Antisemitismus ist »eine anhaltende latente Struktur
feindseliger Überzeugungen gegenüber Juden als Kollektiv, die sich bei
Individuen als Haltung, in der Kultur als Mythos, Ideologie, Folklore sowie
Einbildung und in Handlungen manifestieren – soziale oder rechtliche
Diskriminierung, politische Mobilisierung gegen die Juden und kollektive oder
staatliche Gewalt –, die dazu führen und/oder darauf abzielen, Juden als Juden
zu entfernen, zu verdrängen oder zu zerstören«. So definiert die
Antisemitismusforscherin Helen Fein das Phänomen des Antisemitismus. Eine
»international wissenschaftlich anerkannte Definition«, wie Prof. Werner
Bergmann vom Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) der TU Berlin bestätigt.
Ein Punkt, dem sein Auftraggeber, das European Monitoring
Centre on Racism and Xenophobia (EUMC) in Wien, noch zustimmen dürfte. Doch in
der Frage, welche Äußerungen, Symbole, Taten dieser Definition zuzuordnen sind,
scheiden sich die Geister in beiden Instituten. Beim EUMC in Wien sammeln im
Auftrag der EU seit 1997 rund 30 Mitarbeiter Daten über Rassismus,
Antisemitismus und Fremdenhass. Im März 2002 beauftragte das Institut das
Berliner Zentrum mit einer Studie über Antisemitismus in der Europäischen Union.
Werner Bergmann und seine Kollegin Juliane Wetzel werteten die Ergebnisse aus
Berichten der 15 EU-Staaten aus, die das EUMC zuvor angefordert hatte. Ergänzt
durch eigene Untersuchungen, verfassten die AutorInnen einen 105seitigen
Bericht, von dem der Auftraggeber sich nun zu distanzieren scheint.
»Seit der Abgabe haben wir nichts mehr aus Wien gehört«,
sagte Bergmann. Die Rückmeldung für die AutorInnen kam auf sonderbarem Wege:
Seit vergangenem Donnerstag kann die Studie, die neun Monate in den Schubladen
des EUMC verschwunden war, von der Homepage des Instituts heruntergeladen
werden. Versehen mit einem ›disclaimer‹, der klarmacht, dass es sich hier
keineswegs um eine Veröffentlichung handelt. Darin und in einigen
Pressemitteilungen konnten nun endlich auch die Berliner AutorInnen nachlesen,
dass »die von den Auftragnehmern erbrachte Leistung von mangelhafter Qualität
war und empirische Beweise fehlten«.
Die Reaktion des EUMC erfolgte keineswegs freiwillig. Als die
Financial Times im November berichtete, die EU-Behörde halte eine Studie über
Antisemitismus unter Verschluss und dies von den Medien in New York über
Kopenhagen, Brüssel, Berlin und Tel Aviv aufgegriffen wurde, geriet das Institut
immer mehr unter Druck. Der European Jewish Congress sprach von einer
»politischen Entscheidung« und von Zensur und stellte den Bericht schließlich am
vergangenen Mittwoch ins Netz. Eine Fassung, die etwas enthält, was die Wiener,
trotz aller Bemühung um Transparenz, der Öffentlichkeit in ihrem Web-Link
vorenthalten: ein Vorwort, verfasst im März 2003 von EUMC-Leiterin Beate Winkler
und dem Vorsitzenden Bob Purkiss.
Dies ist nicht das einzige Indiz dafür, dass die EUMC
keineswegs von Anfang an davon überzeugt war, die Studie sei wertlos. Auch das
Argument der »viel zu dünnen Datengrundlage«, das Beate Winkler immer wieder in
Presse-Interviews ins Feld führt, klingt unlogisch. War es doch die EU-Behörde
selbst, die den Berliner WissenschaftlerInnen die Daten für diese Untersuchung
zur Verfügung gestellt hatte. Für die »kollektiv gefällte Entscheidung des
Verwaltungsrats«, in diesem Jahr weitere Daten zu sammeln und eine neue Studie
im Frühjahr 2004 zu veröffentlichen, dürften vielmehr andere Punkte
ausschlaggebend gewesen sein.
»Unmittelbar nach dem 11. September haben wir uns primär der
zunehmenden Islamophobie in der Europäischen Union gewidmet«, heißt es im nicht
veröffentlichten Vorwort des EUMC. Eine Aufgabe, der sich die Mitglieder des
Verwaltungsrats möglicherweise über die Maßen hinaus verpflichtet fühlen. Denn
vieles deutet darauf hin, dass vor allem die Beschreibung der Tätergruppen im
Berliner Bericht den EUMC-Verantwortlichen zu brisant war. In vielen Fällen
konnten die Täter nicht identifiziert werden, so die Analyse des ZfA, deswegen
müsse die Zuweisung zu einem politischen oder ideologischen Lager offen bleiben.
Nichtsdestotrotz könne man mit Blick auf die identifizierten und
identifizierbaren Täter sagen, dass antisemitische Zwischenfälle im
Untersuchungszeitraum vor allem durch »Rechtsradikale, radikale Islamisten oder
junge Muslime meist arabischer Herkunft« verübt wurden. Neben den
antisemitischen Übergriffen von Rechtsradikalen seien viele physische Angriffe
auf Juden sowie die Beschädigung und Zerstörung von Synagogen während oder nach
pro-palästinensischen Demonstrationen passiert.
Solche Schlussfolgerungen wollte man in Wien nicht
unterschreiben. Dem EUMC sei »nicht an der Stigmatisierung ganzer Gemeinschaften
wegen der Aktionen rassistischer Einzelpersonen gelegen«, so Beate Winkler. Die
Direktorin stellt weiterhin fest, dass »die EUMC kein Problem damit hat,
derartige Informationen zu liefern, sofern diese fundiert sind«. Die Studie habe
einzelne antisemitische Aktionen allgemeinen Kategorien zugeordnet, in der
Annahme, es gebe homogene Gruppen, die gemeinsame Charakterzüge wegen ihrer
ethnischen oder religiösen Herkunft aufweisen. Der konkret vom EUMC geäußerte
Vorwurf, dass die Gemeinschaft der Moslems für die Taten Einzelner
verantwortlich gemacht werden soll, lässt sich jedoch bei aufmerksamer Lektüre
der Studie nicht halten.
Auch der Vorwurf, der Gebrauch der Definition des
Antisemitismus sei nicht klar und konsistent in den Analysen der Arbeit zu
erkennen, ist kaum nachvollziehbar. Denn die Berliner AutorInnen geben der
Leserschaft in der Einleitung eine klar strukturierte Interpretation ihrer
Grenzziehung zwischen Antisemitismus und Israel-Kritik mit auf den Weg. Zum
einen seien Anspielungen oder Vergleiche der israelischen Politik mit dem
Nazi-Regime als antisemitisch einzustufen, ebenso die Anwendung von
antisemitischen Stereotypen auf die israelische Politik. Beispiele seien die
»Beschuldigung, dass eine geheime weltumfassende zionistische Verschwörung
besteht, die Isolation Israels als Staat, der sich grundsätzlich negativ von
allen anderen abhebt, der deswegen kein Recht auf Existenz hat, sowie negative
historische Bezüge auf die jüdische Geschichte, mit dem Zweck, einen
unwiderruflichen negativen jüdischen Charakter aufzuzeigen«.
Die Aufregung der EU-Behörde über die Studie ist auch deshalb
merkwürdig, weil darin Ergebnisse vorgelegt werden, die bereits in anderen
Untersuchungen nachzulesen sind. Die Länderberichte bestätigen, dass es Anfang
2002 in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Großbritannien zunehmend zu
antisemitischen Zwischenfällen kam. Frühere Untersuchungen zeigten, so die
AutorInnen in der Einleitung, dass diese Welle bereits im Oktober 2000 mit der
so genannten al-Aqsa-Intifada begonnen habe und durch die Angriffe auf das World
Trade Center sowie die Eskalation des Nahost-Konflikts im Frühjahr 2002
angetrieben wurden. In Deutschland äußere sich Antisemitismus weniger in einer
Zunahme tätlicher Angriffe, sondern eher in Form einer Flut antisemitischer
Briefe an die jüdischen Gemeinden und an prominente Juden.
Nahezu alle Berichte bestätigen, so die Studie, dass Juden in
der EU sozial, ökonomisch und kulturell gut integriert sind und dass deswegen
die typischen Motive für Fremdenhass wie die Angst vor der Konkurrenz auf dem
Arbeitsmarkt, sprachliche Barrieren etc. wegfallen. Stattdessen wird darüber
phantasiert, dass »Juden eine national und international einflussreiche Gruppe
seien, die die Politik und die Wirtschaft kontrollieren«.
Das ZfA fand heraus, dass nach dem 11. September stellenweise
die Meinung vertreten wird, der islamistische Terrorismus sei eine »natürliche
Konsequenz des ungelösten Nahost-Konflikts«, für den Israel allein
verantwortlich gemacht wird. Den Juden würde zudem ein maßgeblicher Einfluss auf
die angeblich proisraelische Politik der USA zugeschrieben. An dieser Stelle,
schlussfolgern die AutorInnen, könnten Antiamerikanismus und Antisemitismus
zusammenspielen, was dazu führe, dass Verschwörungstheorien über die jüdische
Weltherrschaft wieder aufkommen.
In der Linken seien Antiamerikanismus und Antizionismus
zuweilen eng miteinander verbunden. Israelische Politik wird als »aggressiv,
imperialistisch und kolonialistisch« angesehen. Das allein sei nicht als
antisemitisch einzustufen, so die AutorInnen, dennoch gebe es oftmals
übertriebene Formulierungen, die zeigen, wie die Grenze zwischen Kritik und
Antisemitismus überschritten wird. Oftmals würde die Tradition der
Vergangenheit, die Juden zu dämonisieren, nun auf den Staat Israel übertragen.
Auf diesem Wege wird, so die Verfasser, der traditionelle Antisemitismus in eine
neue Form übersetzt, der weniger die Legitimierung entzogen würde und deren
Gebrauch heute in Europa Teil des politischen Mainstream werden könnte.
Dass Kritik an der Israelkritik in Teilen der Linken alles
andere als willkommen ist, konnten unlängst einige Vertreter der Aktion Dritte
Welt Saar erleben. Als sie auf dem Europäischen Sozialforum in Paris für das
Existenzrecht Israels warben und »die andere Seite des Nahostkonflikts« per
Flugblatt unter die Pariser BesucherInnen bringen wollten, wurden sie als
»Rassisten« beschimpft und kurzerhand des Saals verwiesen. Eine ähnliche
Stimmung beschreibt der Bericht des ZfA. In der radikalen Linken wurden
antisemitische Äußerungen von den Verfassern der Studie vor allem im Kontext von
pro-palästinensischen und Antiglobalisierungskundgebungen beobachtet und in
Zeitungsartikeln, in denen antisemitische Stereotype zur Kritik Israels benutzt
wurden. Oftmals war diese »Kombination aus Anti-Zionismus und Antiamerikanismus
ein wichtiges Element beim Aufkommen einer antisemitischen Stimmung in Europa«.
Israel gilt als kapitalistische, imperialistische Macht, und die USA gelten als
Übeltäter im Nahostkonflikt und bei der Globalisierung. Die Konvergenz dieser
Motive diene sowohl der Kritik am Kolonialismus als auch an der Globalisierung.
Wie sich solche Ergebnisse in der offiziellen Version des
EU-Berichts einmal darstellen werden, ist bislang noch offen. Das EUMC bleibe
»zu hundert Prozent seiner Forschung über Antisemitismus vepflichtet« und wolle
im Frühjahr 2004 einen Bericht veröffentlichen, der sich auf Daten stützt, die
2002 und 2003 gesammelt wurden und auf Interviews mit Vertretern von jüdischen
Organisationen basieren.
Die konfliktreiche Zusammenarbeit sei nicht zuletzt darauf
zurückzuführen, dass kaum Wissenschaftler im Verwaltungsrat des EU-Instituts
sitzen, erklärt Werner Bergmann. Deutschland wird dort vom ehemaligen
Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen, Joachim Gauck, sowie von der ehemaligen
Ausländerbeauftragten in Berlin, Barbara John, vertreten. Als gesichert darf
wohl gelten, dass kaum eine veröffentlichte Studie so viel beachtet wurde wie
die vorliegende. »Das EUMC hat vor kurzem eine Islamophobie-Studie
herausgegeben, die kaum jemand kennt«, so Bergmann. »Genauso wäre es
normalerweise unserer Studie ergangen.«