"Achtung! Seuchengefahr. Eintritt für Nicht-Juden streng
verboten!", stand am Eingang der von den Nationalsozialisten errichteten Ghettos
in Osteuropa zu lesen, und es klang in Anbetracht der dort herrschenden
unmenschlichen Lebensumstände wie eine zynische Prophezeiung. Im Ghetto von
Vilna, dessen Liquidation sich am 23. September zum 60. Mal jährte, führten die
Menschen während der zwei kurzen Jahre seines Bestehens einen hartnäckigen und
so erfolgreichen Kampf um ihre Gesundheit, dass sich die bittere Ankündigung am
Ghettotor nicht erfüllen sollte.
"Im Prinzip ist das Ghetto nicht für einen Aufenthalt von
Menschen erdacht, sondern von Kreaturen einer niederen Art, auf jeden Fall für
Lebewesen ohne Seele, ohne Intellekt. Der Kampf, den die Ghettomenschen geführt
und in einem gewissen Maß auch zu Ende geführt haben, ihre menschliche Gestalt
zurückzubekommen, war in Wirklichkeit der Kampf um Geistigkeit", notierte der
Historiker und Philologe Zelig Kalmanovicz während seiner Zeit aktiver
Kulturarbeit im Ghetto. Menschen, so schrieb er weiter, die mit dem Eintritt in
dieses Leben "ihr Menschsein" verloren hätten, müssten es sich jetzt, langsam
und stückweise zurückholen.
Die Lebensfähigkeit des Ghettos
Mit der Unterstützung einer Gruppe von Intellektuellen und
Künstlern gelang es ihm, diesen humanistischen Imperativ in eine nahezu fiebrig
anmutende kulturelle Produktivität umzusetzen: Die Vorstellungen des
Ghettotheaters waren ausverkauft, der Lesesaal der großen Bibliothek überfüllt,
immer neue Vereine wurden gegründet, Schulen eingerichtet. In einer Situation,
in der - so eine Tagebuchautorin - "der Tod von einem wichtigen, geheimnisvollen
und schrecklichen Ereignis zu einem einfachen, tagtäglichen Faktum wurde, an dem
man vorbei geht, vorbei, beinahe gleichgültig", war es der stille Triumph des
Ghettos, der rohen, tierischen Verfolgung Menschlichkeit gegenüberzustellen.
Die Wiedererlangung jener "menschlichen Gestalt" bedeutete
aber auch, den eigenen Körper, dessen Verletzbarkeit in den Monaten brutaler
Massenermordungen so spürbar geworden war, mit aufmerksamer Sorge zu behandeln.
Hinzu kam, dass das Ghetto sich trotz seiner scheinbaren Entortung in der
biopolitischen Realität seiner Zeit situierte: Sich als Leistungskörper zu
begreifen, den es zu schützen und zu pflegen galt, war Teil der politischen
Logik des Ortes. Das Ziel des "Judenrates" war nicht nur die Sorge um die
Menschen, sondern auch um die Lebensfähigkeit und Gesundheit des Ghettos, um den
Nationalsozialisten keinen Vorwand zu geben, das "Seuchensperrgebiet" zu
liquidieren.
So schmal wie ein Grab
Während der ersten Tage im Ghetto war die Gefahr von Seuchen
und ansteckenden Krankheiten tatsächlich virulent. Viele Menschen hatten seit
dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Vilna Ende Juni 1941 einen Großteil
ihrer Angehörigen verloren, waren traumatisiert, sozial und psychisch gestört.
Während des Sommers 1941 waren Tausende Vilnaer Juden -
Männer, Frauen und Kinder - von deutschen Einsatzkommandos unter Mithilfe
litauischer Kollaborateure in Paneriai, einem Waldstück außerhalb der Stadt,
ermordet worden. Anfang September ordnete die deutsche Zivilverwaltung den Umzug
aller Jüdinnen und Juden in zwei enge Wohngebiete im alten verwinkelten
Stadtzentrum an, grob umrissen das Gebiet des ehemaligen jüdischen Viertels. Das
kleinere "Ghetto Nr. 2" wurde kurz nach seiner Einrichtung liquidiert und mit
ihm alle nicht arbeitsfähigen Menschen - Alte, Kranke und Kinder. Währenddessen
wurden auch im "Ghetto Nr. 1" weitere "Aktionen" durchgeführt, und so lebten von
den etwa 55.000 Juden und Jüdinnen, die sich beim Einmarsch der deutschen
Truppen in der Stadt befunden hatten, noch etwa 22.000 Menschen, als mit Beginn
des Jahres 1942 eine Phase relativer Ruhe begann.
Die fünf Straßenzüge des Ghettos mit ihren 72 unsanierten
Gebäuden mussten anfangs so viele Menschen aufnehmen, dass nicht mehr Raum blieb
"als eineinhalb bis zwei Quadratmeter pro Person, so schmal wie ein Grab", so
Lazar Epstein, der Leiter der "Hygienisch-Epidemiologischen Abteilung" des
Ghetto-Gesundheitsamtes, in seinem Tagebuch. Zu der chaotischen Enge kamen
Kälte, Unterernährung, Schmutz und völlig unzureichende sanitäre und hygienische
Bedingungen. Die etwa 130 anwesenden Ärztinnen und Ärzte und das zahlreiche
medizinische Personal erkannten die Gefahr rasch und reagierten schnell. Nicht
nur konnten sie an ein intensives medizinisches Netzwerk des jüdischen Vilna vor
dem Krieg anschließen, zum großen Glück befand sich auch eines der jüdischen
Spitäler der Stadt, das knapp 150 Jahre alte Gemeindespital, innerhalb des
Ghettos. Unerwartete Unterstützung kam von einem der führenden Wehrmachtsärzte
in Vilna, Dr. Zölch, einem ehemaligen Studienkollegen einer Vilnaer jüdischen
Ärztin. Mit seiner Hilfe bekamen jene Ärztinnen und Ärzten, die die
Massenermordungen der ersten Monate überlebt hatten, Arbeitsbescheinigungen, die
sie vor weiteren "Aktionen" schützen sollten.
Hygiene im Ausnahmezustand
Das Spital avancierte rasch zu einer zentralen Einrichtung im
Ghetto. Im Bemühen, trotz der schwierigen Umstände einen normalen Klinikbetrieb
aufrechtzuerhalten, wurden alle Vorkriegsabteilungen weitergeführt. Die
notwendigen Medikamente durften in kleinen Mengen offiziell ins Ghetto
eingeführt werden, der Rest wurde geschmuggelt und zum Teil selbst hergestellt,
etwa durch das "Ghetto-Vitaminlabor".
Die dringendste Aufgabe war es, die Menschen vor ansteckenden
Krankheiten und Seuchen, deren Auftreten von der deutschen "Hygiene-Kommission"
überwacht wurde, zu schützen. Eine der ersten Initiativen war die Einführung der
Impfung gegen Typhus, Paratyphus, Ruhr und Cholera, verpflichtend für alle, die
in zentralen Ghettoeinrichtungen arbeiteten. Die Impfstoffe kamen - überraschend
- aus ungenannten deutschen Quellen. Im Ghetto entschied man sich, diese Mittel
zuerst an Hunden und anderen verfügbaren Tieren auszuprobieren, um sicher zu
gehen, dass es sich nicht um Gift handelte. Nach erfolgreichen Tests wurden die
Impfungen im Ghetto eingeführt.
Bereits eine Woche nach der Einrichtung des Ghettos nahm die
"Hygienisch-Epidemiologischen Abteilung beim Judenrat" ihre Arbeit auf. Sie
klärte die Bevölkerung über Tuberkulosevorsorge, Wanzen oder Vitaminmangel auf
und gründete dazu eigens das populärmedizinische Magazin Folksgezunt
(Volksgesundheit). Ihre Mitarbeiter richteten darüber hinaus mehrere öffentliche
Badanstalten und eine Wäscherei ein, da private sanitäre Einrichtungen nur
unzulänglich vorhanden waren. Daneben eröffneten sie auch sieben sogenannte
Teehäuser, wo man nicht Tee trinken, sondern für wenig Geld dringend benötigtes
heißes Wasser bekommen konnte.
Während die "Hygienisch-Epidemiologischen Abteilung" sich auf
eine breite Propaganda verließ, arbeitete die konkurrierende ghettointerne
"Hygienepolizei" mit weit restriktiveren Maßnahmen. Ein gut durchorganisiertes
System von "Blockkommandanten" kontrollierte Sanitärenanlagen, Höfe, selbst
Wohnungen, täglich und unangemeldet. Für jede Übertretung der
Hygiene-Vorschriften - darunter fiel selbst gerade benutztes, schmutziges
Geschirr - wurden Strafen verhängt, im schlimmsten Fall sogar Gefängnishaft.
Hintergrund dieser Maßnahmen war die gefürchtete deutsche "Hygiene-Kommission",
die in unregelmäßigen Abständen das Ghetto inspizierte. Von ihrer Legitimation
schien das Überleben des Ghettos abzuhängen. Eine zynische Folge war, dass das
enge, dicht besiedelte Viertel sauberer als vor dem Krieg beschrieben wurde.
Durch die Arbeit der "Hygiene-Polizei" und der
"Hygienisch-Epidemiologischen Abteilung" gab es im Ghetto so gut wie keine Läuse
oder anderes Ungeziefer. Selbst für das Müllproblem wurde eine Lösung gefunden,
und die tausendste Wagenladung abtransportierten Mülls öffentlich gefeiert. Trat
wider Erwarten doch ein Fall von Typhus oder einer anderen ansteckenden
Krankheit auf, brachte die "Hygiene-Polizei" den Kranken ins Spital, holte
anschließend alle Leute aus seiner Wohnung, führte sie ins Badehaus und zur
Desinfektion und reinigte anschließend die Wohnung. Menschen, die neu ins Ghetto
kamen, wurden zuallererst in einem Quarantäneraum betreut, um sicher zu gehen,
dass sie keine Krankheiten mitbrachten.
Selten auftretende Fälle von Patienten mit ansteckenden
Krankheiten wurden im Spital vor der deutschen "Hygiene-Kommission" versteckt.
Nachdem die deutsche Ghettoverwaltung ab Februar 1942 untersagte, jüdische
Kinder auf die Welt zu bringen, versteckte das Spital auch werdende Mütter,
popularisierte Empfängnisverhütungsmethoden und führte zahlreiche Abtreibungen
durch.
Die häufigste Krankheit, die im Ghetto-Spital behandelt
wurde, war allgemeine Schwäche in Folge von Traumatisierung und Unterernährung.
Bei etwa drei Viertel der Frauen blieb aus den selben Gründen die Menstruation
aus, was sich während der ruhigeren Phase des Ghettos ein wenig besserte.
Psychische Krankheiten traten erstaunlich selten auf; Selbstmorde so gut wie
nie, weil das dem im Ghetto herrschenden Imperativ, auf jeden Fall überleben zu
wollen, widersprochen hätte.
Neben dem Spital wurde auch eine ambulante Klinik
eingerichtet, die bis spät abends offen war, und unter anderem Zahnversorgung
und Physiotherapie anbot. Selbst während der Ausgangssperre arbeitete die Gikhe
Hilf (schnelle Hilfe), eine mobile Ambulanz unter dem Zeichen des Roten
Davidsterns, deren Notversorgung besonders während der "Aktionen" in Anspruch
genommen wurde.
Die Ghetto-Laus
Eine ganze Reihe von Einrichtungen kümmerte sich um die
Gesundheit der Kinder, es gab eine eigene Ambulanz, eine Milchküche für die
Kleinen, eine Kinderküche für die Größeren und ein Waisenheim. Die Kinder wurden
zum Sport angehalten und konnten im Sommer 1942 sogar einige Male zu
Waldspaziergängen außerhalb des Ghettos geführt werden - im Ghetto gab es nur
einen einzigen Baum. Die Hoffnung war, so die Ausgabe des Folksgezunt vom Juni
1943, dass "die Jugend das Ghetto in eine glorreiche Zukunft verlassen wird -
nicht krank, gebrochen und verkrüppelt, sondern physisch und geistig gesund."
Knapp drei Monate später wurde das Ghetto von Vilna
liquidiert und alle Überlebenden in Arbeits-, Konzentrations- und
Vernichtungslager deportiert. Nur einige von ihnen, in der Hauptsache
Jugendliche, konnten sich den jüdischen Partisanen in den Wäldern anschließen.
Insgesamt überlebten weniger als 5.000 Vilnaer Jüdinnen und Juden den Holocaust.
Vor diesem Hintergrund erscheinen die Bemühungen, die
"menschliche Gestalt" zu erhalten, paradox. Eine Begebenheit am Rande wirft ein
bezeichnendes Licht auf den Kampf, den die vom Tode bedrohten Menschen im Ghetto
führten. Im Frühjahr 1942 organisierte die "Hygienisch-Epidemiologischen
Abteilung" im Ghetto-Theater einen "Öffentlichen Prozess gegen die Ghetto-Laus".
Die hygienepropagandistische Veranstaltung wurde gut besucht und verfolgte den
Zweck, die Bevölkerung über die Gefahren einer Typhusinfektion aufzuklären. Die
Laus wurde angeklagt, Blut zu saugen und tödliche Seuchen zu verbreiten. Ihr
Anwalt bat um Milde und machte nicht die Laus, sondern die schlechten
Lebensbedingungen im Ghetto verantwortlich. Zwei Ärzte präsentierten Expertisen,
in deren Folge die Ghetto-Laus vor aller Öffentlichkeit für schuldig befunden
und zum Tod durch Desinfektion und öffentliche Hygiene verurteilt wurde.
Zum Weiterlesen:
Mark Dworzecki, Yerusholayim de-lite in kamf un umkum. Paris
1948. Solon Beinfeld: Health Care in the Vilna Ghetto. In: Holocaust and
Genocide Studies 12(1998)1.
Herman Kruk: The Last Days of the Jerusalem of Lithuania.
Chronicles from the Vilna Ghetto and the Camps, 1939-1944. Hg. von Benjamin
Harshav. New Haven / London 2002.
Holocaust in Litauen. Krieg, Judenmorde und Kolloboration im
Jahre 1941. Hg. von Vincas Bartusevicius, Joachim Tauber, Wolfram Wette, Köln
2003.