Für kurze Zeit schien es, als habe Kroatien mit dem alten
Jahrhundert auch den nationalistischen Ballast der neunziger Jahre
abgeschüttelt. Nur wenige Wochen nach dem Tod des Kriegspräsidenten Franjo
Tudjman setzte sich 1999 bei den Parlamentswahlen überraschend klar ein von der
Sozialdemokratischen Partei (SDP) geführtes Reformbündnis durch. Die Zeit der
von Tudjman gegründeten Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft (HDZ), die die
nationalistische Unabhängigkeitsbewegung organisiert hatte, schien vorbei. Mit
Ivica Racan regierte nun ein Premierminister, der den Abschied von
Autoritarismus, Korruption und Klientelwirtschaft versprach. Stattdessen sollte
sich Kroatien stärker der Europäischen Union zuwenden.
Ein offeneres politisches Klima zu schaffen, versprach auch
der politisch liberale ehemalige Kommunist Stjepan Mesic, der kurze Zeit später,
im Februar 2000, die Präsidentschaftswahlen gewann. Tatsächlich geschahen in der
4,5 Millionen Einwohner zählenden Republik bald ungeheure Dinge. So sandte die
Präsidentengattin ein Grußwort an hunderte Schwule und Lesben, die am
Christopher Street Day in Zagreb demonstrierten. Ein Kulturschock in dem
katholischen Land, in dem der dahinsiechende Papst so viele Menschen begeistert
wie sonst nur im Vatikan. Kroatien galt als Hoffnung für den
Demokratisierungsprozess in Europas schmuddligem Hinterhof auf dem Balkan.
Doch wenn am 23. November die Kroaten zu den Parlamentswahlen
gerufen werden, muss ein längst blass gewordener Premierminister Racan um seine
Mehrheit bangen. Umfragen zufolge bringen es seine Sozialdemokraten nur noch auf
magere 18 Prozent. Die wieder erstarkte HDZ unter ihrem neuen Führer Ivo
Sanader, einem 50jährigen in Innsbruck promovierten Literaturwissenschaftler,
liegt dagegen bei stolzen 28 Prozent. Wer die neue Regierung bildet, wird
maßgeblich vom Abschneiden eines Schwarms von Klein- und Kleinstparteien
abhängen, die sich zwischen den beiden Blöcken tummeln oder rechts außen im
extremistischen Lager nach Stimmen fischen.
Statt Polarisierung, die in einer solchen Situation zu
erwarten wäre, machen sich unter den Wählern jedoch Ratlosigkeit und Frustration
breit. Nach einer Studie der Tageszeitung Vecernji list liegt die Zahl
derjenigen, die noch nicht wissen, wem sie ihre Stimme am kommenden Wochenende
geben sollen, über 40 Prozent. Sollte die HDZ also tatsächlich gewinnen, hätte
sie den Sieg vor allem ihrer klerikalkonservativ-nationalistischen
Stammwählerschaft zu verdanken. Die Sozialdemokraten könnten daran scheitern,
ihre potenziellen Anhänger zu mobilisieren. Man rechnet mit einer geringen
Wahlbeteiligung.
Die Gründe für den weit verbreiteten Missmut sind leicht
auszumachen. Zu Beginn der neunziger Jahre dachten die meisten Kroaten, ihnen
stünden alle Türen zum wirtschaftlichen Wohlstand offen, wenn sie sich erst von
Jugoslawien verabschiedet und die serbische Minderheit aus dem Land geekelt
hätten.
Diese Erwartungen wurden enttäuscht. Der monatliche
Durchschnittslohn liegt mit 500 Euro zwar deutlich höher als in den restlichen
ehemaligen jugoslawischen Republiken. Dafür ist das Preisniveau ebenfalls viel
höher. Zudem kommt längst nicht jeder in den Genuss einer regelmäßigen
Lohnzahlung. Die Arbeitslosenquote liegt im Durchschnitt bei 18 Prozent, unter
den Frauen sogar bei 23 Prozent. In Regionen wie dem kriegszerstörten Slawonien,
gibt es auch zehn Jahre nach dem Ende der Kämpfe kein Zeichen einer
wirtschaftlichen Genesung.
Zudem ist das große von Premierminister Racan als
Allheilmittel gepriesene Projekt der EU-Integration ins Stocken geraten. Statt
wie erhofft schon im Frühjahr 2004 der EU beizutreten, wurde Kroatien von
Brüssel auf die Wartebank gesetzt. Als neuer Termin wird nun die nächste
Erweiterungsrunde im Jahr 2007 genannt, in der auch Rumänien und Bulgarien
Mitglieder werden sollen. Doch auch hier türmen sich ärgerliche Probleme auf,
die man in Kroatien lieber vergessen würde.
Denn als Bedingung für eine Aufnahme der
Beitrittsverhandlungen bestehen das Tribunal in Den Haag sowie die Regierungen
der Niederlande und Großbritanniens auf der Auslieferung des als
Kriegsverbrecher angeklagten Generals Ante Gotovina. So halten sie die
Erinnerung wach, dass auch Kroaten im »vaterländischen Verteidigungskrieg«, wie
der Sezessionskampf hier bezeichnet wird, Kriegsverbrechen begangen haben.
Gotovina war einer der Befehlshaber bei der Vertreibung der
über 200 000 kroatischen Bürger serbischer Identität aus der Krajina im Sommer
1995. Als im Juni 2001 in Den Haag Anklage gegen ihn erhoben wurde, tauchte der
populäre General in den Untergrund ab, aus dem er sich hin und wieder mit einem
Interview meldet. Chefanklägerin Carla del Ponte wirft der Regierung vor, sie
kenne Gotovinas Aufenthaltsort, wolle ihn aber nicht verhaften. Das ist nicht
ganz unwahrscheinlich. Racan hätte Grund genug zu zögern. Denn allein die
Erklärung des Premierministers, dass er die Klage für gerechtfertigt halte und
weiter mit Den Haag kooperieren werde, löste im Sommer 2001 einen Proteststurm
aus, der seine Regierung fast zu Fall brachte.
Umso größer war die Freude, als Ende Oktober Bundeskanzler
Gerhard Schröder auf einer Stippvisite in Zagreb Erleichterung versprach. Zum
Ärger del Pontes brach der Kanzler mit der bisherigen EU-Politik, als er
erklärte, Kroatien kooperiere zufriedenstellend mit Den Haag und es sei falsch,
die Beitrittsverhandlungen von der Auslieferung Gotovinas abhängig zu machen.
Der große Bruder Deutschland, neben Österreich Kroatiens wichtigster
Handelspartner, unterstütze die Aufnahme in die EU schon 2007 »aus ganzem
Herzen«, so Schröder.
Ob die Äußerungen als Wahlkampfhilfe für den bedrängten Racan
ihr Ziel erreichen, ist nicht sicher. Denn auch der HDZ-Kandidat Sanader, den
Racan regelmäßig als ein Hindernis auf Kroatiens Weg in die EU bezeichnet, kann
auf hochkarätige Wahlkampfhilfe von außen verweisen. Der amtierende
EU-Ratspräsident Silvio Berlusconi versprach Unterstützung aus Rom. Auch Edmund
Stoiber und Politiker der österreichischen Rechtsparteien ÖVP und FPÖ hat
Sanader auf seiner Seite. Am Ende könnte sich Schröders Vorstoß als Hilfe für
eine neue HDZ-Regierung erweisen. Denn wenn die EU darauf verzichtet, von
Ministerpräsident Racan die Auslieferung Gotovinas zu verlangen, wird sich
darauf auch ein zukünftiger Regierungschef Sanader berufen können. Unabhängig
davon, ob sich am kommenden Sonntag Sozialdemokraten oder Klerikalkonservative
durchsetzen, könnte Kroatien dank deutscher Hilfe den Weg in die EU auch mit
Kriegsverbechern im Gepäck gehen.