Hamburg:
Das Original im Rohbau
Der Schatten des Ronald Schill ist immer dabei: Der
Wahlkampf der Partei Rechtsstaatlicher Offensive in Hamburg ist der Versuch des
politischen Überlebens von Männern, die nicht zurück wollen an die Biertische,
an denen sie früher schimpften...
Sven-Michael Veit
So
sehen Heimspiele in der dritten Liga aus. Da steht er im dezenten blauen Anzug,
der Nachfolger, und sagt Sätze wie, das Kopftuch sei "Ausdruck eines politischen
Kampfes" und müsse deshalb "weg". Konzentriert und präzise ist Dirk Nockemann,
der Hamburger Innensenator, der morgen zum Spitzenkandidaten gekürt werden wird
von seiner Partei Rechtsstaatlicher Offensive, die mal Schill-Partei sich nennen
ließ. Das aber war einmal, auch exakt hier im Landhaus Jägerhof in Hamburgs
südlichstem Bezirk Harburg, vor zweieinhalb Jahren.
Brechend voll war der Große Saal seinerzeit und erfüllt von Beifallsstürmen. An
die 500 Menschen mögen es gewesen sein, Dutzende Kamerateams und Reporter aus
ganz Deutschland waren dabei, und mehrere hundert Leute standen noch draußen auf
dem Parkplatz vor den Lautsprechern. Damals im Spätsommer 2001, als der
Triumphzug des Ronald Schill sich seinem Höhepunkt näherte.
Jetzt, am regnerischen Mittwochabend, steht Nockemann nebenan im Wappenzimmer.
"Danke, dass Sie so zahlreich gekommen sind, bei diesem Wetter", begrüßt er sein
Publikum. Ein Reporter vom ZDF ist da, weil er "Wahlkampfsplitter" braucht, die
Frau vom lokalen Anzeigenblatt und die taz. Der Rest der Metropolenmedien kommt
nicht mehr, nicht mal die Bild-"Zeitung". Etwa 70 Menschen sitzen an fünf langen
Tischen, bei Bratkartoffelgerichten, Pils und Zigaretten nehmen sie Nockemanns
Ankündigung mit Beifall auf, er wolle "unsere erfolgreiche Politik fortsetzen",
auch ohne den Mann, "der deftig formulieren konnte, das gewiss, aber über sich
selbst gestolpert" sei. "Schill", sagt Nockemann, "hat viel bewegt." Aber nun
gehe es um morgen, und da zähle "das Programm, nicht die Person".
Vom
Büroleiter Schills zu dessen Erbe als Senator ist der 45-jährige Jurist
aufgestiegen, aus den Parteibroschüren wurde Schill getilgt, aber Geist und
Inhalt seien geblieben, beschwört Nockemann sein Publikum: "Wählen Sie", mahnt
er, "das Original." Denn bislang stehe erst "der Rohbau, und den wollen wir
fertigstellen". Mehr Polizisten und weniger Dealer, jährlich neue
Abschieberekorde und geschlossene Heime für minderjährige Straftäter - das alles
sei erst der Anfang, sagt der Mann, der in seinen wilden Jahren mal bei den
Jusos anfing. Aber das hat er überwunden.
"Terroristen müssen schon beim Verdacht auf terroristische Planungen ausgewiesen
werden", fordert er jetzt. Dröhnender Beifall ist ihm gewiss, hier in Harburg,
wo Mohammad Atta und die anderen Attentäter des 11. September gewohnt hatten.
Jeder vierte hier im Bezirk hatte zwölf Tage später Schill gewählt. Den
Höchstwert mit 34,9 Prozent hatte der Stadtteil Wilhelmsburg beigesteuert,
"Klein-Istanbul", wo jeder Dritte Nicht-Deutscher ist, gerade mal 45 Prozent der
Jugendlichen und Erwachsenen einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung
nachgehen und die Kriminalitätsrate um zehn Prozent über dem Hamburger
Durchschnitt liegt.
"Wir
wollen keine Parallelkulturen", sagt Nockemann, der acht Jahre lang Chef der
Abschiebebehörde in Mecklenburg-Vorpommern war, bevor er nach Hamburg kam. Und
die Erweiterung der EU nach Osten oder gar bis in die Türkei auch nicht. Denn
dann, warnt er, "dann haben sie Reisefreiheit, die aus Anatolien und die Roma
und Sinti auch, dann hält sie nichts mehr auf".
Am
Abend zuvor stand sein Parteichef im Hamburger Osten vor der Basis, der Sinti
Mario Mettbach, der sich selbst schon mal als "alten Zigeuner" bezeichnet im
vertrauten Kreis, wenn er sich jovialen Schmunzelns gewiss sein kann. Ronald
Schill habe "Großartiges geleistet", lautet seine Vergangenheitsbewältigung, er
habe "uns weggeführt von den Biertischen, wo wir geschimpft haben".
Weggeführt hierher, ins Souterrain eines Hotels, das die Kreuzung zweier
vierspuriger Ausfallstraßen schmückt, weggeführt auch ins mediale Abseits: einer
vom NDR, der vom ZDF und der von der taz repräsentieren Hamburgs Pressevielfalt
beim Wahlkampfauftakt mit Mettbach und Fraktionschef Norbert Frühauf, die sich
schon von früher kennen, als sie noch gemeinsam in der CDU waren. Zusammen mit
Nockemann bilden sie jetzt das Trio, das den Wiedereinzug in die Hamburger
Bürgerschaft bei der vorgezogenen Neuwahl am 29. Februar schaffen soll. Zwei,
vielleicht nur ein Prozent sagen Demoskopen ihnen voraus, den Erben des Mannes,
der im September 2001 aus dem Stand mit 19,4 Prozent die politische Szenerie der
Hansestadt aufgemischt hatte.
27,6
Prozent sogar waren es hier in Billstedt gewesen, wo die Arbeitslosigkeit den
Landesdurchschnitt um ein Viertel übertrifft, der Ausländeranteil um ein Drittel
und die Zahl der SozialhilfebezieherInnen um das Doppelte. Jede zweite Wohnung
im Stadtteil ist eine Sozialwohnung, und als Mettbach, der 51-jährige
Bausenator, über die Erfolge seiner Amtszeit referiert, sagt er: "Über Probleme
in Großsiedlungen will ich jetzt nicht reden, damit sich niemand hier
angesprochen fühlt."
50
Menschen lauschen ihnen, für 200 wäre Platz. Sieben Frauen und 43 Männer,
Altersdurchschnitt 55plus. "Lassen Sie sich nicht irritieren", mahnt Mettbach,
"Schill" stehe auch irgendwo auf den Wahlzetteln, "aber wir sind die Partei
Rechtsstaatlicher Offensive, die drittstärkste Kraft in Hamburg." Auf Rang drei
hinter SPD und CDU wird sie deshalb aufgeführt werden, das sei "leicht zu
finden", versichert der Hauptmann a.D., "kreuzen Sie einfach Liste 3 an", damit
wir, ergänzt Frühauf, "weiter wuseln können".
Weiter wuseln an der Erfolgsbilanz, welche die beiden Wahlkämpfer eine Stunde
lang referieren: Weniger "überflüssige Verkehrshindernisse, also Poller", mehr
Videoüberwachung in U-Bahnen und an öffentlichen Plätzen, Tempo 60 auf
Hauptstraßen, aufgelöste Bauwagenplätze - Hamburg sei nicht mehr "die Hauptstadt
des Verbrechens, weil wir für Sicherheit und Ordnung gesorgt haben". Die
Kriminalitätsstatistik des Vorjahres, die nächste Woche veröffentlicht werden
soll, wird einen Anstieg um etwa zwei Prozent ausweisen. Aber das sagt keiner
der beiden.
Etwas mehr als eine Stunde lang reihen sie Erfolg an Erfolg, klein in klein
berichtet der 45-jährige Rechtsanwalt Frühauf von seinem heroischen Kampf gegen
eine starre Bürokratie für Hundeklos in Billstedt, höflicher Applaus belohnt
sie. Als um Publikumsfragen gebeten wird, springt ein drahtiger Mittfünfziger
eifrig auf: "Finden Sie nicht auch, dass die SPD ein Unsicherheitsfaktor ist?"
Mettbach und Frühauf nicken.
Und
eben deshalb dürfe die Stadt "nicht wieder zur Beute von Rot-Grün werden", warnt
24 Stunden später Nockemann im Harburger Gasthof an der B73, der Ausfallstraße
ins nahe Niedersachsen. Denn dann würden sie "mutwillig nicht mehr bekämpft",
die Verbrecher, die Dealer, die Terroristen, genau wie früher. Er wolle, sagt
der Innensenator, "keinem kurzen Prozess das Wort reden", aber "akustische
Wohnraumüberwachung, die die Linken als Lauschangriff diffamieren" müsse erlaubt
werden, auch "verdachtsunabhängige Kontrollen" auf Straßen und Plätzen und der
polizeiliche "finale Rettungsschuss" gegen Gewaltverbrecher. Denn, sagt der
Innensenator, "wir müssen uns doch schützen vor offensichtlicher Gefahr".
Das finden die auch, zu denen Nockemann spricht, und als er sagt, die
Rechtsstaatliche Offensive sei "eine seriöse konservative Partei, die im
demokratischen Spektrum verankert ist", widerspricht auch niemand.
die tageszeitung
taz - die tageszeitung Nord vom 16.01.2004
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/ 2004-01-16
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