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Das vergessene Vernichtungslager Sobibor :
Überblick über die juristische Verfolgung der NS-Täter und die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit

Am 14. Oktober jährte sich der Aufstand in Sobibor zum 60. Mal. Er gehört zu den verdrängten Kapiteln des Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Die Autorinnen zeigen, wie schwer sich die Öffentlichkeit tat und noch immer tut, sich der Opfer der SS-Verbrechen in Sobibor zu erinnern...

Heike Kleffner und Miriam Rürup

"Die Zuschauerbänke im Saal 201 des Hagener Landgerichts bleiben seit Wochen fast leer. Das Verfahren […] findet in der Öffentlichkeit kaum mehr Beachtung. Nicht einmal am Prozessort ist der Name Sobibor bekannt. Ein Student hatte an einer belebten Straßenecke Passanten befragt: ‚Was wissen Sie von Sobibor?' Schüler, Hausfrauen, Arbeiter und Beamte zuckten als Antwort meist nur mit den Schultern. Eine Hausfrau tippte auf ein neues Waschmittel." ("Der vergessene Prozeß", Ferdinand Ranft, Die Zeit, 1. Dezember 1966).

Geschichte und Gericht

Nach Kriegsende waren den deutschen Strafverfolgungsbehörden 150 verdächtige SS-Täter im Zusammenhang mit Verbrechen der "Aktion Reinhardt" namentlich bekannt. Davon lebten 40 nicht mehr und über die Hälfte der übrigen 110 Angehörigen der Wachmannschaften galt als unauffindbar. Von den restlichen bekannten Verdächtigen wurden 28 Personen angeklagt, davon 15 wegen Verbrechen im Vernichtungslager Sobibor.

In den Sobibor-Prozessen wurden sechs Angeklagte freigesprochen. Sechs Täter erhielten wegen Beihilfe zu Mord in zehn- und hunderttausenden von Fällen Strafen zwischen drei bis acht Jahren Haft. Nur bei zwei Hauptangeklagten wurden lebenslange Haftstrafen verhängt. Ein Hauptangeklagter erhängte sich kurz vor Urteilsverkündung.

Am 8. Mai 1950 verurteilte das Berliner Landgericht Erich Hermann Bauer, den ›Gasmeister‹ von Sobibor, wegen "Verbrechens gegen die Menschlichkeit" zum Tode. Mit dem Todesurteil setzte die Strafverfolgung der Verbrechen der "Aktion Reinhardt" mit einem symbolischen Paukenschlag ein, der in den folgenden Jahren ohne weiteren Nachhall verklingen und von einer milden Urteilspraxis abgelöst werden sollte. Das Todesurteil wurde nach Kontrollratsgesetz Nr. 10 vor dem Landgericht Berlin gesprochen, ein für das Jahr 1950 - also nach Gründung der Bundesrepublik - recht einzigartiger Fall der Rechtsprechung. Das Urteil wurde, da die Todesstrafe im Grundgesetz nicht vorgesehen war, in lebenslanges Zuchthaus umgewandelt. Nach 21 Haftjahren folgt für Erich Bauer im Dezember 1971 die Begnadigung. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass es sich um einen angesichts des schon erlassenen Grundgesetzes lediglich symbolischen Schuldspruch handelte, ist es dennoch beachtlich, dass ein deutsches Gericht noch 1950 die höchste Strafe des alliierten Gesetzes aussprach. Denn nur allzu oft wurde das Kontrollratsgesetz als von den Besatzern aufgezwungene "Siegerjustiz" beurteilt. Aus dem Urteilstext gegen Bauer spricht jedoch die Empörung der Richter: "Durch sein Verhalten hat der Angeklagte nicht nur systematisch, getreu der Naziideologie, große Teile einer Volksgemeinschaft [SIC!]ausgerottet, sondern das deutsche Ansehen in der Welt in Grund und Boden gerichtet."

Ebenfalls 1950 verhandelte das Schwurgericht in Frankfurt am Main gegen die SS-Angehörigen Hubert Gomerski und Johann Klier. Letzterer wurde als Gehilfe freigesprochen, Gomerski zu lebenslanger Haft verurteilt. Auch hier wieder spricht aus dem Urteilstext die Fassungslosigkeit angesichts der Massenvernichtung: "Eine derartige Geringschätzung des menschlichen Lebens, des höchsten Rechtsgutes in den Rechtsordnungen aller Kulturvölker, ist sittlich so verachtenswert, dass sie als niedrig […] bezeichnet werden muss."

Nach 22 Jahren Haft hob der Bundesgerichtshof das Urteil 1972 auf. Von nun an wohnte Gomerski "dem längsten Prozess Frankfurts" (FR und FAZ) als freier Mann bei. 1977 reduzierte das Schwurgericht Gomerskis Taten in Sobibor auf "Beihilfe zu gemeinschaftlichen Mord". Drei Jahre später hob der BGH auch dieses Urteil auf. Ein dritter Prozess endet 1981 nach wenigen Tagen wegen Verhandlungsunfähigkeit; 1984 wird das Verfahren endgültig eingestellt. Der SS-Unteroffizier stirbt am 28. Dezember 1999 im Alter von 88 Jahren in Frankfurt.

Der größte Sobibor-Prozess fand 1966 vor dem Landgericht in Hagen gegen zunächst 12 Verdächtige statt. Parallel zu dem Prozess in Hagen wurde Erich Fuchs angeklagt, der in Belzec, Sobibor und Treblinka eingesetzt war. Das Gericht verurteilte ihn zu einer "in etwa als gerecht erscheinende[N] Strafe" von vier Jahren Zuchthaus. Zur Begründung des Strafmasses führte das Urteil aus: "Die Mitwirkung an der grauenhaften Vernichtung so vieler Menschen kann gar nicht mit dem Maß einer zeitlichen Freiheitsstrafe befriedigend aufgewogen werden, so sehr eine Strafe stets auch Genugtuung sein soll für verletztes Rechtsempfinden der Allgemeinheit und für die unmittelbar persönlich tief Betroffenen".

Meist wurde in NS-Verfahren gleichsam floskelhaft auf die Haupttäter hingewiesen - Hitler, Himmler, Göring und Heydrich. Im Falle der "Aktion Reinhardt" definierten die Gerichte nun zwei weitere Haupttäter: Odilo Globocnik, der mit der Leitung der "Aktion Reinhardt" betraut war, und Christian Wirth, Kommandant von Belzec und später Inspekteur von Belzec, Sobibor und Treblinka. Der Verweis auf diese Haupttäter wurde für eine niedrigere Strafzumessung für alle anderen Täter instrumentalisiert.

Eine Ausnahme stellte aus Sicht des Gerichts der Hagener Hauptangeklagte, SS-Oberscharführer Karl Frenzel dar, über den es im Urteil heisst: "Wer - wie Frenzel - das ihm hier befohlene Verbrechen nicht nur ohne innere Hemmungen ausgeführt, sondern hierbei noch einverständlichen Eifer zeigt und dabei sogar über das ihm Anbefohlene hinausgeht, weil er Gefallen an dieser verbrecherischen Tätigkeit findet, stellt sich mit den […]Haupttätern auf eine Stufe." Frenzel wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.

Der Hagener Prozess markiert einen wichtigen Schritt in der historischen Aufarbeitung der Geschichte des Lagers Sobibor. Nicht nur legte hier der Historiker Wolfgang Scheffler in seinem Gutachten erstmals Berechnungen über die Zahl der Opfer der "Aktion Reinhardt" vor. Sondern die ersten hundert Seiten des Urteils befassen sich ausschließlich mit einer historischen Darstellung des Geschehens im Vernichtungslager Sobibor. Diese in ihrer Ausführlichkeit vermutlich erste (deutsche) "Geschichtsschreibung" zu Sobibor vollzog die Etappen der Massenvernichtung der Juden nach, schilderte die einzelnen Entwicklungsstufen, die "Euthanasie" genannte Ermordung von körperlich und psychisch Behinderten (T 4), die Befehlswege der "Aktion Reinhardt", ihre Durchführung vor Ort und die Taten der Angeklagten. Trotzdem blieben die Zuschauerbänke in Hagen meist leer, die Presse berichtete nur spärlich.

Zwei weitere Sobibor betreffende Verfahren fanden in den siebziger Jahren statt. Bei Franz Stangl, 1942 Lagerkommandant in Sobibor, der noch zur Zeit des Hagener Prozesses als vermißt galt, aber während der Urteilsniederschrift aufgegriffen werden konnte, konzentrierte sich der Prozess in Düsseldorf 1970 hauptsächlich auf seine Verbrechen in Treblinka. 1976 endete vor dem Landgericht Hamburg ein weiteres und vorläufig letztes Verfahren, in dem im Zusammenhang mit dem Komplex des "Trawniki-Ausbildungslagers" für die Wachmannschaften der "Aktion Reinhardt" auch über Verbrechen in Sobibor verhandelt wurde. Die sechs Angeklagten wurden freigesprochen.

In der bundesrepublikanischen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit waren die Massenverbrechen nie zentral. Auf die Justiz wurde die Vergangenheitsbewältigung abgewälzt, vor Gericht wurden nicht nur Straftaten, sondern gleichsam Geschichte(n) verhandelt.

Es waren vorwiegend die Überlebenden von Sobibor, die mit Erinnerungsberichten die Geschichte des Vernichtungslagers schrieben. Neben Toivi Blatt sind beispielhaft Jules Schelvis und Dov Freiberg zu nennen. (Jules Schelvis, Vernichtungslager Sobibór, Unrast Münster 2003; Dov Freiberg, Sarid mi-Sobibor (To Survive Sobibor), Tel Aviv 1988).

Strafrechtliche Probleme statt "Sonderrecht"

Um den Vorwurf eines "Sonderrechts" zu vermeiden, war nach 1945 beschlossen worden, NS-Verbrechen rechtlich als "normale" kriminelle Vergehen vor deutschen Gerichten zu verhandeln. Davon profitierten meist die ehemaligen NS-Täter. Viele erhielten wegen Beihilfe zum Mord geringere Strafen, weil ihnen die Tötungsdelikte nicht genau nachgewiesen werden konnten. Dies zeigte sich beispielhaft bei den Mordvorwürfen gegen Hubert Gomerski im Jahr 1977, wie die FAZ berichtete: "Zu den vier versuchten Morden, den Exzesstaten, gehörten die Schüsse auf eine alte Frau, die Gomerski aus der Maschinenpistole in nächster Nähe abgab. Vermutlich ist die Frau an den Schüssen gestorben, doch der Häftling, der den Vorgang beobachtet hatte, kümmerte sich aus Angst nicht weiter um den Fall. So musste das Gericht von einem Versuch ausgehen, weil es den vollendeten Mord nicht nachweisen konnte."

Zeugen und Zeugenschaft

In einem Gerichtsverfahren stehen mindestens zwei Narrative gegeneinander. Dies ist besonders zugespitzt in NS-Prozessen, wo grausame Massenmörder als Angeklagte und bis dahin meist sprachlose Opfer als Zeugen aufeinandertreffen. Die Erfahrungen vor Gericht ließen das Trauma der Shoa wieder aufleben, viele Überlebende sprachen erstmals über ihre Erlebnisse und Verluste. Indem vor Gericht jede Tat einzeln nachgewiesen und der Tathergang genau rekonstruiert werden mußte, lastete auf den Zeugen erhebliche Beweislast. Die Zeugenaussagen vor Gericht wurden oft durch das peinlich genaue und beharrliche Nachfragen der Verteidiger und Staatsanwälte zu einer qualvollen Erfahrung - vor allem die Verteidigung versuchte so die Glaubwürdigkeit der Zeugen zu erschüttern.

Insbesondere die 53 Überlebenden des Aufstandes von Sobibor haben sich der Zeugenschaft gewidmet. Sie sahen und sehen es als ihre Verpflichtung an, Zeugnis für die Nachwelt abzulegen. Dieses Vermächtnis hat Toivi Blatt auch seinem Buch "Die vergessene Revolte" vorangestellt. Es ging nicht nur um eine Belastung der Täter vor Gericht, sondern auch darum, gleichsam im Sinne einer Menschenrechtserziehung Zeugnis abzulegen.

Einen ganz besonderen Fall der Gegenüberstellung von Zeuge und Angeklagtem, hier außerhalb des Gerichtssaales, stellt das Gespräch dar, das Toivi Blatt mit dem ehemaligen SS-Offizier Karl Frenzel 1983 führte und das nun in "Die vergessene Revolte" sowie in Blatts Memoiren nachzulesen ist. Hier ist der verzweifelte Versuch eines ehemaligen Opfers zu erkennen, von seinem Peiniger ein Zeichen der Reue zu erhalten. Es geht um eine Form der Anerkennung, die vor Gericht nicht erreicht werden kann, ein Wunsch nach "Gerechtigkeit", der sich jenseits juristischer Schuld und Sühne befindet.

Pressespiegel - Die Sobibor-Verfahren

Die JournalistInnen, die über den Hagener Sobibor-Prozess 1965 berichteten, arbeiteten in einer Gesellschaft, die in weiten Teilen kaum etwas wissen wollte - weder von den Opfern, noch von den Tätern in ihrer Mitte. 1964 lehnten 70 Prozent der Bundesbürger eine weitere Ahndung von NS-Verbrechen ab. JournalistInnen mußten mithin gegen das öffentliche Interesse anschreiben.

Durch die Berichterstattung über NS-Prozesse wurden die Informationen über den nationalsozialistischen Völkermord allgemein zugänglich. Daher ist es wichtig, zu untersuchen, worauf diese Berichte Wert legten und wie die Geschichte des Vernichtungslagers Sobibor und damit auch der "Aktion Reinhardt" vermittelt wurde.

In der Bundesrepublik waren lediglich zwei Dutzend NS-Prozesse Gegenstand einer ausführlichen Berichterstattung. Die Berichte über die Lager der "Aktion Reinhardt" konzentrierten sich vor allem auf zwei Prozesse: Den Treblinka-Prozess in Düsseldorf im Jahr 1965 sowie den Prozess gegen Franz Stangl im Jahr 1970.

Dagegen sind die Sobibor-Prozesse nicht im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert. Dass sie es schon zum Zeitpunkt der Hauptverhandlungen nicht waren, erklärt vielleicht auch, warum Sobibor noch immer ein fast blinder Fleck in der Aufarbeitung der NS-Verbrechen ist. Der verstorbene FAZ-Korrespondent Lothar Bewerunge erinnerte sich 1983 im Rückblick auf den Hagener-Prozess, dass am Ende des Hagener Sobibor-Prozesses neben ihm nur noch der Redakteur der Hagener Lokalzeitung im Saal anwesend war.

Bei der Auswertung der Berichterstattung von FAZ, FR, Die Zeit und Neue Züricher Zeitung (NZZ) über den Hagener Sobibor-Prozess fallen fünf Aspekte auf:

* Die Perspektive der Opfer wird nicht berücksichtigt. Die Opfer werden als anonyme Masse, als abstrakte Zahl, dargestellt. Selbst wenn man berücksichtigt, dass aufgrund des "Kalten Krieges" während des Hagener Prozesses eine Reise nach Polen schwierig war, bleibt es unverständlich, dass kein Journalist beispielsweise in Holland recherchiert hat - obwohl mehr als 30.000 niederländische Juden in Sobibor ermordet wurden. Auch die wenigen Überlebenden, die als ZeugInnen geladen waren, kamen nur als Tatzeugen zu Wort. Ihre Biografien werden nicht erfragt. Sie erscheinen reduziert auf ihren "Wert" als Zeugen der Anklage.

* Der Aufstand der Häftlinge im Oktober 1943 wird zwar erwähnt, allerdings in erster Linie als Erklärung für die Existenz der ZeugInnen. Eine Einbettung des Aufstands in den historischen Kontext erfolgt nicht.

* Die Hauptangeklagten werden dämonisiert, so dass die LeserInnen sich von ihnen distanzieren können. Die Schreibtischtäter der "Aktion Reinhardt" bleiben dagegen blass, ihr Beitrag zum Massenmord wird nicht beleuchtet.

* Der Hagener-Sobibor Prozess fiel in die Phase der Debatten um die Verjährungsfrage für NS-Gewaltverbrechen. Je nachdem, welchen gesellschaftlichen Gruppen die hier ausgewerteten Zeitungen nahe standen, spielt daher auch die Frage des "Befehlsnotstandes" - und damit nach einer Entschuldung der Täter - eine Schlüsselrolle in der Berichterstattung. Die individuellen Handlungsmöglichkeiten der Täter werden entweder negiert oder überhaupt nicht thematisiert: Den LeserInnen wird ein Bild vermittelt, in dem es für die Täter scheinbar keine Handlungsspielräume gab. Die in Sobibor begangenen NS-Verbrechen werden durchgängig als abscheulich bezeichnet. Doch mit Ausnahme der Hauptangeklagten werden die übrigen Beschuldigten nur als ausführende Organe beschrieben.

* Die meisten ehemaligen Wachmänner von Sobibor waren bis zu Prozessbeginn erfolgreich in der Nachkriegsgesellschaft angekommen. Wie ihr Umfeld den plötzlichen Rollenwechsel beispielsweise vom Stadtrat in einer niedersächsischen Kleinstadt (SS-Verwaltungsfachmann Hans-Heinz Schütt) zum Beschuldigten in einem NS-Massenmord-Prozess wahrnahm, spielt in der Berichterstattung überhaupt keine Rolle.

Die Sobibor-Überlebenden als Zeugen der Anklage

Zu Prozessbeginn beim Landgericht Hagen am 6. September 1965 erwähnten fast alle Zeitungen, dass die ZeugInnen dank des Aufstands überlebt hatten. Fünfundzwanzig Überlebende hatte die Staatsanwaltschaft ausfindig gemacht; vier von ihnen werden in der Berichterstattung genannt. Die Konfrontation der Überlebenden mit den Tätern stellt FR-Korrespondent Fritz Mörschbach an den Anfang eines Berichts Ende Oktober 1965. Er vermittelt auch einen Eindruck von der Verhandlungsatmosphäre: "Der Hauptangeklagte [...]Kurt Bolender, alias Vahle, alias Brenner, wirft dem jüdischen Taxiunternehmer Samuel Lerer aus New York einen hasserfüllten Blick zu. Lerer ist schuld, dass der Portier Bolender auf der Anklagebank sitzt und daran erinnert wird, dass Töten und Foltern einmal zu seinem Alltag gehörte." Mörschbach beschreibt ausführlich, wie Lerer überlebte: "Samuel Lerer war dem Vernichtungslager Sobibor nach dem Aufstand der jüdischen Häftlinge entkommen […]und wurde bei Kriegsende nach Berlin verschlagen. 1947 begegnete ihm dort der ehemalige 'Gasmeister' von Sobibor, Bauer, auf der Straße. Bauer wurde auf Lerers Anzeige vor Gericht gestellt und zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. In seinem Prozess fielen die Namen der elf Angeklagten, die jetzt in Hagen vor Gericht stehen." Der FR-Korrespondent betont die Rolle der Überlebenden bei der Aufklärung: "Dem Zeugen Lerer […]verdankt außerdem ein Göttinger Filmatelier den Verlust des bewährten Vizebühnenmeisters Frenzel, und die kleine Stadt Soltau muss ohne ihren Beigeordneten Hans-Heinz Schütt auskommen, dem die Anklage Beihilfe zum Mord an zahllosen Menschen vorwirft."

Während die FR die Zeugenaussagen kommentarlos wiedergibt, nehmen FAZ, ZEIT und NZZ eine Wertung vor. So entsteht ein ambivalenter Eindruck. Wäre den Überlebenden auch geglaubt worden, wenn sie nicht "sehr zurückhaltend" und "überlegt formulierend" ausgesagt hätten, wie die FAZ schrieb? Oder versuchten die Journalisten damit die Glaubwürdigkeit der ZeugInnen gegenüber einer skeptischen Öffentlichkeit zu stärken?

FAZ-Korrespondent Lothar Bewerunge konzentrierte sich in seinem Bericht vom Dezember 1965 auf Thomas Blatt: "Zwei Zöpfe, geflochten aus Frauenhaar, legt der 38 Jahre alte Thomas Blatt, heute Kaufmann in Los Angeles, auf den Zeugentisch im Schwurgerichtssaal des Hagener Landgerichts. Dann schüttelt ihn ein Weinkrampf. Noch bevor er erläutern kann, dass er diese Zöpfe im vergangenen Jahr bei privaten Grabungen auf dem Gelände des ehemaligen Vernichtungslagers Sobibor in Polen am Bug gefunden habe, bricht er zusammen. Die elf Angeklagten rührt das wenig." Bewerunge ist von dem Überlebenden offensichtlich beeindruckt. "Thomas Blatt […]kann dem Gericht wie kein anderer Zeuge zuvor umfangreiches Anschauungsmaterial vorlegen. Er musste in Sobibor große Stapel von Dokumenten und Habseligkeiten der Häftlinge verbrennen. […]So konnte er aufzeichnen, wann ein Transport aus Holland, aus der Tschechoslowakei, aus Polen oder Russland, vernichtet wurde. Seine Aufzeichnungen sind zwar keine konkreten Beweismittel, da sie nach dem Krieg als Arbeitsunterlagen für ein Drehbuch zu einem geplanten Dokumentarfilm umgeschrieben wurden. Doch sie vermitteln einen erschütternden Eindruck vom Lagerleben in Sobibor."

Während die NZZ den Erinnerungslücken der Opfer Verständnis entgegenbringt, übernimmt die FAZ im Oktober 1966 - im Vergleich zu den vorherigen Artikel völlig überraschend - die Wertung der Zeugenaussagen durch die Verteidiger der Angeklagten. "Aber mancher Zeuge dieses Verfahrens steht im Zwielicht. Da traten ehemalige Sobibor-Häftlinge auf, die in ihren Wiedergutmachungsanträgen vor Jahren schon vergessen hatten, ihren Aufenthalt in Sobibor anzugeben. In Hagen warteten sie mit harten Beschuldigungen auf, die von den Ermittlungsprotokollen früherer Jahre erheblich abwichen." Der FAZ-Korrespondent macht sich hier nicht die Mühe, zu erklären, dass einige Überlebende in ihren Entschädigungsanträgen Sobibor unerwähnt ließen, weil sie fürchteten, dass ihnen nicht geglaubt würde.

Eine Frage des Befehlsnotstands

Die Berichterstattung zum Hagener Prozess wird nur vor dem Hintergrund des Belzec-Verfahrens verständlich, das 1964 vor dem Landgericht München mit summarischen Einstellungen endete. 1963 hatte die dortige Staatsanwaltschaft Anklage gegen acht ehemalige T-4 Angehörige erhoben, die im Vernichtungslager Belzec eingesetzt waren. Der Vorwurf lautete auf Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in 90.000 (Erich Fuchs) bis zu 450.000 (Josef Oberhauser) Fällen. Doch das Landgericht lehnte die Eröffnung der Hauptverhandlung - mit Ausnahme von Josef Oberhauser - ab. Die Richter waren der Ansicht, die T-4 Angehörigen hätten "in dem Bewusstsein gehandelt, sich in einer völlig ausweglosen Zwangslage zu befinden und nichts anderes tun können, als den ihnen erteilten Befehlen zu gehorchen". Jene Frage des "Befehlsnotstands" war im Hagener Sobibor-Prozess ebenfalls ein Moment nicht nur der juristischen Auseinandersetzung, sondern auch der Berichterstattung - insbesondere in der FAZ. Zunächst schien es, als würde die Staatsanwaltschaft auch in Hagen schon vor Prozesseröffnung am richterlichen Verständnis für den "Befehlsnotstand" scheitern. Die Richter wollten die Anklage bei sieben von zwölf Beschuldigten nicht zulassen und begründeten dies wie ihre Münchener Kollegen. Doch die Richter des OLG Hamm zwangen das Landgericht Hagen, die Anklage gegen alle zwölf Täter zuzulassen.

Jenseits der juristischen Fragen, spiegelt der Konflikt um den angeblichen Befehlsnotstand den Wunsch der bundesrepublikanischen Gesellschaft nach Entlastung für die Verantwortung für die Shoa wider. Und so zieht sich dieser Komplex wie ein roter Faden durch die gesamte Prozessberichterstattung.

Als der ehemalige Staatsssekretärs der Adenauer-Regierung, Hans Globke, im Mai 1966 als Zeuge der Verteidigung im Hagener Prozess gehört wird, ist das für die FAZ Anlass, das Thema zum wiederholten Mal aufzugreifen. FAZ-Korrespondent Bewerunge ist offensichtlich wenig angetan von Globkes Auftritt. "Es vergeht kaum ein Monat, da er [HANS GLOBKE]nicht eine Ladung zu diesem oder jenem Judenmordprozess erhält. Dutzende Male ist er als Befehlsnotstandszeuge benannt worden, ohne etwas Entscheidendes aus eigenem Erleben beitragen zu können, Im Hagener Sobibor-Prozess war es am Montag nicht anders. […]Der Kommentator der Nürnberger Gesetze gab auch in Hagen die bekannten Erklärungen ab. Er habe die Judengesetzgebung des Hitler-Staates für Unrecht gehalten, aber sie habe ja auch ‚in diese Willkür eine gewisse Ordnung hineingebracht'." Ein halbes Jahr nach Globkes Auftritt ergreift die FAZ jedoch unvermittelt Partei: "Nun warten fünf der elf Angeklagten in Hagen, was das Schwurgericht befinden wird. Billigt es ihnen für Sobibor keinen Notstand zu, kann das dazu führen, dass das Belzec-Verfahren in München doch noch eröffnet wird. Wenn aber diese fünf im Putativ-Notstand waren, warum dann nicht auch der eine oder andere SS-Unterführer, der sich mit ihnen in Hagen verantworten muss?"

"Sanfte Züge des Märtyrers"

Von Beginn an konzentriert sich die Berichterstattung der Zeitungen auf die beiden Hauptangeklagten, Karl Frenzel und Kurt Bolender, denen die Anklage hunderte von so genannten Exzesstaten vorwarf.

Mit Widerwillen schreibt Fritz Mörschbach in der FR: "Bolender selbst ist unter seinem richtigen Namen für tot erklärt worden. Es gelang ihm nach dem Krieg Papiere auf den Namen Brenner zu bekommen. Auf die Frage, warum er sich dieses Pseudonym zulegte, erinnerte er an seine Tätigkeit als Leichenverbrenner bei der Euthanasieaktion. Deshalb hat er sich erst mal so genannt. ‚Das bleibt einem doch im Gedächtnis.'" Auch Bewerunge macht im September 1965 seine Abneigung gegen den Angeklagten deutlich, der alles leugnete. "Die Exzesstaten […]will er nicht begangen haben, für Beihilfe zum Mord an 86.000 Menschen nimmt er den Befehlsnotstand in Anspruch. So, wie [ER]sich darstellt, entsteht im Schwurgerichtsaal das Bild eines kleinen Befehlsempfängers, der zudem noch sanfte Züge des Märtyrers trägt."

Die neun anderen Beschuldigten treten in der Berichterstattung in den Hintergrund. Sie präsentierten sich geschlossen als schuldlos. Die FAZ schreibt dazu im September 1965, "Rührung ist Bolender und seinen Mitangeklagten fremd, wenn sie von den überfüllten Leichengruben sprechen, aus denen bei sommerlicher Hitze die Toten hervorquollen, schwarz und aufgedunsen. Aber mancher von ihnen greift zum Taschentuch, wenn der Hochzeitstag, der Verlust eines Auges oder der Tod des Vaters in der Heimat zur Sprache kommen."

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DAS LAGER SOBIBOR

Sobibor war eines von drei Vernichtungslagern der "Aktion Reinhardt", mit der Heinrich Himmler die Ermordung von über eineinhalb Millionen Juden plante. Mit der Durchführung wurde der SS- und Polizeiführer des Distrikts Lublin Odilo Globocnik betraut, SS-Obersturmführer Christian Wirth ihm zur Seite gestellt. Die Wachleute waren zuvor bei der Aktion T4, dem "Euthanasie" genannten Massenmord an über 100000 Behinderten, eingesetzt. Das Lager wurde 1942 fertig gestellt; erster Kommandant war Franz Stangl. Von Mai 1942 bis Oktober 1943 wurden in Sobibor fast 250000 Juden ermordet. Seit Juli 1943 planten Häftlinge eine Revolte, bei der am 14. Oktober 1943 12 SS-Angehörige der Wachmannschaften getötet wurden und die zur Auflösung des Lagers führte. Etwa 300 Häftlinge konnten fliehen, 50 von ihnen überlebten bis zum Kriegsende. ber

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DIE AUTORINNEN

Heike Kleffner, Jahrgang 1966, arbeitet als Journalistin und Übersetzerin zu den Themen Rechtsextremismus und Migration.

Miriam Rürup, geb. 1973, Historikerin, ist Zeit-Stipendiatin am Simon Dubnow Institut für jüdische Geschichte und Kultur in Leipzig und Redakteurin der Zeitschrift WerkstattGeschichte.

Der Beitrag ist das überarbeitete Nachwort zum Buch: Thomas "Toivi" Blatt: Sobibor - Die vergessene Revolte. Münster: Unrast-Verlag (rat) 2003, 240 S., 16 Euro. ISBN 3-89771-813-8.

Frankfurter Rundschau
Frankfurter Rundschau vom 07.11.2003

kt / hagalil.com / 2003-11-07

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