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Kunstmaler Karl Kister:
Euthanasieakten in Stasiarchiven

Die Künstler unter den Opfern dienten den Nationalsozialisten zur Definition von "entarteter Kunst"...

Sabine Kebir

Wenn er seine depressive Phase nahen fühlte und sich im thüringischen Dörfchen Rauenstein aufs Fahrrad setzte, um zu seinem Arzt nach Sonneberg zu fahren, war es manchmal schon zu spät. Die düsteren Gedanken setzten ihm so zu, dass er unterwegs abstieg und sich die Pulsadern öffnete. Irgendein doch noch vorhandener Überlebensinstinkt muss ihm eingegeben haben, die Aktion so nahe am Straßenrand zu beginnen, dass er jedes Mal von Autofahrern beobachtet, aufgelesen und einer Rettung zugeführt wurde. 1939 war damit aber Schluss: der manisch-depressive Volkshochschullehrer und Kunstmaler Karl Kister wurde aus dem Dienst entlassen und in die Nervenheilanstalt Bernburg eingewiesen. Seine Frau und seine beiden minderjährigen Töchter blieben fast mittellos zurück.

Eine Weile versuchte man in Bernburg, Kisters Leiden mit Elektroschocks beizukommen. Die Vorbereitungen dazu erschienen ihm jedesmal bereits wie Prälimenarien seiner Hinrichtung. Schließlich wurde tatsächlich erwogen, ob ihm nicht der "Gnadentod" erwiesen werden solle. Dass er weniger aus Überzeugung als aus Opportunismus - wie die meisten Lehrer - immerhin Mitglied der NSDAP gewesen war, spielte dabei keine Rolle. Karl Kister war ein künstlerisch begabter, leidenschaftlicher Mensch, der immer wieder von tiefen Depressionen heimgesucht wurde. Als Maler beschäftigte er sich fast ausschließlich mit dem Wald, den er zu allen Jahreszeiten als geheimnisvoll und undurchdringlich darstellte, ein einziges Dickicht. Der Mann war mein Großvater.

"Kranke" Kunst

Durch dieses persönliche Motiv wurde ich auf den Kunstband Todesursache: Euthanasie aufmerksam. 30.000 von insgesamt an die 70.000 lange als verschollen geltende Kranken- bzw. Opferakten wurden in den Staatssicherheitsarchiven der DDR gefunden. Der Band konzentriert sich auf eine Auswahl von Akten, die auch künstlerische Äußerungen enthalten. Es geht hier also um jene nervlich sensiblen Opfer des nationalsozialistischen Volksgesundheitswahns, in deren künstlerischer Aktivität zusätzliche Beweise für ihre angebliche Lebensuntauglichkeit gesucht wurden. Denn wenn sich psychisch Kranke damals auch künstlerisch ausdrückten, war das für viele Ärzte kein Material, in dem sie Hinweise auf Heilungsmöglichkeiten suchten. Noch weniger wurde künstlerische Beschäftigung als Therapiemöglichkeit angesehen. Wenn eine Zeichnung beispielsweise durch einen Hang zu ornamentalen Verschlingungen - im Grunde ein später Jugendstil - dem naturalistischen Kunstideal der Nazis nicht entsprach, konnte sie schon leicht als Beweis eines kranken Denk- und Fühlsystems aufgefasst werden. Als bedenklich galten natürlich auch Hinweise auf sexuelle Ängste oder Obsessionen.

"...wir hoben die krankhaften Erzeugnisse der Künstler nicht auf, sondern wir zerstörten sie", so lautete das gewalttätige Heilungscredo des Klinikleiters Carl Schneider, das er übrigens im Rahmen eines Vortrags über "entartete Kunst" 1939 darlegte. Damit wollte er zugleich zum Ausdruck bringen, dass die vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten allgemein anerkannte Kunst der Expressionisten, Dadaisten und Konstruktivisten auf dieselbe Stufe wie die so genannte "Irrenkunst" gestellt werden müsse. Während die vor der Nazizeit gesellschaftliche Anerkennung genießenden Künstler jetzt zwar geächtet und oft ins Exil getrieben wurden, konnten die noch Unbekannten wie Franz Karl Bühler oder Paul Goesch als unheilbar geisteskrank erklärt, öffentlich als "Ballastexistenzen" verfemt und schließlich den Euthanasiegesetzen unterworfen werden.

Im Oktober 1939 verfügte Hitler auf privatem Briefpapier, die Befugnisse bestimmter Ärzte so zu erweitern, "daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Gesundheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann". Die Weisung wurde auf den Tag des Kriegsbeginns, den 1. September, rückdatiert, was zeigt, dass Hitler in der Eliminierung Hunderttausender Kranker, die in den Heilanstalten lebten, einen ernsthaften Beitrag zur Kriegsökonomie verstand. Da die Euthanasie von vornherein als Massentötung verstanden wurde, wurde dafür das System "Tötung in der Gaskammer" entwickelt. In den sechs Gasmordanstalten Grafeneck/ Württemberg, Brandenburg/Havel, Sonnenstein/Pirna, Bernburg/Saale, Hadamar/Hessen und Hartheim/Linz in Oberösterreich wurden bis August 1941 70.273 Kranke umgebracht.

Bekanntlich erregte die Vergasung von Roma, Polen und Juden in der deutschen Bevölkerung kaum wirksamen Protest. Dies war anders im Falle der "eigenen" Kranken, obwohl die Behörden stets versuchten, den Angehörigen einen "natürlichen" Tod vorzugaukeln. Nach einer Protestpredigt des Münsteraner Bischofs Graf von Galen verfügte Hitler am 24. August 1941 das Ende der Euthanasiemaßnahmen gegen arische Kranke. Der Führer konnte oder wollte die von ihm selbst autorisierten bösen Geister aber nicht wirklich bändigen. Das Morden auch von "arischen Ballastexistenzen" ging in verdeckteren Formen weiter, unter anderem per Giftspritze, aber auch durch systematische Vernachlässigung und sogar durch Aushungern. Als 1943 Nervenheilanstalten in Lazarettkrankenhäuser umgewandelt werden sollten, kam es zu einer regelrechten Tötungswelle. In den Gasmordanstalten Bernburg und Hartheim wurde das Töten von arbeitsunfähigen und kranken KZ-Insassen bis 1944 fortgeführt.

Wundersame Rettung

Der sorgfältig edierte Band, eigentlich auch ein Zeugnis der von den Nazis als "entartet" verfemten Kunst, enthält nicht nur Akten über sehr unterschiedliche Krankheitsfälle, sondern auch Kunst von unterschiedlichem Rang: angefangen von gängigen Postkartenmotiven bis zu Arbeiten, die nach dem Ende des Nationalsozialismus als bedeutende Werke hätten anerkannt werden können. Auch das oft in den "Krankenakten" signalisierte hohe Selbst-, ja Sendungsbewusstsein der "Patienten" beziehungsweise zuweilen auch das Gegenteil, eine deutlich zutage tretende Schizophrenie oder andere neurotische Erscheinungen hätten unter geänderten gesellschaftlichen Wertsetzungen durchaus als interessantes Charaktermerkmal wirklicher Künstlerexistenzen gelten können.

Mein Großvater kam auf wunderbare Weise in den Genuss eines solchen Paradigmenwechsels. Ein Arzt der Bernburger Anstalt - ich kann ihn nur Dr. X nennen - machte der im nahegelegenen Sondershausen lebenden Mutter klar, dass sie ihren Sohn nur retten könne, wenn sie ihn zu sich nach Hause nähme. Er fand einen Weg, Kister rechtzeitig mit den Antidepressiva zu versorgen. Seiner Mutter gegenüber äußerte mein Großvater immer wieder: "Wenn Dr. X nicht gewesen wäre, hätten sie mich vergast".

Nach dem Krieg ging Dr. X an die große Nervenheilanstalt von Schleswig. Seinen Patienten Kister nahm er mit. Dr. X wusste, dass er ein normales Leben führen konnte, wenn er sicher sein konnte, beim ersten Depressionszeichen seine Medikamente zu bekommen. Der Arzt ermöglichte ihm ein "betreutes", aber doch unabhängiges Wohnen in einem kleinen Pavillon, der auf dem riesigen, stellenweise von Wald bedecktem Klinikgelände lag. Wald entsprach dem Geschmack meines Großvaters, der in früheren Zeiten auch eine Jagd gepachtet hatte. Jetzt, in Schleswig, lichteten sich seine Waldbilder. Die Stadt mit ihrem eindrucksvollem Dom schimmerte im Hintergrund durch die Bäume hindurch: sie war ihm schnell zur neuen Heimat geworden. Er verdiente nicht schlecht als Privatlehrer, hatte Ausstellungen, verkaufte Bilder. Mir schickte er selbstgemalte Postkarten nach Leipzig. Am besten gefiel mir die, auf der er in den entschieden zu düsteren Wald ein paar hell leuchtende Ostereier gesetzt hatte.

Unglück und Glück meines Großvaters sagen viel aus über die enorme Bedeutung des Wertesystems, nach dem sich eine Gesellschaft bis in die Ökonomie hinein organisiert. Es entscheidet nicht nur darüber, was als "normal" gilt, sondern auch, wie mit der "Differenz" umgegangen wird, ob sie als "Störung" oder "Bereicherung" verstanden wird. Der Band, ursprünglich der Katalog einer in Heidelberg veranstalteten Ausstellung, kommt gerade rechtzeitig, um Nachdenken darüber auszulösen, ob wir uns nicht bereits wieder in einem Paradigmenwechsel befinden, der in die falsche Richtung führt.

Todesursache: Euthanasie. Verdeckte Morde in der NS-Zeit. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2002, 176 Seiten, 233 Abbildungen, 29 EUR

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Freitag Nummer 48 vom 21.11.2003

kt / hagalil.com / 2003-11-28

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