Charlotte Zeitschel hat frühere
Zwangsarbeiter mit dem Ort ihrer Ausbeutung versöhnt. Jetzt möchte die
77-Jährige kürzer treten - und kann nicht. Grund ist die fragwürdige
Erinnerungspolitik des Landes Sachsen, die jetzt zum Bruch mit dem Zentralrat
der Juden führte.
Aus dem Alter, in dem man
Autogrammen nachjagt, ist Charlotte Zeitschel heraus. Trotzdem hat sie Johannes
Rau an jenem Mittwoch Anfang Januar im Berliner Schloss Bellevue gebeten, auf
ihrem Exemplar der Menükarte zu unterschreiben. Nicht für die Enkel, wie sie
erklärte. »Dieses Autogramm«, hat Charlotte Zeitschel gesagt, »brauche ich für
die sächsische Regierung.«
Sie schmunzelte über die Idee,
den Bundespräsidenten um Hilfe zu bitten: Seht her, andere würdigen, was wir
leisten! Ihre Augen blitzten wie so oft, wenn sie Schüler durch »ihre«
Gedenkstätte führt. Überwinden musste sie sich nicht. Wie schrieb eine Zeitung,
als sie zum Dank für ihre Arbeit zu Raus Neujahrsempfang geladen war? »Das Herz
auf dem rechten Fleck und keine Angst vor großen Tieren.« Vielleicht verliert
sich übertriebener Respekt vor Amtspersonen mit dem Alter. Charlotte Zeitschel
ist 77, auch wenn das niemand merkt, während sie scharfsinnig und gedankenvoll
erzählt - etwa darüber, wie sie ihre heutige Freundin Ruth Elias kennen lernte.
Die in Israel lebende jüdische Autorin war in einer TV-Dokumentation über
Zwangsarbeit aufgetreten. Zeitschel besorgte sich die Telefonnummer. Dann, sagt
sie leichthin, »habe ich eben in Israel angerufen«.
Überlebende in vielen Ländern
So, wie sie zuvor nach Polen
schrieb, in die Ukraine, nach Burjatien. Überall dort gibt es Überlebende der
Zwangsarbeitslager, die ab 1942 rund um Leipzig entstanden. Zeitschel und ihre
Mitstreiter dokumentieren das Arbeits- und Vernichtungssystem, erforschen
Einzelschicksale, publizieren Ergebnisse. Eine 2001 eröffnete Gedenkstätte mahnt
und erinnert; sie versöhnt auch. »Ich war noch einmal in Leipzig«, schrieb Ruth
Elias, »jetzt bin ich endlich frei.« In Leipzig heißt: in einem Flachbau an der
Permoserstraße, am Rande eines Gewerbeareals im Norden der Stadt.
Backsteingebäude beherbergen das Umweltforschungszentrum Leipzig-Halle. Bis zu
ihrer Liquidation 1946 saß hier die Hugo Schneider AG (später Hasag), die erst
Spirituskocher herstellte und später Panzerfäuste für deutsche Landser.
Das Pförtnerhaus, das heute die
Gedenkstätte beherbergt, passierten damals Kolonnen ausländischer Arbeiter. 1942
beschäftigte die Hasag 1286 Polen, 618 Franzosen, 840 Kroaten, dazu Holländer,
Belgier, Tschechen. »Hier arbeiteten nur noch wenige Deutsche, meist Invaliden,
als Meister, und Zivilarbeiter aus vielen Nationen, die als Zwangsarbeiter ins
Reich gebracht wurden«, schrieb später Danuta Brzosko-Metryk.
Die Polin kam 1944 als Insassin
des KZ Buchenwald zur Hasag. Weil der Krieg die Reserven Nazideutschlands
erschöpfte, wurden auch Häftlinge in der Industrie eingesetzt. Ihre
Mobilisierung zur »Rüstungssteigerung« trete gegenüber der »Verwahrung aus
Sicherheits-, erzieherischen oder vorbeugenden Gründen« in den Vordergrund, hieß
es in einem Brief an SS-Führer Himmler. Die von einem SS-Mann geleitete Hasag
beschäftigte 40000 Zwangsarbeiter, mehr als jede andere deutsche Firma.
Mindestens 4000 überlebten nicht.
Dass die Unterbringung
erbärmlich, die Arbeit lebensgefährlich und das Wachregime menschenverachtend
war, weiß Zeitschel nicht nur aus Zeugnissen von Überlebenden, sondern auch von
ihrem Vater, einem Hasag-Arbeiter, der nicht »fronttauglich« war. Weil er sich
weigerte, Vorarbeiter in dem für grausame Bedingungen berüchtigten Hasag-Werk im
polnischen Kamienna zu werden, wurde er zusammen mit vielen weiblichen
Zwangsarbeitern in Leipzig bei der Herstellung der Panzerfäuste eingesetzt.
Die Arbeit zeigt, dass die Devise
»Vernichtung durch Arbeit« auch in den Firmen galt. Chemikalien, mit denen die
Munition gefüllt wurde, verursachten Verätzungen, Lebervergiftungen, Gelbsucht.
Auch Zeitschels Vater, ein Kommunist, dem »Juden und Fremdarbeiter nie als
Feinde galten«, starb den »gelben Tod«. Charlotte Zeitschel ließ das Thema nicht
los. Die spätere Lehrerin recherchierte und beschrieb in Broschüren, wie das
NS-System in ihrer Heimat im Alltag funktionierte. »Taucha zwischen Faschismus
und Krieg« heißt eine Publikation. 1985 übernahm sie die Leitung der
Margarete-Blank-Gedenkstätte in Panitzsch. Sie erinnert an eine Ärztin, die
Zwangsarbeiter mit Medikamenten versorgte und wegen »defätistischer« Äußerungen
Anfang 1945 hingerichtet wurde.
Die Idee für eine weitere
Gedenkstätte in Leipzig entstand, nachdem das Ende der DDR die Lücken in deren
»Erinnerungspolitik« offenbart hatte. Blank, die zur Widerständlerin wurde,
indem sie Zwangsarbeitern half, erklärte man in einigen Publikationen kurzerhand
zur Kommunistin. Das Schicksal der Zwangsarbeiter selbst sei dagegen kaum
gewürdigt worden, sagt Zeitschel. Als nach 1989 erste Anrufe von Überlebenden
kamen, habe sich gezeigt, dass es »für diese Menschen keine Stellen gab, an
denen sie Blumen niederlegen konnten«.
Im Leipziger Norden ist ein
solcher Gedenkort entstanden, dessen Arbeit weithin anerkannt ist. Die jüngste
Ausstellung über jüdische sowie Sinti- und Romafrauen wurde von der EU
unterstützt und soll in Polen und Israel gezeigt werden. Schüler wollen das
Thema in eigenen Projekten vertiefen - Vorhaben, die mindestens ebenso wichtig
sind wie die Aussöhnung mit den Überlebenden. Eine frühere französische
Hasag-Zwangsarbeiterin, die entsetzt war, dass ihre Enkelin ausgerechnet in
Leipzig studierte, erfuhr von der Gedenkstätte und schrieb, sie sei »stolz, dass
die Stadt das Andenken bewahrt«.
Ob die Arbeit fortgesetzt werden
kann, ist jedoch fraglich. Zwar gibt es viel Engagement für die Gedenkstätte.
Die Stadt gab 50000 Mark für den Umbau; das Umwelt-Forschungszentrum hilft;
145000 Mark wurden von Firmen und Privatleuten gespendet. Dadurch konnte sogar
einige Zeit die Forschung finanziert werden. Aber die Reserven sind
aufgebraucht, sagt Zeitschel: »Wir haben nichts mehr.« Besonders enttäuscht ist
sie über das Ausbleiben jeglicher Unterstützung durch das Land. Zwar hat der
Freistaat 1994 eine »Stiftung Sächsischer Gedenkstätten zur Erinnerung an die
Opfer politischer Gewaltherrschaft« eingerichtet. 2003 präzisierte ein Gesetz
den Auftrag. Die Einrichtung solle, so Wissenschaftsminister Matthias Rößler
(CDU), Gedenkstätten erschließen, fördern und betreuen, die »an politische
Gewaltverbrechen von überregionaler Tragweite, von besonderer historischer
Bedeutung, an politische Verfolgung, Staatsterror und an staatlich organisierte
Morde erinnern«.
Die Zwangsarbeiter-Gedenkstätte
scheint diesen Kriterien nicht zu entsprechen. Zeitschel hat Ordner voller
»Bettelbriefe« gesammelt. Wenn Antworten kommen, sind sie ablehnend. »Auch in
diesem besonders sensiblen Rahmen«, schrieb der CDU-Landtagsabgeordnete Roland
Wöller im Juni 2002, bilde »der vorhandene finanzielle Rahmen die Grenze des
Möglichen«. Daher könne »nicht annähernd allen Wünschen« nach fester Förderung
entsprochen werden. Ziel müsse sein, »durch gezielte Projektförderung
ehrenamtliche Arbeit zu unterstützen«.
Zeitschel, die jede Woche vier
Tage ehrenamtlich in der Gedenkstätte arbeitet und Nächte über ABM-Abrechnungen
und EU-Antragsformularen verbringt, fühlt sich durch derlei Äußerungen verhöhnt.
Die Chancen auf Förderung sind aber auch künftig gering, sagt Werner Bramke,
Mitglied im Leipziger Förderverein sowie im Stiftungsrat der sächsischen
Stiftung. Die Gedenkstätte, gibt der Historiker zu verstehen, widme sich aus
Sicht des Freistaats der falschen Geschichte. Sachsen, sagt Bramke, konzentriere
sich »vorrangig auf das Gedenken an die Opfer des Stalinismus« und die
»Delegitimierung der DDR«. Es gebe ein »eindeutiges Übergewicht« für die
Aufarbeitung von DDR-Unrecht. Gedenkstätten, die sich diesem Thema widmeten,
würden »materiell bevorzugt«. Selbst Einrichtungen wie ein Dokumentationszentrum
in Torgau, wo Akten zur Wehrmachtsjustiz gesammelt werden, erinnere »mindestens
zu gleichen Teilen« an ein späteres sowjetisches Straflager. In der offiziellen
Erinnerungskultur dominiere die Totalitarismustheorie, sagt Bramke. Deren Ziel:
Die Gleichsetzung von DDR- und NS-Unrecht.
Bramke, der sich in seiner Zeit
als PDS-Abgeordneter auch im Landtag gegen dieses Geschichtsverständnis
verwahrte, bezeichnet den Ansatz als problematisch. Thüringen und Brandenburg
seien um eine »leidliche Ausgewogenheit« bemüht. In Sachsen werde durch die
Einseitigkeit ein »Abstumpfen« riskiert, wie es unter anderen Vorzeichen auch
der Antifaschismus in der DDR bewirkt habe. NS-Unrecht und dessen Wurzeln in
Nationalismus und Rassismus drohten im Freistaat in Vergessenheit zu geraten.
Zentralrat der Juden beendet
Mitarbeit
Dass wichtige Verbände die Kritik
teilen, wurde jetzt erneut deutlich. Der Zentralrat der Juden hat diese Woche
seine Mitarbeit in der Stiftung aufgekündigt. Es bestehe die Gefahr einer
»Analogisierung und Relativierung von NS-Verbrechen gegenüber denen des
Stalinismus und der DDR-Staatssicherheit«, begründet Vizepräsident Salomon Korn.
Angebote zu kritischer Auseinandersetzung habe der Freistaat ausgeschlagen. Die
Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz, die seit langem kritisch zur
Arbeit der Stiftung steht, beendete gleichfalls die Mitarbeit. Das teilten
Ludwig Baumann und Professor Manfred Messerschmidt mit. Auch Sinti und Roma
zogen sich gestern zurück. Eine Neuorientierung ist aber nicht zu erwarten. Zwar
sieht die PDS, die der Stiftungsarbeit seit langem kritisch gegenüber steht, im
Austritt des Zentralrats eine »Quittung, die für ganz Deutschland fatal ist«.
Minister Rößler reagierte aber lediglich mit Unverständnis. Für die Entscheidung
gebe es »keinerlei Anlass«.
Bedauerlich ist die sächsische
Erinnerungspolitik vor allem für Gedenkstätten wie die in Leipzig. Für sie ist
die Stiftung die letzte Hoffnung. Die Bundesregierung fördert nur dort, wo sich
auch die Länder beteiligen. Die Stadt, erklärte das Rathaus im März 2002, könne
wegen des Sparzwangs »leider keinerlei Projektkosten für eine Personalstelle
fördern«.
Angesichts all der Absagen könnte man Charlotte Zeitschel etwas Pessimismus
nicht verdenken. Im Februar laufen auch noch die ABM-Stellen in der Gedenkstätte
aus. Unklar ist, wie dann die tägliche Arbeit bewältigt werden soll, von
Forschung ganz zu schweigen. »Ich würde mich gern ein wenig zur Ruhe setzen«,
sagt die 77-Jährige, »aber ich kann nicht.« Ebenso wenig, wie sie resignieren
kann. Dass sie vom Bundespräsidenten eingeladen wurde, ihm eine Dokumentation
übergeben konnte und ermutigende Worte zu hören bekam, habe ihr Kraft gegeben,
sagt Zeitschel. Dann zückt sie das Autogramm. Manchmal ruht die Hoffnung auf
einer Unterschrift - selbst wenn diese nicht auf einem Förderbescheid, sondern
auf einer Menükarte steht.