Die größte Aufmerksamkeit deutscher Medien bislang erlangte
die Debatte über ein Zentrum gegen Vertreibung, als die Präsidentin des Bundes
der Vertriebenen, Erika Steinbach, ihre so gern bewunderten Escada-Kostüme gegen
eine SS-Uniform tauschte, wenn auch nur in einer Fotomontage des polnischen
Magazins Wprost. Die polnische Presse widmete Steinbach zur selben Zeit ebenso
viel Aufmerksamkeit – allerdings wegen einer Äußerung, die in den Berichten
deutscher Zeitungen fehlte: Steinbach hatte am 16. September den Polen
öffentlich vergeben.
Am Ende einer Diskussion über das geplante Zentrum sagte
Steinbach in den Räumen der konservativen Tageszeitung Rzeczpospolita in
Warschau: »Wir vergeben und bitten um Vergebung«. Sie kehrte damit den berühmten
Satz aus dem Brief der polnischen an die deutschen Bischöfe von 1966 um. Während
Deutschland sich am Tag darauf darüber empörte, dass man Frau Steinbach in eine
SS-Uniform gesteckt hatte, titelte das polnische Boulevard- und Massenblatt
Super Express: »Tochter eines Besatzers vergibt uns!«
Mit diesem so unterschiedlich beachteten Satz hat Erika
Steinbach in Polen bislang Unmögliches vollbracht, wenn auch ungewollt. Die
unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen teilen eine Meinung: gegen den
einhellig so wahrgenommenen Versuch, die deutsch-polnische Geschichte neu zu
schreiben – mit einer Rollenverteilung wie in dem von Steinbach umgedrehten
Zitat.
Am Tag nach der Diskussion zog Rzeczpospolita zerknirscht das
Fazit der von ihr als Beginn eines Dialoges geplanten Veranstaltung: »Frau
Steinbach hat die polnischen Argumente nicht verstanden. Auf konkrete Fragen gab
sie keine Antwort. Sie reagierte auch nicht auf Vorschläge, die Realisierung des
Projekts in Berlin um der deutsch-polnischen Beziehungen willen auszusetzen.«
Eine der konkreten Fragen war, mit welchem Recht Steinbach als Vertriebene den
Polen vergeben kann, wo sie doch als Tochter eines Offiziers der deutschen
Luftwaffe im besetzten Polen geboren wurde. Die sonst um Ausgewogenheit und
Ausgleich bemühte liberale Tageszeitung Gazeta Wyborcza verlangte »mehr Demut«
von den Deutschen und schrieb beunruhigt in einer Analyse: »Die Republik
verändert sich. Die Deutschen wollen nicht mehr ruhig sitzen, klein und
unsichtbar sein«.
Diese Besorgnis nimmt aber kein Politiker in Polen als Grund,
den Vertriebenen das Erinnern und Trauern zu verbieten, was in Deutschland gern
behauptet wird. Premierminister Leszek Miller schrieb Anfang September in der
Gazeta Wyborcza, dass »jedes Volk das Recht hat, seiner Opfer zu gedenken.«
Genau das schrieb auch zwei Wochen später Präsident Aleksander Kwasniewski in
einem offenen Brief auf der Titelseite der Rzeczpospolita. Die meiste polnische
Kritik wendet sich gegen eine spezifische Form des Gedenkens, wie sie Erika
Steinbach mit ihrem öffentlichen Vergeben in Warschau demonstriert hat. »Man
sollte allerdings nicht die Geschichte verfälschen und genau trennen zwischen
Ursache und Wirkung«, ergänzte Miller.
In der polnischen Bevölkerung scheint eine ähnliche Stimmung
– Verständnis, so lange die Grenze zum Revisionismus nicht übertreten ist – zu
dominieren. Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Pentor lehnten
Anfang September zwar 42 Prozent der Befragten ein Zentrum ab, das entsprechend
Steinbachs Konzept an die Verluste der deutschen Vertriebenen erinnern soll.
Zwei Drittel der Befragten waren jedoch für die Verwirklichung des Gegenkonzepts
eines »Europäischen Zentrums gegen Vertreibungen«. Bemerkenswert ist jedoch der
große Anteil der Uninteressierten: 41 Prozent der Befragten war der Vorschlag
des Bundes der Vertriebenen schlicht egal.
Leider wurde eine ähnliche Umfrage nicht nach dem Auftritt
Erika Steinbachs in Warschau durchgeführt und veröffentlicht. Allerdings zeigen
seitdem die Politiker aller Parteien weit weniger Verständnis. Der
stellvertretende Parlamentspräsident Donald Tusk von der liberalen
»Bürgerplattform« (PO) warf Erika Steinbach direkt vor, sie trage die
Verantwortung dafür, dass »jene, die an der Versöhnung arbeiten, ein wenig den
Glauben an den Erfolg dieses Prozesses verloren haben«.
Drei Tage nach Steinbachs Warschauer Auftritt schlug die
Plattform im Sejm ein »Erinnerungszentrum der europäischen Völker« unter
Schirmherrschaft des Europarates vor. Im Beschlussentwurf heißt es: »Der Sejm
der Republik Polen erinnert daran, dass die Entscheidung für die Umsiedlungen
während der Potsdamer Konferenz von den Führern der Vereinigten Staaten,
Großbritanniens und der Sowjetunion getroffen wurde. Sie war eine der tragischen
Folgen des von der Regierung des Dritten Reichs begonnenen schrecklichen Kriegs
und hatte das Ziel, eine neue politische Ordnung in Europa aufzubauen.«
Es sagt viel über die Wahrnehmung Deutschlands in Polen aus,
wenn Parlamentsbeschlüsse historische Tatsachen bekräftigen sollen. Die
populistische Bewegung »Recht und Gerechtigkeit« (PiS) griff am Tag nach
Steinbachs Äußerungen die Angst vor den Besitzansprüchen deutscher Vertriebener
auf. Ihr Vertreter im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten, Marek Jurek,
brachte einen Resolutionsentwurf ein, in dem die Parlamentarier ihren Protest
äußern gegen »immer häufigere Auftritte in Deutschland, die den definitiven
Charakter der Veränderungen von Besitzverhältnissen und der Gesellschaftsordnung
nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in der Tschechischen Republik, aber auch in
Polen in Frage stellen.«
Je weiter nach rechts man sich im politischen Spektrum Polens
bewegt, desto mehr spielen die Parteien mit solchen Ängsten, als dass sie klare,
rationale Kritik an einem wahrgenommenen Geschichtsrevisionismus formulieren.
Die klerikal-fundamentalistische Liga Polnischer Familien (LPR) spinnt
öffentlich Verschwörungstheorien: Dass der Herausgeber der Gazeta Wyborcza Adam
Michnik und der Publizist Adam Krzemiñski einen offenen Brief für das
Gegenkonzept eines »Europäischen Zentrums gegen Vertreibungen« unterschrieben
haben, sei Volksverrat. Der einflussreiche Ex-Innenminister Antoni Macierewicz
(LPR) raunte: »Im Kontext des russischen Verlangens nach einem Korridor nach
Kaliningrad hat dies alle Merkmale einer antipolnischen Provokation.«
Doch auch die LPR sieht neben lauter etwaigen Agenten
ausländischer Mächte noch einen deutschen Revanchismus. Oder zumindest
Geschichtsvergessenheit. Die hat der polnische Intellektuelle Grzegorz Lasota
nach Steinbachs Auftritt in der Zeitung Trybuna in einem sehr stillen Text
beschrieben. Interessant sei, dass bei der Diskussion im Haus der Rzeczpospolita
»niemand daran erinnerte, dass sie in der einzigen europäischen Hauptstadt
stattfand, deren gesamte Bevölkerung aus der Stadt gejagt wurde und die danach
systematisch auf einen Befehl Hitlers hin bis zum Januar 1945 zerstört wurde. Im
heutigen Deutschland hat davon niemand eine blasse Ahnung.« Im Januar 1945 waren
19 Prozent der polnischen Vorkriegsbevölkerung tot. In Warschau waren von über
einer Million Einwohnern 162 000 Menschen übrig geblieben.