Filmbesprechung:
Täter, Opfer, Zuschauer
"Out of the Forest" (Forum) von Limor Pinhasov und Yaron
Kaftori Ben Yosef erzählt die Geschichte der Massenerschießungen, denen zwischen
1941 und 1943 die Juden von Vilnius zum Opfer fielen...
Christian Semler
Jahrzehntelang moderte eine
Zettelsammlung unbeachtet im Magazin des Jüdischen Museums von Vilnius (Wilna),
der Hauptstadt der Sowjetrepublik Litauen. Zu Ende der Sowjetzeit wurde sie
entdeckt und von Dr. Rachel Margolis, einer jüdischen Partisanin während der
Naziokkupation und Erforscherin des Massenmordes an Litauens Juden, entziffert
und publiziert.
Es war das Tagebuch des Wilnaer
Journalisten Kazimierz Sakowicz, der von seinem Landhaus in Ponary aus, einem in
der Nähe von Vilnius gelegenen Dorf, zum Zeugen der Massenerschießungen der
jüdischen Bevölkerung des Wilnaer Gebietes in den Jahren 1941 bis 1943 wurde.
Unter den Israelis, die den ebenso genauen wie leidenschaftslosen Bericht von
Sakowicz lasen, fand sich auch das Filmerehepaar Limor Pinhasov und Yaron
Kaftori Ben Yosef. Sie entschlossen sich zu einer Filmdokumentation, reisten
nach Ponary, um Zeugen der Massaker beziehungsweise deren Nachkommen zu
interviewen. Es gelang ihnen zudem, jüdische Überlebende aufzuspüren und sie zu
einer Rückkehr an den Ort ihrer Qualen zu bewegen.
Der Film setzt historische
Kenntnis voraus: Wilna war eines der großen Zentren der jüdischen wie der
polnischen Kultur gewesen. Juden und Polen stellten das Gros der Bevölkerung.
Beide nach 1918 entstandene Nationalstaaten, Litauen und Polen, beanspruchten
die Stadt, schließlich annektierte sie das Polen Pilsudskis. Nach der erneuten
Teilung Polens 1939 wurde Wilna an das nun sowjetisch besetzte Litauen
angeschlossen. Der Überfall Hitlers auf die Sowjetunion nährte bei vielen
litauischen antisowjetischen Nationalisten die Hoffnung, ihr Staat werde unter
Beihilfe der Nazis wiedererstehen. Litauische Polizei- und paramilitärische
Verbände beteiligten sich nach der deutschen Besetzung an den Massenexekutionen
zuerst der männlichen, dann der gesamten jüdischen Bevölkerung. Sie folgten der
Wahnidee, die jüdische Bevölkerung hätte in toto die Sowjets unterstützt.
Hieraus folgt, dass die von den
Ben Yosefs Interviewten - sie sind durchwegs polnischer Nationalität - in der
Rückschau die Morde stets als Untaten "der anderen" auffassen und auffassen
müssen. Ihre Eltern und sie selbst als Kinder oder Jugendliche waren passiv,
Zuschauer des Verbrechens. Gerade diese Zuschauerexistenz fasziniert die beiden
Filmemacher. Gab es eine Alternative der Rettung, gab es die Möglichkeit der
Hilfe? Ist Mitleid spürbar, vielleicht späte Scham? Die Filmemacher verstehen
es, ihre Interviewpartner zu freimütigen Antworten zu bewegen. Das Ergebnis
erweist sich - voraussehbar - als deprimierend. Die Juden gehörten eben nicht
zur polnischen Gemeinschaft, weshalb ihr Schicksal kaum jemanden berührte. Die
Kleider der Opfer (Schmuck und Geld gingen an die Litauer und die deutschen
Wachmannschaften) wurden von den Polen verhökert, abscheulich, aber angesichts
der allgemeinen Not nahe liegend. Getreu dem antisemitischen Stereotyp wurde von
einigen der Interviewten den Juden auch noch der Vorwurf gemacht, sie hätten
sich willig zur Schlachtbank führen lassen.
Unversehens geraten im Film
deshalb die Polen auf die Anklagebank. Sie werden mit moralischen Postulaten
konfrontiert, denen sie als Kinder und Jugendliche schlechterdings nicht
nachkommen konnten. Im Unterschied zu Claude Lanzmann, der Tatbeteiligte auf
insistente, detailorientierte Fragestellungen festnagelte, verlieren die
Fragestellungen der israelischen Filmer manchmal jeden Realitätsbezug. Was soll
ein Litauer polnischer Nationalität heute antworten, wenn er gefragt wird, wie
er es an einem solchen Ort des Verbrechens aushalten könne? Solche
Fragestellungen widerstreiten auch der erklärten Absicht der Filmemacher, sich
mit dem Phänomen der Erinnerung auseinander zu setzen.
Einfühlsam, diskret begleitet die
Kamera die überlebenden Opfer zum Ort des Massenmords, zu den riesigen Gruben,
die heute zum Teil Gedenkstätten sind. Zwischen Opfern und Zuschauern werden
keine Ressentiments spürbar, wohl aber bittere Wahrheiten. Warum haben die
Partisanen der Mordmaschine keinen Einhalt geboten, fragt ein Besucher, ein
jüdischer Partisan, eine damalige sowjetische Partisanenführerin. Ihre Antwort:
"Wir waren zu wenige."
Ein großes Problem kann der Film nicht lösen: Zuschauer und Opfer sind präsent,
aber die Täter bleiben verschwommen. Zwar wird klar, dass Litauer die Morde
ausführten, während das deutsche Einsatzkommando befahl und überwachte. Aber
gerade die deutsche Mordmaschine ist im Film so gut wie nicht präsent, obwohl
dokumentarisches Material zur Verfügung gestanden hätte. So dass fast der
Eindruck entsteht, die Deutschen wären nur zufällig da gewesen. Was der Film
durch die Konzentration auf den Ort Ponary an atmosphärischer Dichte gewinnt,
verliert er deshalb an Erklärungswert.
die tageszeitung
taz - die tageszeitung Berlin vom 13.02.2004
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/ 2004-02-13
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