Philipp Jenninger:
Kein Skandal mehr
Ein Film über die Affäre Jenninger möchte den
Exbundestagspräsidenten rehabilitieren - oder den Skandal wenigstens
relativieren...
Jan Freitag
Es war ein Missverständnis, vielleicht ein gewolltes. Als
Philipp Jenninger am 10. November 1988 Geschichte schrieb, schien der Skandal
programmiert, geplant gar. Das behauptet zumindest Werner Hill in seiner
Dokumentation "Jenninger - Was eine Rede an den Tag brachte". Vor geladenen
Gästen und voll besetztem hohen Haus sprach der damalige Präsident des Deutschen
Bundestages zum 50. Jahrestag der so genannten Reichskristallnacht
Ungeheuerliches: Er beschuldigte das "deutsche Volk", er klagte es an, er
fragte, ob nicht alle gewollt hatten, was Hitler predigte, und unterstützten,
was er tat.
Jenninger befand sich also auf einer Linie mit Richard von
Weizsäcker drei Jahre zuvor, nur irgendwie mit ungleich anderer Resonanz.
Entsetzen, Empörung, Ida Ehre schlug die Hände vors Gesicht - vor Erschöpfung,
wie sie später sagte. Eine Grüne verließ den Saal - wegen der
Konsequenzlosigkeit konservativer Lippenbekenntnisse, wie sie im Nachhinein
einräumte. Philipp Jenninger stammelte rhetorisch unbeholfen - vor
Ergriffenheit, wie er einmal erklärte.
Werner Hill hat in seinem dramaturgisch leicht verstaubt
wirkenden, aber vielleicht gerade deshalb umso eindringlicheren Film von 1989
die damaligen Ereignisse nachinszeniert. Er lässt die Beteiligten durch
prominente Stimmen erzählen, Ulrich Wildgruber als Jenninger, Dietrich
Mattausch, Gustav Peter Wöhler, Hermann Lause, Barbara Nüsse, Klaus Nägelen
Gisela Trowe, Heiko Deutschmann und Heike Falkenberg - allesamt profilierte
Bühnenschauspieler - als der große Rest, die Lautstarken, die Komparsen und die
leise Mahnenden.
Sie sitzen aufgereiht zusammen, in Alltagsklamotten vor
trister Kulisse. Sie stellen Dialoge nach, verlesen ein paar der vielen tausend
Hass- und Lobesbriefe an den Mann mit der unmöglichen Brille, der nur wenige
Stunden nach der Rede seinen Posten räumte - mehr oder weniger freiwillig. Es
sind gut zwei Stunden Diskurs im mausgrauen Ambiente der 80er, unterbrochen nur
von sporadischen Einspielungen der Originalrede und Interviews mit Beteiligten.
Man braucht ein wenig Sitzfleisch, um das unspektakuläre
Stück im Stile des Kleinen Fernsehspiels zu überstehen. Und ein wenig Geduld
wäre auch nicht schlecht. Denn wer den Kern von Werner Hills Dokudrama, wie das
Stück erst heißt, seit Guido Knopp den Begriff zum zugkräftigen Markenzeichen
machte, erkennen will, muss sich durch teils in ihrer Sachlichkeit ermüdende
Dialoge kämpfen. Doch das Durchhalten lohnt sich, denn der Titel bewahrheitet
sich, auch wenn Hill etwas zu vehement aufseiten Jenningers steht. Was die Rede
an den Tag brachte, war der tief sitzende Unmut der Deutschen damals (wie heute)
über jedes Kratzen am Mythos der gar nicht kollektiven Elitenschuld. Jenninger,
so wird deutlich, hat - wenn auch oft unbeholfen, sprachlich mies, unterkühlt -
viel Wahres gesagt und damit schlafende Bären geweckt.
Ignatz Bubis, der mittlerweile verstorbene Vorsitzende des
Zentralrats der Juden, hat die verpönte Rede Mitte der 90er mal in Hamburg
verlesen, reichlich Applaus geerntet und erst hinterher den Ursprung des
Gesagten preisgegeben. Das sagt vieles über den 10. November vor 15 Jahren. Und
es entlastet natürlich den einst drittmächtigsten Politiker der Republik, der zu
seinem 70. Geburtstag Mitte 2002 sagte, er sei wegen des Eklats und der
anschließenden Hexenjagd nicht verbittert. Warum auch, wurde er nach seinem
Abgang doch Botschafter in Wien und am Heiligen Stuhl, beides lukrative und
angesehene Posten. Nein, es sei nur traurig, "dass die Deutschen bisher noch
nicht den Mut aufgebracht haben, sich mit ihrer Vergangenheit auseinander zu
setzen". Wie wahr.
die tageszeitung
taz - die tageszeitung vom 05.11.2003
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/ 2003-11-06
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