Jemand geht in eine Kneipe, bestellt sich ein Bier und setzt
sich in Ruhe hin. Plötzlich kommt ein Schlägertyp vom Nebentisch, baut sich
bedrohlich auf und beschimpft den anderen. Dann dreht sich der Schlägertyp um,
geht zu seinen Kumpels zurück und sagt: »Habt ihr gesehen? Ich habe nicht
zugeschlagen, ich habe mich im Griff.« Seine Kumpels applaudieren, und alles ist
wieder beim Alten.
Was das ist? Der deutsche Diskurs über Antisemitismus. Man
erinnere sich: Die Pointe der Friedman-Affäre war, dass sich hinterher die
Protagonisten der deutschen Öffentlichkeit gegenseitig auf die Schulter
klopften, weil die Debatte nicht antisemitisch verlaufen sei. Ähnliches wird
sich in dem Skandal um die Rede Martin Hohmanns abspielen. In ein paar Wochen
wird man das zügige Eingreifen der Öffentlichkeit und das Engagement der
Politiker als Beweis für die politische Reife der Deutschen bewerten.
Die erschreckte Feststellung, dass der Antisemitismus in der
Mitte der Gesellschaft angekommen sei (als wäre er da nicht schon immer
gewesen), wird bald vergessen sein und die Fahndung nach CDU-Politikern, die
sich fremdenfeindlich oder intolerant geäußert haben (als wäre das nicht ihr Job
und als entspräche es nicht der Erwartung ihrer Klientel), wird bald vorüber
sein. Die Debatte kommt ein weiteres Mal einer rituellen Reinigung gleich.
Business as usual!
Business as usual? Die Grundstruktur des deutschen Diskurses
über den Antisemitismus lautet schlicht: Wer Antisemit ist, bestimmt der
Souverän, der Staat samt seinen ideologischen Apparaten. Wer die Antisemiten
bestimmen kann, kann auch definieren, was heute Antisemitismus ist, und noch ein
Stück weiter gedacht: Ihm obliegt die Sortierung seiner Bürger in schädlich und
nützlich.
Abgesehen davon, dass in dieser Logik der Jude stets der
Schutzjude bleibt, führt das in Hohmanns Fall dazu, dass keiner auf den ersten
Teil seiner Rede eingeht. Dabei ist es gerade dieser erste Teil, der Hohmanns
Ausschweifungen zur jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung motiviert. Seine
Hetze gegen Sozialhilfeempfänger, die er Schmarotzer nennt, und gegen Politiker,
die deutsches Vermögen ans Ausland und an Zwangsarbeiter verschwenden; sein
Plädoyer für die Volksgemeinschaft. »Das Wir-Denken, die
Gemeinschaftsbezogenheit, müssen aber zweifellos gestärkt werden«, sagte
Hohmann.
Alle Kommentare beziehen sich auf das Wort »Tätervolk«. Denn
es geht heute nicht mehr um Hohmanns entlastenden Befund, dass die Juden
Bolschewisten seien und gemordet hätten, sondern um die authentische, ehrliche
Trauer, die »deutsche Versöhnung mit sich selbst«, wie Angela Merkel es nennt.
Die Deutschen waren auch Opfer! Der Bombenkrieg! Die Vertreibung! Die
Vergewaltigungen!
Hohmann macht für das Schmarotzertum die Verweichlichung der
Volksgemeinschaft durch ihre selbstquälerische Haltung zur
nationalsozialistischen Vergangenheit verantwortlich. Und schon ist er
mittendrin im aktuellen deutschen Geschichtsdiskurs. Aber er zieht daraus die
nach Maßgabe der Staatsräson falschen Schlüsse. Er erniedrigt die Juden zu
Tätern, anstatt die Deutschen trotz aller Schuld zu Opfern zu erheben. Sein
Fehler ist so gering, dass das Geschrei über ihn so groß sein muss.
Die Abweichung wird zur differentia specifica umgelogen. Doch
das »Wunder von Bern« hat mit der »Rede von Neuhof« mehr zu tun, als die
Zivilgesellschaftler glauben machen wollen.