Sebastian F. hat gut lachen. Mit einer Plastiktüte in der
einen Hand und einer Zigarette in der anderen verlässt er grinsend den
Gerichtssaal. Der 18jährige muss wegen seiner Beteiligung an der Ermordung des
16jährigen Marinus Schöberl im vergangenen Jahr im brandenburgischen Potzlow nur
für zwei Jahre nach dem Jugendstrafrecht hinter Gitter, die Haft kann er später
antreten. Das Gericht wirft ihm lediglich »gefährliche Körperverletzung« und
»Nötigung« vor.
Seinen Mittätern dagegen ist das Lachen vergangen. Regungslos
nahmen Marcel S. und sein Bruder Marco S. ihre Urteile entgegen. Der
Hauptangeklagte Marcel S., wie Sebastian F. heute 18 Jahre alt und zum
Tatzeitpunkt noch minderjährig, wird für acht Jahre und sechs Monate wegen
»Mordes« und »schwerer Körperverletzung« in Haft müssen, sein 24jähriger Bruder
Marco S. wegen »versuchten Mordes« und »schwerer Körperverletzung« für 15 Jahre.
Die Urteile im Potzlow-Prozess sind am vergangenen Freitag
vor dem Landgericht Neuruppin verhängt worden. Bis zu dem Mord war das kleine
Dorf Potzlow in der Uckermark ein unbekannter Fleck auf der Landkarte. Das
änderte sich, als Marinus Schöberl tot in einer Jauchegrube aufgefunden wurde.
In der Nacht zum 13. Juli 2002 brachten die drei nun verurteilten jungen Männer
den 16jährigen auf bestialische Weise um. Sie schlugen ihn, sie urinierten auf
ihn, und sie zwangen den Jungen, sich als Juden zu bezeichnen. Marcel S. sprang
ihm beim »Bordsteinkick« auf den Kopf und warf anschließend zweimal einen Stein
auf den Schwerverletzten, bis er tot war.
Im Mai dieses Jahres begann der Prozess gegen die drei
Angeklagten. Seitdem versuchten ihre Anwälte stets, das Strafmaß zugunsten der
Täter zu mindern. Immer wieder wurde behauptet, die Tat sei nicht politisch
motiviert gewesen, von Antisemitismus könne keine Rede sein, Alkohol sei im
Spiel gewesen. Der Anwalt des Hauptangeklagten Marcel S. forderte darum maximal
acht Jahre, sein Bruder Marco solle mit einer Haft »deutlich unter zehn Jahren«
bestraft werden. Sebastian F.s Anwalt wollte gar, dass auf eine Haftstrafe für
seinen Mandanten gänzlich verzichtet werde. Stattdessen sollte es lediglich eine
»Verurteilung zu Erziehungsmaßnahmen« geben.
Dabei steht fest, dass alle drei Täter Marinus Schöberl als
»Juden« beschimpften, ihn als »Untermenschen« und als »nicht lebenswert«
verachteten. Denn er stotterte, trug HipHop-Hosen und hatte blondierte Haare.
Marco S., der Älteste der drei, war ein stadtbekannter Neonazi, er schlug nur
kurze Zeit nach dem Mord einen Mann aus Sierra Leone brutal zusammen. Sebastian
F. besaß Nazidevotionalien und rechtsextreme CDs. Die Liste ließe sich
fortsetzen.
Trotzdem soll die Tat in den Augen der Anwälte und auch der
meisten Dorfbewohner nicht politisch rechts motiviert gewesen sein. Einer der
Anwälte erklärte, Marcel S. habe aus einem »Reflex« gehandelt. Obwohl das Opfer
stundenlang gequält wurde. Wie lange soll ein »Reflex« demnach dauern dürfen?
Trotz seiner außergewöhnlichen Grausamkeit ist vieles an dem
Mord von Potzlow typisch für das Verhalten rechtsextremer Täter heutzutage.
Charakteristisch ist zum Beispiel, dass sie eher als »lose Gesellungen« agieren,
wie es der Rechtsextremismusforscher Richard Stöss nennt, mit teilweise
diffusen, nicht immer klassisch rechtsextremen Weltbildern. Sie sind kaum noch
organisiert, vielmehr handeln sie in gruppendynamischen Prozessen, meist unter
Alkoholeinfluss. In über 80 Prozent der rechten Übergriffe spielt Alkohol eine
große Rolle, fand der Trierer Soziologe Helmut Willems in einer Studie heraus.
Und 90 Prozent der rassistischen Taten werden aufgrund spontaner Entschlüsse
begangen; eine ungeplante Situation eskaliert, oder organisierte
Rechtsextremisten stiften andere an, ohne dass man sie später als Täter
identifizieren kann.
Die Richterin Ria Becher hatte Recht, als sie in der
Begründung des Urteilsspruchs sagte, die rechtsextreme Einstellung der
Jugendlichen sei ein Tatmotiv gewesen, sie hätten darum aus »niederen
Beweggründen« gehandelt. Zu »niederen Beweggründen« zählen ebenso beispielsweise
Rachsucht oder Eifersucht.
Der Begriff der »rechtsextremen Tat« ist in jedem Fall
irreführend. »Rechtsextremismus« ist ein interner Arbeitsbegriff der
Verfassungsschutzämter, kein Rechtsbegriff, und er ist in der Wissenschaft nicht
einheitlich definiert. Meist wird er jedoch in Anlehnung an den
Verfassungsschutz benutzt, der ihn seit 1974 verwendet.
Dadurch beschränkt sich die Sichtweise meist zu sehr auf den
Nachweis der Mitgliedschaft eines Täters in einer rechtsextremen Partei oder
Organisation. Ein Verdienst des Bielefelder Erziehungswissenschaftlers Wilhelm
Heitmeyer ist es – trotz aller berechtigter Kritik an seinen Studien –, den
Blick auf rechte Täter deutlich erweitert zu haben. Heitmeyer spricht bereits
von einer rechtsextremen Orientierung, wenn eine »Ideologie der Ungleichheit,
Gewaltakzeptanz und Gewaltanwendung« vorhanden ist.
Der Übergang vom »normalen« Dorfjugendlichen zum
Rechtsextremisten ist heute oftmals fließend. Darum ist die Argumentation,
insbesondere vieler Potzlower Dorfbewohner, es handle sich bei den Verurteilten
doch um ganz normale Jugendliche, nicht außergewöhnlich. In einem Punkt aber
hatten die Anwälte der drei Angeklagten Recht: Die Beweggründe seien nicht auf
eine politische Tat zu reduzieren, sondern die Ursachen lägen tiefer. Dagegen
ist nichts einzuwenden. Auch bei einer Vergewaltigung oder einem Amoklauf
spielen immer mehrere Einflüsse eine Rolle. Das hilft allenfalls, eine Tat zu
erklären, entschuldigt aber gar nichts.
Der Mord in Potzlow war einer der grausamsten rechtsextremen
Morde seit der Wende. Besonders grausam auch deshalb, weil die Täter sich ihr
Opfer gewissermaßen selbst gestalteten. Marinus Schöberl war ein guter Bekannter
der Mörder, und wenn die Feindbilder, die von der Gesellschaft mitproduziert
werden, fehlen – in Potzlow gibt es so gut wie keine Migranten –, dann schafft
man sich eben eigene. Marinus Schöberl wurde das zum Verhängnis.
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