Auch in der Türkei war der Glaube verbreitet, die
Selbstmordattentäter der al-Qaida konzentrierten sich auf die USA und Israel.
Diese Staaten gälten als Orte des Bösen, und so seien Anschläge auf Zivilisten
in Tel Aviv oder auf Symbole des globalen Kapitalismus wie das World Trade
Center zu erklären. Das war jedoch falsch.
Die Reihe von blutigen Anschlägen in Istanbul hat in der
vergangenen Woche den türkischen Sicherheitsapparat, den Geheimdienst und die
regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) völlig unvorbereitet
getroffen. Zu gerne wurden Djerba, Karachi, Bali, Mombasa, Riad und Casablanca
übersehen und schienen weit weg von Europa zu sein. Die Türkei kam schließlich
stets weit hinten in der Liste der bedrohten Länder.
Hatte sich die Türkei vor dem Irakkrieg nicht geweigert, den
USA Militärbasen zur Verfügung zu stellen? War nicht in der Türkei seit November
vergangenen Jahres – erstmals in der Geschichte der säkularen Republik seit 1923
– eine aus frommen Moslems bestehende Einparteienregierung an der Macht? Waren
wir nicht im heiligen Fastenmonat Ramadan?
Die Attentäter scherte dies alles offensichtlich wenig,
ebenso wie der Umstand, dass die Opfer zum großen Teil türkische Moslems waren.
Al-Qaida, die logistisch in der Lage war, im Abstand von nur fünf Tagen die
verheerenden Anschläge auszuführen, lenkte so die Aufmerksamkeit der Welt auf
sich.
Die Attentate von Istanbul sind nicht das Werk einer
nationalen Terrororganisation. In den Anfängen der al-Qaida mögen Araber wie
Ussama bin Laden eine bedeutende Rolle gespielt haben. Heute ist das Netzwerk
ein multiethnischer Zusammenschluss, der für die menschenverachtenden Attentate
verantwortlich ist. Ob Indonesier, Tunesier, Türken oder gar Konvertiten aus dem
christlichen Westen den Terror exekutieren, ist nebensächlich. Ihre Morde
stellen einen antiaufklärerischen, rechtsextrem-religiösen ideologischen Entwurf
gegen den globalen Kapitalismus dar.
Die aggressive US-Außenpolitik und die israelische Politik
gegenüber den Palästinensern mögen bewirken, dass der gewalttätige politische
Islam unter marginalisierten Jugendlichen populär ist. Doch sie sind nicht
ursächlich. Man kann nicht oft genug auf die Rolle der USA bei der Bewaffnung
extremistischer, islamistischer Gruppen in Afghanistan im Kampf gegen die
Sowjetunion oder die Rolle Israels bei der Unterstützung der Hamas gegen die PLO
aufmerksam machen. Nichtsdestotrotz stellt sich die Frage, wer wen
instrumentalisierte. Das Ergebnis ist in jedem Fall, dass mittlerweile ein
islamistisches Terrornetzwerk mit einer Eigendynamik besteht, die sich nicht für
fremde Interessen vereinnahmen lässt.
Die bislang identifizierten Bombenleger von Istanbul sind
Kurden. Ihre politische Entwicklung zum supranationalen, islamistischen
Terrornetz ist keineswegs außergewöhnlich. Die Bombenleger waren Mitglieder der
kurdischen Hizbollah, die in den neunziger Jahren vom türkischen Staat geduldet
wurden, weil sie als Hilfstruppen gegen die Guerilleros der PKK angesehen
wurden. Hunderte politische Morde an kurdischen Zivilisten, die der PKK nahe
standen, gingen auf das Konto der Hizbollah. Es blieben die so genannten
»unaufgeklärten« politischen Morde, weil der Staat kein Interesse an ihrer
Aufklärung hatte. Der Staat, der gewaltsam gegen eine
sezessionistisch-nationalistische Bewegung vorging, nämlich gegen die PKK, deren
revolutionäre Rhetorik nur leere Hülle war, bediente sich einer religiösen
Terrororganisation, die sich ebenfalls fast ausschließlich aus Kurden
zusammensetzte. Nach der weitgehenden Zerschlagung der politischen und
militärischen Strukturen der PKK hatte die Hizbollah ihre Schuldigkeit getan.
Plötzlich war sie zur inneren Bedrohung geworden. Plötzlich fand man die
Massengräber, die die Hizbollah zu verantworten hatte.
Es sind nicht linke Verschwörungstheoretiker, die das
Verhältnis des Staates zur Hizbollah mit dem Stand des Kampfes gegen die PKK
begründen, sondern führende Militärs, die nach dem Jahr 2000 freimütig
bekannten, dass sie der Hizbollah freie Hand gegen die PKK gelassen hatten.
Als einzige säkularisierte islamische Gesellschaft im Nahen
Osten ist die Türkei ein Feindbild für die reaktionäre, antiaufklärerische
islamistische Internationale. Gerade die rechtliche Institutionalisierung der
Türkei als bürgerliche Republik seit den zwanziger Jahren ist für die
Bombenleger unerträglich. Die Türkei ist eine moslemische Gesellschaft, die
jetzt schon seit fast einem Jahrhundert mit einem bürgerlichen Rechtssystem
lebt. Der einst von den Republikgründern diktierte Transformationsprozess ist
längst abgeschlossen. Ob Ehescheidung oder Erbrecht, ob Diebstahl oder Mord –
nur Wahnsinnige in der Türkei kämen heute auf die Idee, die Geltung des
islamischen Rechts, der Sharia, zu fordern.
Der Aufstieg der regierenden AKP unter Tayyip Erdogan, der
heute Ministerpräsident ist, war nicht Ausdruck einer Islamisierung der
Gesellschaft, sondern Ergebnis der Abrechnung mit einem herrschenden
Parteiensystem, das große Teile der Bevölkerung von der Partizipation ausschloss
und die wichtigen Entscheidungen dem Militär und dem Sicherheitsapparat
überließ. Gleichzeitig ebnete die Regierung der AKP den Weg für eine Aussöhnung
der gläubigen Moslems mit dem laizistischen Staat. So ist es nicht erstaunlich,
dass unter einer konservativ-moslemischen Regierung die größte Demokratisierung
seit Jahrzehnten eingeleitet wurde.
Die Orientierung am Westen und an der EU wurde von der AKP
nie in Frage gestellt. Die Partei ist aus dem politischen Islam hervorgegangen,
doch die Entwicklung formt sie mehr und mehr zu einer konservativ-demokratischen
Volkspartei. Die Istanbuler Bomben werden diesen Prozess verstärken. Die AKP als
Regierungspartei, die die frommen Moslems in das säkularisierte Regime
integriert, wird nicht umhin kommen, die Westbindung zu stärken – inklusive der
Kooperation mit den USA und Israel – und die gewalttätigen islamistischen
Strömungen in der Türkei zu bekämpfen. Die Verteilung der Bonbons der
Regierungspartei an die fromme Wählerschaft – Kopftuchfreiheit an der
Universität etc. – wird vorerst eingestellt werden. Um jeden Preis wird sich die
AKP gegen den Eindruck wehren, sie gebe Terroristen nach. Die Bombenleger haben
in der Türkei im Gegensatz zu anderen moslemischen Gesellschaften nicht den
geringsten Rückhalt in der Bevölkerung. Und ein »nationaler«, »demokratischer«,
»türkischer« Konsens gegen die Terroristen war in der Türkei noch nie so einfach
herzustellen wie heute.
So ist die Botschaft der Bombenleger nicht unbedingt an die
Adresse der Türkei gerichtet. Sie ist vielmehr eine Botschaft an die Welt, dass
die al-Qaida nach den Kriegen in Afghanistan und dem Irak keineswegs geschwächt,
sondern gestärkt ist. Und dass der Terrorismus im Namen des globalen Jihad
weitergehen wird.