert sich auf den schlichten Satz: Rot gleich Braun. Man merkt
die Absicht und ist verstimmt. Die Ironie der Geschichte ist: In der DDR waren
Juden und Nichtjuden gleichermaßen »Opfer des Faschismus«. Im heutigen
Erinnerungsrevival à la CDU werden Juden und Nichtjuden gemeinsam zu Opfern von
»Diktaturen« erklärt.
»Deutsch bleibt deutsch, da helfen keine Pillen.« Das sagte Tucholsky. Man muss
heute hinzufügen: Da hilft auch keine Erinnerungsarbeit.
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