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Ghetto Vilna 1943 :
Sorge um den Leistungskörper

Der ungewöhnliche Kampf der Bewohner um ihre körperliche und geistige Integrität...

Mirjam Triendl

"Achtung! Seuchengefahr. Eintritt für Nicht-Juden streng verboten!", stand am Eingang der von den Nationalsozialisten errichteten Ghettos in Osteuropa zu lesen, und es klang in Anbetracht der dort herrschenden unmenschlichen Lebensumstände wie eine zynische Prophezeiung. Im Ghetto von Vilna, dessen Liquidation sich am 23. September zum 60. Mal jährte, führten die Menschen während der zwei kurzen Jahre seines Bestehens einen hartnäckigen und so erfolgreichen Kampf um ihre Gesundheit, dass sich die bittere Ankündigung am Ghettotor nicht erfüllen sollte.

"Im Prinzip ist das Ghetto nicht für einen Aufenthalt von Menschen erdacht, sondern von Kreaturen einer niederen Art, auf jeden Fall für Lebewesen ohne Seele, ohne Intellekt. Der Kampf, den die Ghettomenschen geführt und in einem gewissen Maß auch zu Ende geführt haben, ihre menschliche Gestalt zurückzubekommen, war in Wirklichkeit der Kampf um Geistigkeit", notierte der Historiker und Philologe Zelig Kalmanovicz während seiner Zeit aktiver Kulturarbeit im Ghetto. Menschen, so schrieb er weiter, die mit dem Eintritt in dieses Leben "ihr Menschsein" verloren hätten, müssten es sich jetzt, langsam und stückweise zurückholen.

Die Lebensfähigkeit des Ghettos

Mit der Unterstützung einer Gruppe von Intellektuellen und Künstlern gelang es ihm, diesen humanistischen Imperativ in eine nahezu fiebrig anmutende kulturelle Produktivität umzusetzen: Die Vorstellungen des Ghettotheaters waren ausverkauft, der Lesesaal der großen Bibliothek überfüllt, immer neue Vereine wurden gegründet, Schulen eingerichtet. In einer Situation, in der - so eine Tagebuchautorin - "der Tod von einem wichtigen, geheimnisvollen und schrecklichen Ereignis zu einem einfachen, tagtäglichen Faktum wurde, an dem man vorbei geht, vorbei, beinahe gleichgültig", war es der stille Triumph des Ghettos, der rohen, tierischen Verfolgung Menschlichkeit gegenüberzustellen.

Die Wiedererlangung jener "menschlichen Gestalt" bedeutete aber auch, den eigenen Körper, dessen Verletzbarkeit in den Monaten brutaler Massenermordungen so spürbar geworden war, mit aufmerksamer Sorge zu behandeln. Hinzu kam, dass das Ghetto sich trotz seiner scheinbaren Entortung in der biopolitischen Realität seiner Zeit situierte: Sich als Leistungskörper zu begreifen, den es zu schützen und zu pflegen galt, war Teil der politischen Logik des Ortes. Das Ziel des "Judenrates" war nicht nur die Sorge um die Menschen, sondern auch um die Lebensfähigkeit und Gesundheit des Ghettos, um den Nationalsozialisten keinen Vorwand zu geben, das "Seuchensperrgebiet" zu liquidieren.

So schmal wie ein Grab

Während der ersten Tage im Ghetto war die Gefahr von Seuchen und ansteckenden Krankheiten tatsächlich virulent. Viele Menschen hatten seit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Vilna Ende Juni 1941 einen Großteil ihrer Angehörigen verloren, waren traumatisiert, sozial und psychisch gestört.

Während des Sommers 1941 waren Tausende Vilnaer Juden - Männer, Frauen und Kinder - von deutschen Einsatzkommandos unter Mithilfe litauischer Kollaborateure in Paneriai, einem Waldstück außerhalb der Stadt, ermordet worden. Anfang September ordnete die deutsche Zivilverwaltung den Umzug aller Jüdinnen und Juden in zwei enge Wohngebiete im alten verwinkelten Stadtzentrum an, grob umrissen das Gebiet des ehemaligen jüdischen Viertels. Das kleinere "Ghetto Nr. 2" wurde kurz nach seiner Einrichtung liquidiert und mit ihm alle nicht arbeitsfähigen Menschen - Alte, Kranke und Kinder. Währenddessen wurden auch im "Ghetto Nr. 1" weitere "Aktionen" durchgeführt, und so lebten von den etwa 55.000 Juden und Jüdinnen, die sich beim Einmarsch der deutschen Truppen in der Stadt befunden hatten, noch etwa 22.000 Menschen, als mit Beginn des Jahres 1942 eine Phase relativer Ruhe begann.

Die fünf Straßenzüge des Ghettos mit ihren 72 unsanierten Gebäuden mussten anfangs so viele Menschen aufnehmen, dass nicht mehr Raum blieb "als eineinhalb bis zwei Quadratmeter pro Person, so schmal wie ein Grab", so Lazar Epstein, der Leiter der "Hygienisch-Epidemiologischen Abteilung" des Ghetto-Gesundheitsamtes, in seinem Tagebuch. Zu der chaotischen Enge kamen Kälte, Unterernährung, Schmutz und völlig unzureichende sanitäre und hygienische Bedingungen. Die etwa 130 anwesenden Ärztinnen und Ärzte und das zahlreiche medizinische Personal erkannten die Gefahr rasch und reagierten schnell. Nicht nur konnten sie an ein intensives medizinisches Netzwerk des jüdischen Vilna vor dem Krieg anschließen, zum großen Glück befand sich auch eines der jüdischen Spitäler der Stadt, das knapp 150 Jahre alte Gemeindespital, innerhalb des Ghettos. Unerwartete Unterstützung kam von einem der führenden Wehrmachtsärzte in Vilna, Dr. Zölch, einem ehemaligen Studienkollegen einer Vilnaer jüdischen Ärztin. Mit seiner Hilfe bekamen jene Ärztinnen und Ärzten, die die Massenermordungen der ersten Monate überlebt hatten, Arbeitsbescheinigungen, die sie vor weiteren "Aktionen" schützen sollten.

Hygiene im Ausnahmezustand

Das Spital avancierte rasch zu einer zentralen Einrichtung im Ghetto. Im Bemühen, trotz der schwierigen Umstände einen normalen Klinikbetrieb aufrechtzuerhalten, wurden alle Vorkriegsabteilungen weitergeführt. Die notwendigen Medikamente durften in kleinen Mengen offiziell ins Ghetto eingeführt werden, der Rest wurde geschmuggelt und zum Teil selbst hergestellt, etwa durch das "Ghetto-Vitaminlabor".

Die dringendste Aufgabe war es, die Menschen vor ansteckenden Krankheiten und Seuchen, deren Auftreten von der deutschen "Hygiene-Kommission" überwacht wurde, zu schützen. Eine der ersten Initiativen war die Einführung der Impfung gegen Typhus, Paratyphus, Ruhr und Cholera, verpflichtend für alle, die in zentralen Ghettoeinrichtungen arbeiteten. Die Impfstoffe kamen - überraschend - aus ungenannten deutschen Quellen. Im Ghetto entschied man sich, diese Mittel zuerst an Hunden und anderen verfügbaren Tieren auszuprobieren, um sicher zu gehen, dass es sich nicht um Gift handelte. Nach erfolgreichen Tests wurden die Impfungen im Ghetto eingeführt.

Bereits eine Woche nach der Einrichtung des Ghettos nahm die "Hygienisch-Epidemiologischen Abteilung beim Judenrat" ihre Arbeit auf. Sie klärte die Bevölkerung über Tuberkulosevorsorge, Wanzen oder Vitaminmangel auf und gründete dazu eigens das populärmedizinische Magazin Folksgezunt (Volksgesundheit). Ihre Mitarbeiter richteten darüber hinaus mehrere öffentliche Badanstalten und eine Wäscherei ein, da private sanitäre Einrichtungen nur unzulänglich vorhanden waren. Daneben eröffneten sie auch sieben sogenannte Teehäuser, wo man nicht Tee trinken, sondern für wenig Geld dringend benötigtes heißes Wasser bekommen konnte.

Während die "Hygienisch-Epidemiologischen Abteilung" sich auf eine breite Propaganda verließ, arbeitete die konkurrierende ghettointerne "Hygienepolizei" mit weit restriktiveren Maßnahmen. Ein gut durchorganisiertes System von "Blockkommandanten" kontrollierte Sanitärenanlagen, Höfe, selbst Wohnungen, täglich und unangemeldet. Für jede Übertretung der Hygiene-Vorschriften - darunter fiel selbst gerade benutztes, schmutziges Geschirr - wurden Strafen verhängt, im schlimmsten Fall sogar Gefängnishaft. Hintergrund dieser Maßnahmen war die gefürchtete deutsche "Hygiene-Kommission", die in unregelmäßigen Abständen das Ghetto inspizierte. Von ihrer Legitimation schien das Überleben des Ghettos abzuhängen. Eine zynische Folge war, dass das enge, dicht besiedelte Viertel sauberer als vor dem Krieg beschrieben wurde.

Durch die Arbeit der "Hygiene-Polizei" und der "Hygienisch-Epidemiologischen Abteilung" gab es im Ghetto so gut wie keine Läuse oder anderes Ungeziefer. Selbst für das Müllproblem wurde eine Lösung gefunden, und die tausendste Wagenladung abtransportierten Mülls öffentlich gefeiert. Trat wider Erwarten doch ein Fall von Typhus oder einer anderen ansteckenden Krankheit auf, brachte die "Hygiene-Polizei" den Kranken ins Spital, holte anschließend alle Leute aus seiner Wohnung, führte sie ins Badehaus und zur Desinfektion und reinigte anschließend die Wohnung. Menschen, die neu ins Ghetto kamen, wurden zuallererst in einem Quarantäneraum betreut, um sicher zu gehen, dass sie keine Krankheiten mitbrachten.

Selten auftretende Fälle von Patienten mit ansteckenden Krankheiten wurden im Spital vor der deutschen "Hygiene-Kommission" versteckt. Nachdem die deutsche Ghettoverwaltung ab Februar 1942 untersagte, jüdische Kinder auf die Welt zu bringen, versteckte das Spital auch werdende Mütter, popularisierte Empfängnisverhütungsmethoden und führte zahlreiche Abtreibungen durch.

Die häufigste Krankheit, die im Ghetto-Spital behandelt wurde, war allgemeine Schwäche in Folge von Traumatisierung und Unterernährung. Bei etwa drei Viertel der Frauen blieb aus den selben Gründen die Menstruation aus, was sich während der ruhigeren Phase des Ghettos ein wenig besserte. Psychische Krankheiten traten erstaunlich selten auf; Selbstmorde so gut wie nie, weil das dem im Ghetto herrschenden Imperativ, auf jeden Fall überleben zu wollen, widersprochen hätte.

Neben dem Spital wurde auch eine ambulante Klinik eingerichtet, die bis spät abends offen war, und unter anderem Zahnversorgung und Physiotherapie anbot. Selbst während der Ausgangssperre arbeitete die Gikhe Hilf (schnelle Hilfe), eine mobile Ambulanz unter dem Zeichen des Roten Davidsterns, deren Notversorgung besonders während der "Aktionen" in Anspruch genommen wurde.

Die Ghetto-Laus

Eine ganze Reihe von Einrichtungen kümmerte sich um die Gesundheit der Kinder, es gab eine eigene Ambulanz, eine Milchküche für die Kleinen, eine Kinderküche für die Größeren und ein Waisenheim. Die Kinder wurden zum Sport angehalten und konnten im Sommer 1942 sogar einige Male zu Waldspaziergängen außerhalb des Ghettos geführt werden - im Ghetto gab es nur einen einzigen Baum. Die Hoffnung war, so die Ausgabe des Folksgezunt vom Juni 1943, dass "die Jugend das Ghetto in eine glorreiche Zukunft verlassen wird - nicht krank, gebrochen und verkrüppelt, sondern physisch und geistig gesund."

Knapp drei Monate später wurde das Ghetto von Vilna liquidiert und alle Überlebenden in Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert. Nur einige von ihnen, in der Hauptsache Jugendliche, konnten sich den jüdischen Partisanen in den Wäldern anschließen. Insgesamt überlebten weniger als 5.000 Vilnaer Jüdinnen und Juden den Holocaust.

Vor diesem Hintergrund erscheinen die Bemühungen, die "menschliche Gestalt" zu erhalten, paradox. Eine Begebenheit am Rande wirft ein bezeichnendes Licht auf den Kampf, den die vom Tode bedrohten Menschen im Ghetto führten. Im Frühjahr 1942 organisierte die "Hygienisch-Epidemiologischen Abteilung" im Ghetto-Theater einen "Öffentlichen Prozess gegen die Ghetto-Laus". Die hygienepropagandistische Veranstaltung wurde gut besucht und verfolgte den Zweck, die Bevölkerung über die Gefahren einer Typhusinfektion aufzuklären. Die Laus wurde angeklagt, Blut zu saugen und tödliche Seuchen zu verbreiten. Ihr Anwalt bat um Milde und machte nicht die Laus, sondern die schlechten Lebensbedingungen im Ghetto verantwortlich. Zwei Ärzte präsentierten Expertisen, in deren Folge die Ghetto-Laus vor aller Öffentlichkeit für schuldig befunden und zum Tod durch Desinfektion und öffentliche Hygiene verurteilt wurde.

Zum Weiterlesen:

Mark Dworzecki, Yerusholayim de-lite in kamf un umkum. Paris 1948. Solon Beinfeld: Health Care in the Vilna Ghetto. In: Holocaust and Genocide Studies 12(1998)1.

Herman Kruk: The Last Days of the Jerusalem of Lithuania. Chronicles from the Vilna Ghetto and the Camps, 1939-1944. Hg. von Benjamin Harshav. New Haven / London 2002.

Holocaust in Litauen. Krieg, Judenmorde und Kolloboration im Jahre 1941. Hg. von Vincas Bartusevicius, Joachim Tauber, Wolfram Wette, Köln 2003.

Der Freitag
Der Freitag Nummer 43 vom 17.10.2003

kt / hagalil.com / 2003-10-22

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