Im Berliner Bezirk Kreuzberg hatte bis zum Jahr 1938 der
jüdische Arzt Dr. med. Arthur Jacobsohn seine Praxis für Allgemeinmedizin und
Geburtshilfe. Bis weit in die dreißiger Jahre hinein versorgte der Hausarzt
seine Patienten. Jacobsohn ging davon aus, dass seine aktive Teilnahme als
Offizier im Ersten Weltkrieg ihn und seine Familie vor der "Rassenreinigung" der
deutschen Gesellschaft durch die Nazis schützen könnte. Das war in der ersten
Zeit des NS-Regimes auch der Fall: Immerhin galt für die erst 1933 gegründete
Dachorganisation der niedergelassenen Kassenärzte in Deutschland, die
Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands (KVD), dass im Zuge der Gleichschaltung
der Ärzte jüdischen Kollegen zwar zunehmend die Zulassung entzogen wurde,
"Frontkämpfer" des Ersten Weltkrieges davon aber nicht betroffen waren.
Eine trügerische Sicherheit allerdings, die Jacobsohn mit
nicht wenigen seiner jüdischen Mitbürger nicht nur in der Reichshauptstadt und
nicht nur seiner Berufsgruppe teilte. Denn nach der vierten Verordnung zum
Reichsbürgergesetz vom 25. Juli 1938 galten diese Ausnahmen von einem Tag zum
anderen nicht mehr. Jacobsohns Approbation erlosch, er durfte sich nicht mehr
Arzt nennen, sondern nur noch "Krankenbehandler". Dass "Arier" nicht zu seinem
Patientenkreis zählen durften, verstand sich von selbst. Der Arzt aus Kreuzberg
gab auf. Unter großen Anstrengungen gelang es ihm, seiner Frau und seiner
Tochter Ilse, nach Amerika zu gehen, wo er nach strengen Prüfungen wieder als
Arzt tätig sein durfte.
Massenhafte Partei-Anhängerschaft
Ein vergleichsweise erträgliches Schicksal, wenn man bedenkt,
dass im Berlin der dreißiger Jahre unter etwa 3.600 Kassenärzten ungefähr 2.000
Juden waren, von denen nicht wenige in die Konzentrationslager verbracht und
dort ermordet wurden. In ihre Praxen rückten andere Ärzte nach, "Arier"
natürlich. Viele von ihnen dürften Mitglieder der NSDAP gewesen sein. Immerhin
war die deutsche Ärzteschaft diejenige Berufsgruppe, aus der die meisten
Parteimitglieder kamen, mehr als aus der Anwalt- oder Lehrerschaft.
Wenn von Ärzten im "Dritten Reich" die Rede ist, denkt man in
der Regel an den KZ-Arzt Mengele. Ihn, der an der Rampe von Auschwitz nach
"sofort" oder "später vernichten" selektierte, oder seine Kollegen, die in KZs
Menschenversuche vornahmen, findet man in einschlägigen Geschichtsbüchern,
ebenso die Anmerkungen zur Euthanasie, der in der nationalsozialistischen
Ideologie vom reinen Volkskörper begründeten "Vernichtung unwerten Lebens", der
Tausende unschuldiger Menschen zum Opfer fielen. Auch hier waren Ärzte am Werk
gewesen.
Im Nürnberger Prozess der Siegermächte standen nach
Kriegsende lediglich 23 angeklagte Ärzte vor dem Tribunal, Reichsärzteführer
Conti hatte sich während der Haft selbst umgebracht. Den Anklagen lagen
ausschließlich ärztliche Verbrechen während der sechs Kriegsjahre zugrunde.
Zeitzeugen halten sich bedeckt
Was aber war zuvor? Und vor allem: Wie, unter welchen
Umständen gingen Ärzte in Klinken und Praxen ihrer Arbeit nach? Was empfanden
sie, wie reagierten sie, wenn jüdische Kollegen plötzlich "verschwanden"? Warum
waren gerade sie so anfällig für die nationalsozialistische Ideologie? Wussten
sie beispielsweise von den Liquidierungen behinderter Patienten, wirkten sie
vielleicht sogar mit? Wer hier nach Antworten sucht, erfährt rasch, dass er sich
auch 60, 70 Jahre danach in einer Tabuzone bewegt.
Das musste auch die Berliner Historikerin Rebecca Schwoch
erfahren, die sich seit längerem mit der Geschichte und dem Schicksal jüdischer
niedergelassener Ärzte und der Tätigkeit der ärztlichen Standesorganisationen in
Berlin während der Nazizeit befasst. Sie erhielt 2002 einen Forschungsauftrag
der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin. Im Verlauf ihrer Recherche traf Dr.
Schwoch mit Ilse Jacobson (der Name wurde nach der Übersiedlung in die USA
entsprechend geändert), zusammen. Die inzwischen über 80-Jährige erinnerte sich
an viele Details aus der Kreuzberger Zeit ihrer Familie, berichtete über die
Flucht und den Neubeginn ihres Vaters, der niemals mehr über Berlin sprach.
Das sei für sie "eine Begegnung von ganz außerordentlicher
Bedeutung" gewesen, sagt Rebecca Schwoch über dieses Gespräch. Zumal sie in
Deutschland das Gefühl habe, an einem ungeliebten Thema zu arbeiten. "Mir liegt
unendlich viel daran, Zeitzeugen zu treffen, die aus eigenem Erleben über die
Ereignisse in der Nazizeit berichten können. Ich war der festen Überzeugung, es
würden sich viele - auch heute tätige Ärzte, die in Arzthaushalten während
dieser Zeit aufgewachsen sind - bei mir melden, nachdem sie von meiner Arbeit
gehört haben. Aber leider war das nicht so." Auch ihre Aufrufe in den
Fachblättern blieben ohne Echo.
Als Rebecca Schwoch im Herbst vergangenen Jahres bei einer
Veranstaltung der Berliner Kassenärztlichen Vereinigung ihr Projekt vorstellte,
bezweifelte einer der Anwesenden, Arzt in Berlin, Sinn und Wahrhaftigkeit ihrer
Nachforschungen. Die Darstellungen seien einseitig, es fehle an Verständnis für
die Handlungen der deutschen Ärzte in dieser Zeit, der Wissenschaftlerin wurde
"postmortale Klugscheißerei" vorgeworfen. Ein anderer, an Jahren junger Arzt,
plädierte dafür, die Diskussion zu diesen Themen endlich einzustellen. Man habe
davon genug gehört, und es gebe heute andere wichtige Dinge.
"Das hat mich schon erschüttert", sagt Rebecca Schwoch, "und
was heißt - genug davon gehört! Das Schicksal jüdischer Ärzte ist von den
Standesorganisationen in Deutschland nie aufgearbeitet worden. Es gab einzelne
Startversuche, sich dem Thema zu widmen. Zum Beispiel in den achtziger Jahren
durch die Bundesärztekammer und die Berliner Ärztekammer. Die Vertretungen der
Kassenärzte haben sich nie dazu geäußert - bis zum Angebot des Berliner
KV-Vorsitzenden und Chefs der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Manfred
Richter-Reichhelm, an mich, die vorhandenen Dokumente und Unterlagen der KV aus
dieser Zeit auszuwerten und damit die Situation der Kassenärzteschaft und der
gesundheitlichen Versorgung zu beleuchten."
Ärztliche Verbände und ihre Mitglieder seien "mit fliegenden
Fahnen zum Nationalsozialismus übergegangen", so der damalige
Ärztekammerpräsident Karsten Vilmar (erst unlängst wieder mit seinem Ausspruch
vom "sozial verträglichen Tod" in die Schlagzeilen geraten) beim Ärztetag 1987
in Karlsruhe. Das war eines der ersten Male, dass ein (west)deutscher
Ärztefunktionär sich derart äußerte. Dabei kannte Vilmar ganz sicher
beispielsweise die Biographie eines seiner Amtsvorgänger: Noch heute ist
Professor Dr. Sewering, inzwischen fast 90, Ehrenpräsident der
Bundesärztekammer. Als 1994 bekannt wurde, er stehe, wie der ehemalige
UNO-Generalsekretär Kurt Waldheim, als Nazi-Funktionär auf der Watch-Liste des
US-Justizministeriums, hat ihm das ein paar Negativschlagzeilen eingebracht,
aber sonst nicht weiter geschadet.
Zündstoff in Thüringen
Bezeichnend für eine, vorsichtig formuliert, unkritische
Bewertung der Rolle von Medizinern in der NS-Zeit ist auch alles, was sich seit
einiger Zeit in Thüringen um den Jenaer Ordinarius für Kinderheilkunde Jussuf
Ibrahim, seine Mitarbeiter und Anhänger abspielt. Nach ersten (westdeutschen)
Veröffentlichungen in den achtziger Jahren gelangte der Fall auch in Jena auf
die Tagesordnung: Der mit dem Nationalpreis der DDR geehrte und 1953 verstorbene
Ibrahim war nicht der lautere, politisch widerständige Kinderarzt, für den man
ihn gehalten hatte. Mit besonderem Eifer beantragte Ibrahim ab 1942 die
Vernichtung behinderter Kinder. Die Ehrenbürgerschaft Ibrahims wurde zum
Streitpunkt in der Stadt. (vgl. Freitag vom 20. März 2000). Auch die
Medizinprofessorin Albrecht, zu DDR-Zeiten Dekanin der Medizinischen Fakultät zu
Jena, wird beschuldigt, am Mord von 150 PatientInnen in der Nervenklinik
Stadtroda beteiligt gewesen zu sein. Eine Gruppe von emeritierten Medizinern,
darunter der ehemalige Freikorpskämpfer und Gutachter für das Rassenpolitische
Hauptamt, Professor Erich Häßler, fühlte sich daraufhin veranlasst, der Kollegin
Albrecht mit einer Solidaritätsadresse beizuspringen.
Im Thüringer Landtag in Erfurt wurde Mitte Oktober eine
Ausstellung Euthanasie in Thüringen eröffnet und wegen des großen Interesses bis
Dezember verlängert. Federführend erarbeitet wurde sie von der Jenaer
Medizinhistorikerin Susanne Zimmermann und weiteren Kollegen an der Universität
Jena. Zimmermann hat sich mit Arbeiten zur Rolle von Ärzten und Wissenschaftlern
bei der sogenannten Euthanasie einen Namen gemacht und daher keinen leichten
Stand. Ob die Ausstellung je der Jenaer Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird,
ist bislang noch unklar.
Die Rolle von Medizinern während der NS-Ära ist - trotz
punktueller Untersuchungen - noch längst nicht aufgearbeitet. Dabei geht es, bis
auf die schweren Fälle von Verbrechen und Menschenverachtung, nicht um
Schuldzuweisungen. Einer der wenigen Zeitzeugen, die sich ohne Umschweife zu
ihrer Verstrickung bekennen, ist der Allgemeinarzt (im Ruhestand) Horst Rocholl
aus Strausberg: "Als junger Student und Arzt war ich der Argumentation der
Nationalsozialisten, ihrer Betonung von Volksgesundheit und Sozialem durchaus
aufgeschlossen. Ich kann mich noch erinnern, dass im Frühjahr 1933 zwei unserer
respektablen Marburger Professoren, ein Hygieniker und ein Pharmakologe, von
einer Reise nach Berlin in SS-Uniform in den Hörsaal zurückkamen. Ich trat in
die NSDAP ein, übernahm Funktionen neben meiner Arbeit als Landarzt. Die
Vernachlässigung des Sozialen und eine Überbetonung des Biologischen im
Medizinstudium dürften Gründe dafür gewesen sein, dass Ärzte sich mehr als
andere zur NSDAP hingezogen fühlten. Kriegserlebnisse, ihre Gräuel, die
Gefangenschaft und die Lehren daraus haben mir die Augen geöffnet. Es sollte
heute nicht so sehr um Schuld gehen, sondern um Erkenntnis, Aufarbeitung,
Selbstverständnis."
Die Ausstellung Euthanasie in Thüringen ist bis Dezember im
Thüringer Landtag in Erfurt zu besichtigen