Doch das Schlesische Museum, meint Weiss, zeigt auch, dass es
eine Chance zur Versöhnung gibt: Dann nämlich, "wenn es gelingt, mit unseren
Nachbarn gemeinsam die Lücken in der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu
schließen". Kein Berliner "Zentrum gegen Vertreibung" brauchten die Deutschen
deshalb, sondern eine europäische Lösung.
Mit dieser Forderung weiß sich die deutsche Staatsministerin
einig mit dem früheren polnischen Außenminister Wladyslaw Bartoszewski.
Bartoszewski nannte auch gleich einen Standort für ein solch europäisches
Zentrum gegen Vertreibung: die deutsch-polnische Stadt Görlitz und Zgorzelec.
Ein Zentrum der Vertriebenen ist die Neißestadt, aus der nach
dem Krieg das deutsche Görlitz und das polnische Zgorzelec wurde, in der Tat. In
der Hoffnung, bald wieder nach Schlesien zurückkehren zu können, machten nicht
nur Flüchtlinge, sondern Vertriebene in Görlitz Halt. Binnen kürzester Zeit
wuchs die Einwohnerzahl am westlichen Neißeufer auf über 100.000. Vor dem Krieg
hatte Görlitz 93.800 Einwohner gehabt, auf beiden Seiten der Neiße.
Görlitz wurde zur heimlichen Hauptstadt der Vertriebenen.
Während der Anteil der Vertriebenen in der DDR 1949 knapp ein Viertel betrug,
lag er in Görlitz bei 37,5 Prozent. Auch nach der Anerkennung der
Oder-Neiße-Grenze durch die DDR blieb das Thema virulent. Während des
Volksaufstands vom 17. Juni 1953 war in Görlitz immer wieder die Revision der
Grenze gefordert worden.
Was viele Görlitzer nicht wissen: Auch Zgorzelec war nach dem
Krieg ein Zentrum der Vertriebenen. Nach der Westverschiebung der polnischen
Grenze waren es vor allem Vertriebene aus Ostpolen, die in die ehemals deutschen
Gebiete umgesiedelt wurden. So wurde Görlitz nicht nur zu einer geteilten Stadt,
sondern auch zu einer Stadt mit unterschiedlichen Erinnerungen. Während für die
Görlitzer das Thema Vertreibung im Vordergrund stand, war es in Zgorzelec die
Furcht, dass die Deutschen eines Tages zurückkehren.
Die Lücken in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, von denen
Christina Weiss spricht, betreffen aber nicht nur das mangelhafte Wissen um das
Schicksal derer, die es auf das jeweils andere Neißeufer verschlagen hat.
"Lücken gibt es auch in der eigenen Erinnerungskultur", sagt Urszula Zubrzycki.
Wie viele ihrer Generation hat sich die 35-jährige polnische Lehrerin nach der
Wende auf die Suche nach den Spuren der Vergangenheit gemacht, hat die
Geschichte der Region studiert, die von Görlitz, ihrer "kleinen Heimat", wie sie
es nennt. "Wenn ich mit meinen Schülern durch Görlitz gehe, sagte ich ihnen,
dass das auch ihre Stadt ist, dass die Geschichte von Zgorzelec auch die von
Görlitz ist."
Geschichten wie diese hört man in Görlitz gerne. Geschichten
wie diese braucht man auch, wenn die 1998 proklamierte "Europastadt
Görlitz/Zgorzelec" im Jahre 2010 tatsächlich europäische Kulturhauptstadt werden
will. Schließlich ist die Lage an der Grenze neben dem grandiosen Stadtbild das
Pfund, mit dem man gegenüber den Mitbewerbern wuchern kann. Und zugleich ist sie
die größte Bürde. Denn aus der europäischen Identität, die die Stadtoberen ihren
Bürgern verordnet haben, ist noch immer keine gemeinsame Erinnerungskultur
geworden. Und manchmal kommt es sogar dazu, dass alte Wunden wieder aufbrechen.
Urzula Zubrzycki hat es zu spüren bekommen. Auf einer
Veranstaltung mit dem Titel "Werkstatt Europa" hatte sie im "Salon" in Zgorzelec
zusammen mit ihrem Ehemann ein neues Projekt vorgestellt, das Zgorzelecer
"Museum der Lausitz". "Schließlich", erklärt Urszula Zubrzycki, "wissen die
wenigsten Görlitzer, dass Görlitz und Zgorzelec zur Oberlausitz gehören, dass es
eine sorbische Kultur auch in Zgorzelec gab."
Die Reaktionen der Görlitzer ließen nicht lange auf sich
warten. "Warum ausgerechnet ein Lausitzmuseum?", fragte eine ältere Frau bei der
Vorstellung des Projekts. "Warum unterstützen sie uns nicht dabei, Görlitz und
Zgorzelec als niederschlesische Stadt bekannt zu machen?" Ein anderer Kritiker
befürchtete beim Stichwort Sorben gar, dass es den Zubrzyckis darum gehe, die
alte Ideologie der "wiedergewonnenen Gebiete" zu beleben, jenes slawischen
Stammlandes also, in das die Polen 1945 nicht als Neusiedler kamen, sondern als
Rückkehrer.
Dass sich am Namen eines Museums ein Streit um regionale
Identität entzünden kann, wundert Kazimierz Wóycicki nicht. Der Zeithistoriker
und Leiter des Polnischen Instituts in Leipzig hat in Görlitz und Zgorzelec mit
dem "Görlitzer Mittwoch" eine deutsch-polnische Gesprächsreihe initiiert, die
inzwischen ihr Stammpublikum gefunden hat. "Auf diesen Veranstaltungen ging es
bislang immer sehr diplomatisch zu. Jeder hat sich bemüht, den anderen zu
verstehen. Doch auf den Nachhauseweg", sagt Wóycicki lächelnd, "da haben die
Deutschen über die Polen geschimpft und die Polen über die Deutschen."
Wenn Wóycicki von Erinnerungskultur spricht, dann deshalb
immer im Plural. Dass die Görlitzer nach der Wende ihre schlesische
Vergangenheit entdeckt haben, ist für ihn ebenso Teil einer Suchbewegung wie die
Entdeckung der deutschen Vergangenheit auf der polnischen Seite, einer
Vergangenheit, die lange Zeit tabu war. "Auf beiden Seiten sind diese neuen
Erinnerungskulturen Teil einer kollektiven Geschichtserzählung und
Identitätsfindung", sagt Wóycicki. "Ein Problem taucht erst dann auf, wenn man
wie hier an der Grenze diese Suche gemeinsam unternehmen will."
"Getrennte Nachkriegsgeschichten" nennt Wóycicki deshalb die
geteilte Erinnerung in Görlitz und Zgorzelec. Die beschäftigt inzwischen auch
die Museumsexperten in Görlitz. Mitte Dezember waren sie im Görlitzer
Apollo-Theater zusammengekommen, um zusammen mit den Zubrzyckis über die
Erinnerungskulturen zu diskutieren. Mit einem Lausitzmuseum habe er keine
Probleme, erklärt Jasper von Richthofen, der Direktor des Kulturhistorischen
Museums in Görlitz. Entscheidend sei aber, welche Zeit ausgestellt werde. "Die
Geschichte der Lausitz beginnt nicht erst mit dem Beginn der Piastenherrschaft
und sie hört auch mit ihrem Ende nicht auf." Die Schlesienfans erinnerte von
Richthofen daran, dass Görlitz erst 1815 Teil der zu Schlesien gehörenden
preußischen Provinz Oberlausitz wurde.
"Entscheidend ist doch", versucht Tobias Weger vom
Schlesischen Museum zu vermitteln, "welchen Zugang zur Erinnerung man wählt,
einen ethnischen oder einen regionalen." Doch auch der regionale Charakter des
Schlesischen Museums, ergänzte Jasper von Richthofen, habe nicht verhindern
können, dass dieses Museum für viele Polen noch immer eine Provokation sei.
Die Lücken in der Geschichte des 20. Jahrhunderts existieren
noch immer, gerade in einer Doppelstadt wie Görlitz und Zgorzelec, in der nicht
nur die biografischen Erinnerungen aufeinander prallen, sondern auch die
nationalen Erinnerungskulturen. Für Kazimierz Wóycicki ist es deshalb umso
wichtiger, "die Konflikte auszutragen, damit wir eines Tages nicht aus einem
bösen Traum aufwachen und feststellen, dass wir alles andere sind, nur keine
Europastadt".
Die Befürchtungen sind berechtigt. Als im Sommer die
Bewerbung zur Kulturhauptstadt im Zgorzelecer "Dom Kultury" gefeiert wurde, gab
es eine Schlägerei zwischen deutschen und polnischen Jugendlichen. Und das
ausgerechnet vor jenem Gebäude, das die geteilten Erinnerungen wie kaum ein
anderes verkörpert. In der ehemaligen "Oberlausitzer Gedenkhalle" war, bevor sie
zum Sitz eines Kulturhauses wurde, am 6. Juli 1950 der Grenz- und
Freundschaftsvertrag zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen unterschrieben
worden.