"Nie wieder Krieg, nie wieder Vertreibung"
Zusammen mit einer Reihe überparteilich eingestellter
Persönlichkeiten unterstütze ich die Errichtung des geplanten "Zentrums gegen
Vertreibungen". Die Stiftungsinitiative dafür haben die Bundestagsabgeordnete
Erika Steinbach (CDU) und Peter Glotz (SPD) 2000 ins Leben gerufen. Aufgabe und
Ziel des derzeit heftig umstrittenen Stiftungsprojektes ist es, einen
Gesamtüberblick über die Vertreibungen in Europa in der jüngeren Geschichte
herzustellen. Dazu gehört nicht nur die Berücksichtigung des Schicksals der mehr
als 15 Millionen deutschen Deportations- und Vertreibungsopfer aus Mittel-, Ost-
und Südeuropa mit ihrer Kultur- und Siedlungsgeschichte, sondern auch die
Beschäftigung mit den Erfahrungen nichtdeutscher Vertriebenengruppen.
Letzteres ist der eigentliche Grund, warum ich die Errichtung
eines solchen Zentrums befürworte. Mich überzeugt der Plan, nicht nur das
Vertreibungsschicksal der Ostpreußen, Schlesier oder Sudetendeutschen zu
untersuchen, sondern auch jenes der Albaner, Armenier, Ukrainer, Weißrussen,
Esten, Georgier, Inguschen, Krimtartaren, Polen, der Sinti und Roma, der
Tschetschenen und Zyprioten griechischer Herkunft. Alle diese Volksgruppen sind
Vertreibungsmaßnahmen unterworfen gewesen und haben ein ähnliches Schicksal wie
die deutschen Vertriebenen erlitten. Jede dieser Gruppen hat schmerzhafte
Erfahrungen gemacht, die heute aus unterschiedlichen Gründen beschwiegen,
verdrängt oder schlicht geleugnet werden.
Als Jude, dessen Familie von den Nazis aus dem Lande gejagt
beziehungsweise ermordet wurde, weiß ich, was Genozid und Vertreibung bedeuten
können. Diese Einsicht ist der Grund, warum ich der Überzeugung bin, dass keiner
Volksgruppe, seien es nun vertriebene Armenier oder vertriebene Deutsche, Serben
oder Kroaten, das Recht abgesprochen werden darf, sich den historischen
Erfahrungen der eigenen Volksgruppe zu stellen, Erfahrungen, die häufig genug
von Totschlag, Mord, Massenschändungen, Verschleppung und Vertreibung geprägt
waren und sind.
Die Geschichte der Juden war im letzten Jahrhundert eine
fortwährende Geschichte von Genoziden und Vertreibungen. Man jagte sie aus
Deutschland, vertrieb sie aus dem von Hitler besetzten Österreich sowie aus den
baltischen Staaten und ermordete schließlich diejenigen, die nicht rechtzeitig
entkommen konnten. Nach 1945 kam es zu wiederholten Vertreibungen aus Polen und
der Tschechoslowakei. Die Aufzählung der Länder, die Juden unter Zwang verlassen
mussten, ließe sich beliebig fortsetzen.
Will man wissen, wie es zu Genozid und Vertreibung kam und
nach wie vor kommt, dann muss man bemüht sein, radikale Fragen zu stellen. Kann
man sich dazu nicht durchringen, dann wird beispielsweise der Genozid an den
Armeniern genauso unerklärbar bleiben wie die Vertreibung der Deutschen aus den
einstigen Ostgebieten. Um beides zu verstehen, muss man sich mit der jeweiligen
Vorgeschichte auseinander setzen. In dem einen Fall waren es die Folgen der
jungtürkischen Ideen, die auf ein osmanisches Reich auf islamischer Grundlage
abzielten, in dem anderen Fall waren es die Folgen von Hitlers Wahnideen und des
von ihm im Osten losgetretenen mörderischen Vernichtungskrieges.
Das Problem der Vertreibungen ist hochgradig
emotionsbehaftet. Daran zu rühren, wie wir es zurzeit erleben, kann unliebsame
und heftige Reaktionen zur Folge haben. Die Initiatoren des "Zentrums gegen
Vertreibungen", das als eine eigenständige Stiftung konzipiert worden ist,
werden zurzeit beschuldigt, sie wären Kalte Krieger und Revisionisten, die
nichts anderes im Sinn hätten, als das Rad der Geschichte zurückzudrehen.
Doch niemand hat vor, irgendwelche Gebietsansprüche zu
stellen oder gar Restitutionsforderungen zu erheben. Den Initiatoren Steinbach
und Glotz geht es nicht darum, den Prozess der deutsch-polnischen und
deutsch-tschechischen Aussöhnung zu hintertreiben. Das wäre in der Tat dem
Projekt abträglich, das sich das Ziel gestellt hat, ein weitgehend tabuisiertes
Thema zum Gegenstand einer öffentlichen Debatte zu machen - ähnlich wie das Lea
Rosh vorgemacht hat, als sie die Debatte um die Errichtung des Berliner
Holocaust-Mahnmals anstieß.
Dem Unterstützerkreis gehören Historiker, Völkerrechtler,
Soziologen, Theologen und Journalisten an. Sie stammen nicht nur aus
Deutschland, sondern auch aus Ungarn, Polen, der Schweiz und Israel. Alle
verbindet die Überzeugung, dass Vertreibungen und ethnische Säuberungen als
Mittel der Politik geächtet gehören. Das geplante Zentrum, so meinen sie, kann
dazu einen wichtigen Beitrag leisten.
Dass das "Zentrum gegen Vertreibungen" kein
Propagandainstrument der Vertriebenverbände ist, wird u. a. daran deutlich, dass
die Stiftung einen "Franz-Werfel-Menschenrechtspreis" ins Leben gerufen hat, der
dieses Jahr an Mihran Dabag, den verdienstvollen Leiter des Instituts für
Diaspora- und Genozidforschung in Bochum, vergeben wurde. Die Mitglieder der
Jury waren u. a. Daniel Cohn-Bendit, Ralph Giordano und György Konrád, die über
jeden Verdacht erhaben und der beste Beweis dafür sind, dass in den letzten
Jahren ein Umdenken in der Vertreibungsproblematik eingesetzt hat.
Allerdings sollte darüber nachgedacht werden, ob sich für das
Zentrum nicht eine Konstruktion anbietet, die auch die Interessen von Polen und
Tschechien berücksichtigt. Eine solche Konstruktion könnte beispielsweise eine
europäische Trägerschaft sein. Kuratorium und Beirat wären dann entsprechend zu
besetzen. Der Präsident des Zentrums könnte dann ein Pole sein? Der
Stellvertreter vielleicht ein Tscheche oder ein Deutscher? Denkbar sind viele
Varianten.
Strittig ist allerdings nach wie vor der Standort. Ich habe
zunächst Straßburg favorisiert, den Sitz des Europäischen Parlaments, aber ich
habe auch keine Einwände gegen Berlin. Für Straßburg spricht, dass es ein
neutraler Ort ist, für Berlin wiederum, dass die Stadt heute eine Drehscheibe
zwischen West und Ost ist und sich zunehmend zu einer kosmopolitischen Metropole
entwickelt. Ein anderer Vorteil, den Berlin noch aufzuweisen hat, ist der, dass
in der Stadt bereits zahlreiche Institutionen existieren wie die "Topographie
des Terrors" und die "Stiftung Holocaust-Denkmal", die sich für eine
Zusammenarbeit mit dem Zentrum anbieten.
Aber das wirklich ausschlaggebende Argument, das für Berlin
als Standort angeführt werden könnte, ist ein anderes. Von Berlin sind im 20.
Jahrhundert zwei Weltkriege ausgegangen, in deren Gefolge grauenhafte Genozide
und Vertreibungen stattfanden. Gerade diese Überlegung, so paradox sie manchem
erscheinen mag, spricht dafür, Berlin als Standort zu wählen.