Die Großleinwände stehen schon bereit, sogar in alternativen
Kulturzentren muss der Kinosaal für die Live-Übertragung herhalten. Nein, die
Fussball-EM mit Schweizer Beteiligung steht erst noch bevor. Was am heutigen
Mittwoch die Schweizer in den Bann der Mattscheibe zieht, erscheint im
Fernsehprogramm weder unter Sport noch in der Rubrik Unterhaltung: Politik ist
angesagt. Es gilt, einer Entscheidung von epochalem Charakter beizuwohnen. Wird
die parteipolitische Zusammensetzung des Bundesrates nach über vierzig Jahren
erstmals geändert? Und zwar, indem ausgerechnet die schillerndste Figur aus
Politik und Wirtschaft in der Regierung einen Sitz erhält?
Bei einem entsprechenden Wahlerfolg von Christoph Blocher
wäre die Schweizerische Volkspartei (SVP) mit zwei Mitgliedern im siebenköpfigen
Bundesrat vertreten, was der Partei nach ihrem Erfolg bei den Parlamentswahlen
von Ende Oktober durchaus zugestanden werden kann. Mit 27 Prozent Wähleranteil
ist die SVP zur stärksten Partei avanciert (Jungle World, 44/03).
In der großen Kammer des eidgenössischen Parlaments, dem
Nationalrat, stellt sie mit 55 Abgeordneten die größte Fraktion. Vor acht Jahren
waren es noch 29. Ebenfalls zugelegt haben SP und Grüne. Zu den Verlierern
gehören die FDP und die Christdemokraten (CVP). Das neu konstituierte Parlament
wird am heutigen Mittwoch den Bundesrat wählen.
Wie das Spektakel genau über die Bühne gehen wird, weiß
niemand. Nach wochenlangen Gesprächen zwischen den Parteispitzen, konnte man
sich einzig darauf einigen, die Wahlen ordentlich über die Bühne bringen zu
wollen. Das lässt tief blicken.
Seinen Anfang genommen hat der Wahlkrimi am Abend des 19.
Oktober. Nachdem der Sieg der SVP feststand, hat Ueli Maurer, Präsident der
Schweizerischen SVP, das Ziel durchgegeben: Angesichts ihrer deutlichen Gewinne
sei die Zeit reif für einen zweiten Sitz für die SVP im Bundesrat. Damit
rüttelte Maurer an einer 44jährigen Tradition. Seit 1959 ist die
parteipolitische Zusammensetzung der Schweizer Regierung unverändert geblieben.
SP, FDP und CVP stellen je zwei Minister, während die SVP als traditionell
wählerschwächste der vier Regierungsparteien mit einem Posten Vorlieb nehmen
musste. Diese Zusammensetzung ging als »Zauberformel« in die Geschichte ein.
Ist die Forderung der SVP nach einem zweiten Sitz noch
einigermaßen nachvollziehbar, so folgte die Provokation, als Maurer den Namen
des Kandidaten bekannt gab: Christoph Blocher. Und dazu die Drohung: Sollte das
Parlament Blocher nicht in die Regierung wählen, geht die SVP in die Opposition.
Die Reaktion auf den Bundesratskandidaten Blocher war
absehbar. Empörung allerorten. Je weiter weg vom Geschehen, desto lauter der
Aufschrei. »Ein milliardenschwerer Nazi«, titelte die italienische Zeitung
L’Unità. Die Schweiz sei auf dem Weg zum Haiderismus, hieß es in Madrid. Wer
aber ist dieser Blocher, der außerhalb des Landes wohl bekannteste Schweizer
Politiker? Zweifellos beherrscht der reiche Industrielle das Spiel mit rechten
Reflexen gegen das Establishment perfekt. Beliebtes Feindbild ist die »Classe
Politique«, eine verfilzte Machtelite, der sich Blocher trotz seiner 24 Jahre
als Mitglied im Bundesparlament selbstverständlich nicht zugehörig fühlt. Das
politische Programm der SVP kann als nationalliberal bezeichnet werden, um nicht
den abgegriffenen Terminus des Neoliberalismus bemühen zu müssen. Programmatisch
zusammenfassen lässt sich das in Forderungen wie: Steuern runter,
»Scheinasylanten« raus, kein Beitritt der Schweiz zur EU und immer währende
Neutralität.
Trotz aller Ähnlichkeiten mit Parteien wie Jean-Marie Le Pens
Front National oder Jörg Haiders Freiheitlichen unterscheidet sich die SVP in
wesentlichen Punkten, zum Beispiel in der menschenverachtenden Rhetorik, wie sie
Le Pen und Haider pflegen. Blocher geht zwar nicht gerade zimperlich mit seinem
politischen Gegner um, antisemitische Wendungen indes gehören nicht zu seinem
Vokabular. Von weiter rechts außen wurde Blocher auch schon des Philosemitismus
bezichtigt, weil seine Töchter Magdalena, Miriam und Rahel alttestamentliche
Namen tragen. Eines der dunkelsten Kapitel in Blochers politischer Biografie ist
sein Engagement in der »Arbeitsgruppe südliches Afrika« ASA, einer Lobby für die
Apartheid, deren Positionen auch größtenteils in den bürgerlichen Parteien
geteilt wurden. In der Vereinspostille wurde das rassistische Regime gegen eine
Machtübernahme des »kommunistischen« African National Congress verteidigt.
Insgesamt ist die SVP eine heterogene Partei, deren Ausleger
von der politischen Mitte bis nach rechts außen reichen. Dass in den vergangenen
Jahren die konservativen Tendenzen gestärkt wurden, ist nicht alleine in der SVP
zu beobachten. Auch die beiden anderen bürgerlichen Regierungsparteien FDP und
CVP erodierten in der Mitte und suchen ihren Erfolg nun im rechten Spektrum. Am
ehesten lässt sich Blocher mit einer Figur wie dem früheren deutschen
CSU-Politiker Franz Josef Strauß vergleichen.
Blocher in der Schweizer Regierung wäre nüchtern betrachtet
kein Skandal. Zum einen ist er im Bundesrat nur einer von sieben Ministern.
Außerdem besteht die Wahrscheinlichkeit, dass er nicht wie beabsichtigt der
angeschlagenen CVP einen Ministerposten wegschnappt, sondern den vakanten Sitz
der nach rechts aufgerückten FDP übernimmt. So bliebe eine Mitte-Links-Mehrheit
von SP und CVP im Siebenergremium erhalten.
Wird Blocher nicht gewählt – auch das ist ein realistisches
Szenario –, droht die SVP mit dem Gang in die Opposition. Diese Drohung ist
ernst zu nehmen. Konkrete Folge dieser so genannten Opposition wäre eine
Obstruktionspolitik mittels Referenden. Damit würden missliebige
Gesetzesvorschläge für längere Zeit blockiert und müssten nach einem Verdikt der
Bevölkerung vom Parlament neu ausgearbeitet werden. Und zwar mit dem ständigen
Risiko, dass die SVP ein Referendum initiiert.
Deshalb gehen Schweizer Politikwissenschaftler davon aus,
dass die SVP in der Opposition höchstens über eine einzige Legislaturperiode
auszuhalten wäre. Danach würden die übrigen Parteien alles daran setzen, die SVP
wieder in die Allparteienregierung einzubinden. In zentralen Bereichen der
Bundespolitik, wie etwa Renten, Altersvorsorge, Haushalt oder Verteidigung, ist
der Weg bereits von der amtierenden Regierung vorgezeichnet. Dabei wird eines
klar: Um unsoziale Politik zu machen, braucht es keinen Blocher.