Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, der Vorsitzende der
Stiftung "Denkmal für die ermordeten Juden Europas" hat am Sonntag zum
wiederholten Mal öffentlich die Mehrheitsentscheidung des von ihm angeführten
Kuratoriums bedauert. Er war und ist dagegen, dass der Zyklon-B-Mutterfirma
Degussa der Auftrag zur Imprägnierung des Mahnmals entzogen wurde. Die Firma
Degussa, sagt der Bundestagspräsident, sei eine Firma mit internationalem
Renommee. Sie habe sich mehr als andere Firmen der eigenen Nazigeschichte
gestellt. Das ist richtig: Aus ihrer NS-Vergangenheit rekrutiert die Degussa
ihre Zukunft.
So unterhält das Unternehmen seit 1954 eine Stiftung, die den
Namen "Degussa-Hermann-Schlosser-Stiftung" trägt. Der Namensgeber bewarb sich
1933 um die NSDAP-Mitgliedschaft, konnte aber wegen seiner Vergangenheit als
Freimaurer erst später durch einen Gnadenerlass Hitlers in die Partei
aufgenommen werden. Er wurde Wehrwirtschaftsführer, Geschäftsführer der
Zyklon-B-Produzentin Degesch und wechselte 1940 in deren Verwaltungsausschuss,
nachdem er Vorstandvorsitzender der Mutterfirma Degussa geworden war. 1945 wegen
Degesch aus dem Verkehr gezogen, wurde er nach seiner Haftentlassung 1948 wieder
Vorstandsvorsitzender - er widmete sich jetzt, besonders zur Zeit des Ministers
für Atomfragen, Franz-Josef Strauß, dem "aktuellen deutschen Atomprogramm". Der
spätere Verteidigungsminister wollte eine atomare Aufrüstung der Bundeswehr
durchsetzen. Zuletzt war Hermann Schlosser bis zu seinem Tod 1979
Ehrenvorsitzender des Degussa-Aufsichtsrats. In seinem Geburtsort Gießen gibt es
Streit, ob Hermann Schlosser - wie übrigens auch Adolf Hitler - in der
Ehrenbürgerliste der Stadt bleiben soll.
Die Degussa aber stellt sich ihrer Geschichte, indem sie
ihren Mann weiterhin in Ehren hält. Im März dieses Jahres wurden ihre
verschiedenen Stiftungsaktivitäten durch eine in Düsseldorf gegründete
Degussa-Stiftung neuorganisiert. Das wäre eine gute Gelegenheit gewesen, die
Frankfurter "Degussa-Hermann-Schlosser-Stiftung" ganz einfach aufzulösen. Indes
ist auf der Degussa-Homepage unter dem Stichpunkt "Innovationen/Service" zu
erfahren, dass zu den weiterhin bestehenden Einrichtungen auch die
"Degussa-Hermann-Schlosser-Stiftung" gehört, die sich der "beruflichen
Ausbildung begabter Nachwuchskräfte" widmet. "Allerdings will man künftig
gezielter Doktoranden und Diplomanden fördern, da hier ein wesentlich größerer
Rückfluss in die Rekrutierungstools zu erwarten ist", erläutert Mathias Caspari,
Leiter des sogenannten "Board Office".
Nachwuchsrekrutierung? Etwa im Geist des
Wehrwirtschaftsführers Hermann Schlosser, unter dessen Leitung die Degussa das
Gold aus dem Schmuck und den Zähnen der Juden einschmolz? Das Unternehmen würde
solche Vermutungen selbstverständlich strikt zurückweisen. Ihre
Vergangenheitsbewältigung sieht anders aus. Dem Soziologen Hersch Fischler, der
die Geschäfte mit dem Gold der ermordeten Juden aufdeckte, wurde der weitere
Zugang zum Degussa-Archiv verwehrt. Statt seiner darf ein bewährter und
natürlich völlig unabhängiger Auftragsforscher die Geschichte der Degussa
aufarbeiten. Es ist der Historiker Peter Hayes, der mit großer Leidenschaft die
IG Farben gegen den Vorwurf wohlinformierter Zeitzeugen verteidigte, sie habe
sich schon frühzeitig wegen des geplanten Konzentrationslagers um den Standort
Auschwitz bemüht.
Über Zyklon B schreibt die letzte offizielle Firmengeschichte
(*) aus dem Jahr 1993: "Es wurde das führende Begasungsmittel für die Bekämpfung
von Vorrats- und Gesundheitsschädlingen in geschlossenen Räumen." Die Verdienste
Hermann Schlossers um den Vertrieb dieses Produkts werden deutlich
hervorgehoben: Im Zweiten Weltkrieg habe man 500 mit Zyklon B betriebene
Entlausungskammern geliefert. Natürlich war das Gift mit einem Reizstoff
versehen, um Menschen zu warnen. "Jedoch wurde nicht alles Zyklon B mit
Reizstoff versehen. Beispielsweise begaste man Tabak nur mit warnstofffreiem
Zyklon, da sonst der Geschmack des Tabaks gelitten hätte." Ja, und dann wurde
von der SS Zyklon B auch "für die schrecklichen Massenmorde im Lager Auschwitz
und anderswo missbraucht." Dass man der SS, obwohl sie keine Tabakfabrik
unterhielt, Zyklon B ohne Warnstoff lieferte, ist in dieser
Unternehmensgeschichte nicht erwähnt.
Falsch wäre es, erklärte der Bundestagspräsident in seinem
Sonntagsinterview, wenn man "jetzt dieser Firma gegenüber Rufmord" betriebe. Und
Michael Naumann, der Herausgeber der Zeit, beklagte eine "überraschende
Schuldübertragung auf industrielle Produkte oder auf Firmennamen" durch das
Kuratorium für das Holocaustmahnmal. Die Argumente der Kuratoriumsmehrheit
seien, meint Naumann, ein Echo jener "moralischen Überlegenheitsrhetorik", die
vor Jahrzehnten die politischen Schuld-Diskussionen Deutschlands begleiteten.
Sein Aufsatz auf der Frontseite der Zeit trug die modische Titelzeile "Schuldig
für immer"?
Eines sollten wir nicht vergessen, ermahnte uns Michael
Jansen, der Präsident der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung, Zukunft" im
ARD-Wochenspiegel: Die Degussa wirke maßgebend in der Stiftung zur Entschädigung
der Zwangsarbeiter mit. Er muss es wissen Schließlich war er, das wurde nicht
erwähnt, zuvor Generalbevollmächtigter der Degussa. Initiiert wurde die Stiftung
allerdings von der Bundesregierung, die dadurch, wie die FAZ schrieb, "zur
Schutzmacht der Großindustrie" wurde. Denn für den Bundeskanzler stand nur ein
Ziel "im Vordergrund", nämlich - so Gerhard Schröder wörtlich - "Klagen,
insbesondere Sammelklagen in den USA zu begegnen und damit Kampagnen gegen den
Ruf unseres Landes und gegen die deutsche Wirtschaft" zu begegnen.
So hat nun die Degussa die Hand zur Versöhnung mit den durch
Zyklon B ermordeten Juden ausgestreckt. Wenn jemand mea culpa sage, müsse man
ihm auch glauben, erklärte Peter Eisenman, der Architekt des Mahnmals.
Schließlich will ja die Firma mit ihrem Mittel verhindern, dass die
unausbleiblichen Hakenkreuzschmierereien auf dem Mahnmal aller Welt sichtbar
werden. Und dafür bietet die Zyklon-B-Mutter zu einem günstigen Preis ein - wie
Bundestagspräsident Thierse am Sonntag unterstrich - "vorzügliches Produkt" an.
Tatsächlich, in ihrer Pressemitteilung vom 28. Oktober hat
das Unternehmen die angemessenen Worte für ihre Reue gefunden. Die
Pressemitteilung beginnt mit dem Satz: "Die Degussa AG, Düsseldorf, bedauert die
Entscheidung der Stiftung ›Denkmal für die ermordeten Juden Europas‹, aber
respektiert sie." Sie verweist darauf, dass Degussa heute auch "Angehörige des
jüdischen Glaubens" beschäftige. Und sie endet mit dem sachdienlichen Hinweis:
"Degussa ist ein multinationales Unternehmen mit konsequenter Ausrichtung auf
die renditestarke Spezialchemie ... Die Stärke der Degussa sind maßgeschneiderte
Systemlösungen mit hoher Wirkung für ihre Kunden ... Die Aktivitäten von Degussa
folgen der Vision ›Jedem Menschen nützt ein Degussa-Produkt - jeden Tag und
überall.‹"
(*) Im Zeichen von Sonne und Mond - Von der Frankfurter
Münzscheiderei zum Weltunternehmen Degussa AG