Der vollbesetzte Waggon der Pariser Metro ist auf dem Weg zur
Place de la République, wo eine Demonstration gegen die israelischen
Militäroperationen in den besetzten Gebieten stattfinden soll. Ein junger Mann
in dem Abteil fängt irgendwann zu schimpfen an, erst leise und dann immer
lauter: »Die Juden, die Juden. Was machen sie mit unseren Brüdern. Und auch in
Frankreich sind sie frech!« Plötzlich steht ein älterer Mann auf, deutlich über
60, und fährt ihn an: »Du hast doch keine Ahnung. Ich bin Jude. Und ich bin auf
dem Weg dorthin, wo du auch hinfährst. Und ich habe gegen den Einmarsch im
Libanon demonstriert, als du noch nicht die Augen aufgemacht hattest.« Die
Spannung im Waggon steigt, die meisten Anwesenden beobachten schweigend die
Szene. Doch an der nächsten Station steigt der junge Mann missgelaunt mit seinen
Freunden aus.
Nicht immer nehmen die wachsenden Spannungen zwischen den
Communities jüdischer und arabischer Herkunft einen solch glimpflichen Ausgang.
Im Gegenteil.
Tatsächlich nahm in den letzten Jahren in Frankreich die Zahl
der Anschläge und Übergriffe, die jüdische Einrichtungen und als Juden
identifizierte Personen trafen, deutlich zu (Jungle World, 14/02). Die meisten
Gewaltakte erfolgten im Herbst 2000 sowie im Frühjahr 2002. Insgesamt sind die
Übergriffe auf französische Juden nach Angaben der OSZE (Organisation für
Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) in den letzten drei Jahren um das drei
bis vierfache angewachsen. Das Simon-Wiesenthal-Zentrum berichtet von etwa 1 300
Übergriffen in diesem Zeitraum.
Auch der Untersuchungsbericht zum Antisemitismus in Europa,
den das European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia (EUMC) in Wien erst
bestellt und dann nicht veröffentlicht hat, beschäftigt sich neben Deutschland
und Italien vor allem mit der Entwicklung in Frankreich.
Die Mehrzahl dieser Taten wurde von jungen, männlichen
Angehörigen der arabischstämmigen Community verübt, während Angriffe von Juden
auf Franzosen oder auf Araber überhaupt nicht vorkamen. Mehrheitlich waren die
Täter bereits vorher straffällig geworden, bevor sie mit Delikten gegen jüdische
Bürger in Erscheinung traten. Eine Minderheit der Täter oder der Verdächtigen
kommt aus dem Milieu des französischen Rechtsextremismus.
Dabei sind die Migranten arabischer Herkunft selbst
Diskriminierungen und Benachteiligung seitens der Bevölkerungsmehrheit in
Frankreich ausgesetzt. Um eine weitere Stigmatisierung zu vermeiden, könnte
versucht werden, die Kritik an der Urheberschaft der Gewalttaten, die eine
andere Minderheitengruppe treffen, auf bestimmte Organisationen oder Bewegungen
zu beschränken.
In der Praxis dürfte sich ein solches Vorhaben aber als
schwierig erweisen. Denn das Klima, das zu solchen Angriffen und Beleidigungen
führt, weist kein organisatorisches Zentrum auf; eher handelt es sich im
Wesentlichen um einen alltagsideologischen Prozess.
Diese Entwicklung macht sich nicht nur in Form von
Körperverletzungen und Brandstiftungen bemerkbar. So wurde Ende November durch
Presseberichte in Le Monde bekannt, dass einen Monat zuvor in Paris erstmals in
der Justizgeschichte des Landes ein Befangenheitsantrag gegen eine Richterin
wegen ihres vermeintlich jüdischen Namens gestellt wurde. Der Antragsteller, ein
Nachfahre tunesischer Migranten, wurde vom Gericht mit einer Geldstrafe wegen
»Missbrauchs von Verfahrensregeln« bestraft.
In Taten umgesetzt werden die antisemitischen Vorurteile
vorwiegend von Gruppen, die sich spontan bilden und oft dem sozialdarwinistisch
geprägten Milieu bestimmter Trabantenstädte entstammen. Daneben gibt es auch
extremistische islamistische Kleingruppen, die versuchen, die Stimmung
anzuheizen; sie unterscheiden sich von den moderaten islamistischen Strömungen,
die sich eher mit den Geschlechterverhältnissen sowie der Rückeroberung einer
verschütteten, angeblichen Tradition beschäftigen. Man erkennt diese Islamisten
an ihrem Schlachtruf »Khaibar, Khaibar«: Am gleichnamigen Ort im heutigen
Saudi-Arabien führte der Prophet des Islam im 7. Jahrhundert eine Schlacht gegen
die jüdischen Kaufleute von Medina an, nachdem er mit diesen ehemaligen
Verbündeten in Konflikt geraten war.
Die neue Welle antisemitischer Vorfälle steht dabei in einem
engen Zusammenhang mit der Eskalation des Nahost-Konflikts. Viele migrantische
Jugendliche identifizierten sich mit Beginn der zweiten Intifada spontan mit der
palästinensischen Bevölkerung. Denn in den Bildern, die zum Beispiel
drangsalierte Menschen an militärischen Checkpoints zeigen, glauben viele
Immigrantenkinder in Frankreich ihre eigene Situation wieder zu erkennen, zu der
etwa tägliche Kontrollen und Schikanen durch Uniformierte gehören. Diese
Identifikation hat es bereits in den Jahren nach 1987 gegeben, zu Zeiten der
ersten Intifada. Damals führte sie aber nicht zu solchen Konsequenzen wie heute.
Ein Grund dafür liegt in der zunehmenden Ethnisierung des
Konflikts, die in Frankreich seit einigen Jahren zu beobachten ist. Mittlerweile
geht es nicht mehr um die dem Konflikt ursprünglich zugrunde liegenden
materiellen Fragen, sondern darum, dass sich das »bessere Volk« oder die
»richtige Religion« durchsetzen soll. Diese Sichtweise ermöglicht es, auch die
in Frankreich lebenden Juden mit in den Konflikt einzubeziehen, als seien sie
israelische Staatsbürger oder gar für die Politik jenes Landes verantwortlich.
Durch diese Einbeziehung der jüdischen Community ist wiederum eine Rückkopplung
an verschwörungstheoretische Wahrnehmungsmuster möglich.
Die staatlichen Institutionen reagierten auf diese
Entwicklung zunächst mit einer doppelten Strategie. Einerseits sollten die
Gewalttaten effizient verfolgt werden. So beschloss die Nationalversammlung im
Dezember des vergangenen Jahres die Einführung einer speziellen Qualifizierung
von Delikten als antisemitisch motivierte Taten sowie eine härtere
Strafverfolgung. Andererseits hielt sich die Regierung in der Öffentlichkeit
sehr zurück, um die »interkommunitären Spannungen« nicht weiter zu verschärfen.
Nach dem Brandanschlag auf eine jüdisch-orthodoxe
konfessionelle Schule in der Pariser Vorstadt Gagny, der gleichzeitig mit den
beiden verheerenden Attentaten auf Synagogen in Istanbul stattfand, änderte sich
diese Haltung.
In seiner ersten Stellungnahme zum Brandanschlag vom 15.
November drohte Staatspräsident Jacques Chirac mit drastischen Konsequenzen.
»Wenn man einen Juden angreift, dann muss man sich darüber im Klaren sein, dass
man ganz Frankreich angreift«, sagte er und kündigte besondere Maßnahmen an.
Künftig soll ein speziell eingesetzter Ministerausschuss einmal pro Monat
öffentlich eine Bilanz über die Straftaten gegen Juden und ihre Einrichtungen
vorlegen. Außerdem werden so genannte Verbindungsrichter eingeführt, die
permanent Kontakt mit der jüdischen Gemeinde halten und »exemplarische« Strafen
verhängen sollen.
Sicherlich sind diese Maßnahmen im Sinne eines besseren
Opferschutzes zu begrüßen. Allerdings könnte das Gegenteil des erwünschten
Effekts eintreten, wenn die muslimische Community – die in ihrer deutlichen
Mehrheit die Gewalttaten verurteilt – die Maßnahmen als Ausdruck einer
besonderen Nähe der jüdischen Community zu den staatlichen Institutionen
interpretiert. Ob es zu solchen Effekten kommt, hängt aber nicht so sehr von den
jetzt gefällten Beschlüssen ab. Entscheidend ist vielmehr, in welchem Maße sich
die Regierung künftig auch um die Integration der migrantischen Bevölkerung
bemüht. Denn auch wer einen Schwarzen oder einen Araber angreift, greift eine
bestimmte Vorstellung von Frankreich an.