Reporter, die sich rund um Fulda - die politische Heimat des
CDU-Abgeordneten Martin Hohmann - umgehört haben, sind einhellig der Meinung: Im
schwarzen Osthessen kann sich Hohmann einer satten Mehrheit für seine Thesen
sicher sein. Diese Heimatfront steht - und zwar nicht erst seit gestern. Schon
zu Zeiten des Militärbischofs Johannes Dyba und des CDU-Rechtsauslegers Alfred
Dregger, der in Fulda vierzehn Jahre lang Oberbürgermeister war, galten dort
Sozialdemokraten sozusagen als Fehlgriffe der Natur und der göttlichen
Vorsehung.
Aber was bedeutet das? Besteht die Mehrheit der schwarzen
Osthessen aus Antisemiten? Ist die Grundierung von Hohmanns
Nationalfeiertagsrede antisemitisch? Die behende Etikettierung von dessen Rede
als "antisemitisch" belegt nichts, sondern lenkt eher vom Kern ab. Das zur
deutschen Manie und fast schon Mode gewordene Herumfuchteln mit
Antisemitismusvorwürfen wirkt erkenntnishemmend und insofern verblödend. Klar -
es gibt in Hohmanns Rede einige Passagen, die auch in antisemitischen
Zusammenhängen notorisch auftreten. Aber Hohmanns Botschaft ist nicht ein
Antisemitismus, und was sich an Restspuren davon in seiner Rede abgelagert hat,
zeugt nur von intellektueller Dumpfheit. Wieder einmal versuchte sich ein
Hobbyhistoriker an einem Thema, das ihn schlicht überfordert. Zum Verhängnis
wurden dem Mann aber nicht alte Sterotype, sondern ein Begriff, den er nicht
erfunden, sondern vorgefunden hat - der vom "Tätervolk".
Wer das Wort in die Welt gesetzt hat, ist unbekannt. Sicher
ist nur, dass es keine Antisemiten waren, sondern gut meinende Kritiker der von
Kohl und seinen Hausintellektuellen Anfang der 80er-Jahre beförderten
"geistig-moralischen Wende", mit der nebenher die kurvenreiche deutsche
Geschichte im Sinne einer Normalisierung begradigt werden sollte. Was man sich
unter einem "Tätervolk" vorzustellen hat, konnte noch niemand überzeugend
dartun. Völker begehen keine Taten, sondern nur benennbare oder nicht benennbare
Subjekte, denen allein man die Schuld für Taten zurechnen kann. Wer gedankenlos
"Tätervolk" sagt, unterstellt Kollektivschuld, Sippenhaft oder andere völlig
irrationale Vorstellungen von "den" Deutschen, "den" Russen oder "den" Juden als
kollektiv Handelnden. In Mörderbanden mit hierarchischen Befehlsstrukturen
können Subjekte zu Mordautomaten abgerichtet werden. Deren Taten sind dennoch
keine Kollektivtaten. Die Schuld solcher Mordautomaten relativiert sich,
verliert aber nie völlig ihr Zentrum beim einzelnen Täter, auch wenn er in einem
größeren Verband handelt.
Die schwachsinnige Parole "Tätervolk" beziehungsweise die
Gegenüberstellung von "Tätervolk" und "Opfervolk" brachte Hohmann auf Abwege.
Aber nicht, weil er den Mord an den Juden leugnen oder auf diese selbst abwälzen
wollte. Hohmann ist ein authentisches Produkt der Dregger-CDU, das heißt jener
deutsch-national ausgerichteten Stahlhelm-Fraktion, die den Zweiten Weltkrieg
als "Kampf gegen den Bolschewismus" verstand und diesen als "Kalten Krieg" bis
in die jüngste Vergangenheit verlängerte. Er steht in der Tradition jener
deutsch-national orientierten Konservativen, deren Weltbild eine ganz einfache
Zurechnung bestimmt: Für den Mord an den Juden sind Hitler und die wenigen
Nationalsozialisten verantwortlich, und der große Rest "deutscher Patrioten" hat
"nur" das Vaterland gegen den Bolschewismus verteidigt - wie das Dregger zum
vierzigsten Jahrestag der Befreiung am 8.Mai 1985 stilbildend formulierte.
Reden wie die Hohmanns sind nicht einem hinterwäldlerischen
Antisemitismus verpflichtet, sondern dem engagierten Bemühen um eine
Normalisierung, um eine Ehrenrettung der deutschen Nation als "normale Nation"
(was immer das sei). Wenn man über Hohmann diskutiert, muss man nicht über
Antisemitismus reden, sondern über Nation, deren Wiederbelebung und
Neo-Nationalismus.
Wie lässt sich die Rede über "allgegenwärtige Mutzerstörung,
die durch Hitlers Nachwirkungen ausgelöst wurde" (Homann), anders dechiffrieren
als ein Stoßgebet für die Normalisierung der Nation? Dieser Normalisierung steht
die seiner Ansicht nach zu Unrecht fortbestehende Verantwortung - nicht Schuld!
- der Nachgeborenen für die von Deutschen begangenen Verbrechen entgegen. Um das
zu kaschieren, kostümiert Hohmann Verbrechen, in die mehr oder weniger direkt
Millionen von Deutschen aus nationalsozialistischen Kampfverbänden,
Wehrmachtseinheiten, Partei- und Staatsapparaten, Bürokratien und
wissenschaftlichen Institutionen involviert waren, zu Wirkungen beziehungsweise
Nachwirkungen Hitlers. Um die "wiedervereinigte" Nation endlich zu normalisieren
und unter Schuld und Verantwortung für einen Völkermord einen Schlussstrich zu
ziehen, bastelte sich Hohmann Hitler als Gesamttäter, dessen Verbrechen er nicht
wegdisputieren will, und führt zur Selbstentlastung "die Juden" als "Tätervolk"
ins Feld.
Hohmann entlehnt die antisemitischen Gassenhauer - von Henry
Fords Bezeichnung der Juden als "Weltbolschewisten" bis zum "Juden" Karl Marx,
der am Ursprung des deutschen Verhängnisses steht - der dürftigen Kompilation
eines Bielefelder Bibliothekars, der "jüdische Kommunisten" und andere
"Verschwörer gegen die Sozialordnung" porträtierte. Aber das sind nur dekorative
und suggestive Illustrationen in Hohmanns Rede. Das Hauptanliegen des
Christlich-demokratischen-Deutschnationalen heißt "Gerechtigkeit für
Deutschland". Ganz im Geiste und in der Tradition Dreggers forderte er "eine
gnädige Neubetrachtung und Umdeutung" der Geschichte mit dem bekannten
deutsch-nationalen Refrain: Wir sind so normal wie alle. Was da war, das war
einmal. Und überhaupt soll man uns endlich in Ruhe lassen. Derlei
nationalistisch-biedersinnige Gemeinplätze sind - im Unterschied zu den
antisemitischen Plattitüden - durchaus mehrheitsfähig.
Das Ganze ist eine Reprise der Debatten um die "deutsche
Leitkultur", um Martin Walsers national imprägnierte Meinungs- und
Befindlichkeitsprosa oder um Jörg Friedrichs sprachlichen Opferkitsch. Wer diese
Debatten und ihre Protagonisten als "antisemitisch" qualifiziert, liegt nicht
nur falsch, sondern verhindert zu erkennen, worum es wirklich geht: um
Neo-Nationalismus und die Rehabilitierung der Nation aus der Mitte der
Gesellschaft heraus und nicht vom rechten Rand her. 1989 sah es für viele
zunächst danach aus, als ob eine massenhaft gestützte Renationalisierung unter
dem verlogenen Slogan "Wir sind ein Volk" aus dem Osten drohe, wozu der
demagogische Tenor in der Wahlkampfrhetorik der Kohl-CDU beitrug. Diese Blase
platzte schnell. Im Osten blühen nicht die Landschaften, sondern brutaler
Rabauken-Rechtsradikalismus. Dessen Herrenreitervariante dagegen - die
deutsch-national orchestrierten Normalisierungs- und Rehabilitationsversuche -
kommen ausschließlich aus dem Westen."