Aufstand der Anständigen:
Wir waren doch die Guten
Der »Aufstand der Anständigen« vor drei Jahren war so
schnell beendet, wie er ausgerufen worden war. Den Rassismus und den
Antisemitismus konnte das Projekt der Zivilgesellschaft nicht eindämmen...
Burkhard Schröder
Der »Aufstand der Anständigen« ist gescheitert. Und schon
wird es kompliziert: Kann etwas scheitern, das es nie gegeben hat? Das gute alte
Wort »Aufstand«, das so gar nicht zur deutschen Leitkultur passt, legt nahe, die
Untertanen stürzten soziale Hierarchien um, enteigneten die Herrschenden ihrer
Produktionsmittel und schafften Raum für das Gute, Schöne und Wahre.
Der »Deutsche an sich«, steht er denn auf, versteht darunter
jedoch etwas sehr Religiöses. Er zeigt seinen Mitmenschen Symbole, das eigene
Gesicht oder heilige Tücher. Wenn er sehr erregt ist, spielt er mit dem Feuer,
verbrennt Bücher und schaudert fromm unter den lodernden Flammen nächtlicher
Fackelzüge oder Lichterketten.
»Anstand«: ein an sich nicht unsympathischer Begriff, aber
ebenso typisch deutsch. Er suggeriert in diesem Zusammenhang, dass politische
Meinungen letztlich auf moralischen Werten fußten. Eine kühne Idee, ist doch
Politik letztlich nur eine Aushandlung von Regeln, damit die Untertanen sich
nicht gegenseitig den Schädel einschlagen und um sie glauben zu machen, das sei
zu ihrem Besten. Anstand ist ein Appell, sich so zu verhalten, wie es sich
geziemt. Was sich geziemt, bestimmt der, der die Macht hat.
Einen »Aufstand der Anständigen« kann es somit gar nicht
geben, denn ein Aufstand ist immer unanständig. In den Augen der Herrschenden
jedenfalls. Und seit wann macht die Mehrheit einen Aufstand? Und gegen wen? Ein
»Aufstand der Anständigen« ist so sinnig, als forderten die Scientologen die
Kassenzulassung.
Dennoch, ein Erfolg hätte so aussehen können: Der Rassismus
und der Antisemitismus hätten abgenommen, vielleicht nicht, was die
Einstellungen angeht, aber wenigstens das Verhalten betreffend. Die Anständigen
waren sich aber noch nicht einmal einig, dass es gegen den Rassismus ging. Und
heute befinden wir uns in einer Situation, die zu der Frage anregt: Warum hat
sich trotz der zahlreichen Gesichtzeiger und der »Programme gegen Rechts« nichts
geändert? Man könnte das »trotz« durch »wegen« ersetzen, wenn man nur boshaft
genug wäre.
Oder darauf hinweisen, dass es ohne die Programme und
unzähligen, meist unpolitischen Aktionen auf Volkshochschulniveau noch viel
schlimmer gekommen wäre und die Braune Armee Fraktion schon in Bataillonsstärke
ihre Wehrsportmanöver durchführte. Der »Aufstand der Anständigen« war ein
gruppendynamisches Kuschelereignis mit dem kathartischen Effekt einer Beichte:
Wir bekennen, dass wir böse waren, und nehmen, ganz christlich, die Schuld der
braunen Kameraden auf uns, die leider beim Aufstand nicht mitmachen, und
versprechen, fürderhin so brav zu sein, wie wir schon immer waren.
Der Antisemitismus wird ohnehin gern vergessen. Natürlich ist
es anständig, auf Friedhöfen nicht die Grabsteine umzuwerfen. Darauf, und auf
den Appell, bitte keine Gewalt und keine Synagogen abzufackeln, einigt man sich
schnell. Solange Juden auf Friedhöfen liegen und ihre Habseligkeiten in Museen
verstaut sind oder man nur ihre restaurierte Architektur vor sich hat und ein
bisschen Klezmer für Pfarrerinnen und Fans der völkischen Folklore, gibt es
keinen Streit. Aber sobald andere unangenehme Details zur Sprache kommen, etwa
israelische Fahnen vor Gemüseläden im schönen deutschen Berlin oder Werbebanner
der israelischen Armee auf deutschsprachigen Websites wie hagalil.com, fällt die
Moral in sich zusammen. Und der Aufstand verkrümelt sich genau so schnell.
Man stelle sich vor, der deutsche Bauernkrieg im 16.
Jahrhundert, die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts oder der
antifaschistische Widerstand gegen die Nazi-Herrschaft wären unter der Parole
»Aufstand der Anständigen« initiiert worden! Sie wären nie weiter als in das
Stadium embryonaler Flugschriften und Flugblätter gekommen. Die
Lichterkettenträger während der Zeit massenhysterischer symbolischer Aktionen
seit dem Sommer 2000 waren eine privilegierte Mehrheit, die white german
anglosaxon protestants, die an eine Minderheit, die gesichtslos blieb,
appellierte, die Neger doch bitte liebzuhaben, weil die auf multikulturellen
Straßenfesten immer so schön trommeln und der Döner Kebab der Wurst den Rang
abgelaufen hat.
Gegen Rechts
Profit im Kapitalismus jedoch hat nie eine Moral, darin sind
sich Karl Marx und der Neoliberalismus völlig einig. Der angebliche Kampf »gegen
Rechts« meint, eine bestimmte Sonderbehandlung der Einwanderer, praktisch durch
Stiefel-, theoretisch durch Salonfaschisten, schade dem Profit und sei somit
kontraproduktiv für das System. Dazu brauchte es keine Lichterketten und andere
Spiele mit dem Feuer. Was dem System schadet, erkennen Kapitalisten gewöhnlich
zuerst und am allerbesten.
Die Diskussion darüber, was das Problem sei, hat sich wie
Beton verhärtet und erzeugt, stösst man sie an, immer dieselben Textbausteine,
bei den Guten wie auch den Bösen. Die offizielle Staatsdoktrin mit
quasireligiöser Konsistenz ist immer noch die Totalitarismus-Doktrin alias der
»Extremismus«-Diskurs, der durch den vermeintlich anständigen Symbolismus eher
noch verfestigt wurde. Die affirmative und falsche Interpretation des Untergangs
der Weimarer Republik, die zwischen den »Extremen« zerrieben worden sei, liegt
wie klebriger Mehltau über der Debatte. Der Begriff »Rechtsextremismus« beweist,
dass man trotz oder wegen des Medienhypes »gegen Rechts« kräftig am eigentlichen
Thema vorbeidenkt und -diskutiert.
Das gilt auch für das Wort »Ausländer«. Sobald der Begriff im
gut gemeinten Diskurs »gegen Rechts« auftaucht, und das dauert garantiert nicht
lange, muss man sich ebenso schaudernd abwenden, weil damit bewiesen ist, dass
das Thema sofort verfehlt wird. Der »Ausländerdiskurs« ist der zentrale Topos
rassistischer Ideologie. Neonazis haben nichts gegen Ausländer. Zumindest nicht
gegen alle. Wer das Gegenteil behauptet, beleidigt die deutschen Sportler Gerald
Asamoah und Amewu Mensah und verängstigt unnötig norwegische Steuerberater, die
nach Deutschland reisen wollen.
Es gibt selbstredend auch zu viele Ausländer in Deutschland.
Das kann nicht oft genug betont werden. Deutschland ist das einzige Land
Europas, das sich seine Einwanderer als Menschen zweiter Klasse, als »Ausländer«
hält. Wenn die Einwanderer als Deutsche akzeptiert werden und den deutschen Pass
haben, sehen wir weiter. Dann kann man einen Rassisten einen Rassisten nennen,
ohne dass jemand auf die idiotische Idee käme, es ginge bei dem Thema um
»Ausländer«.
Die Guten
Leider unterscheidet sich der Diskurs der Guten nicht
prinzipiell von dem seiner Gegner. Wer die rassistische Abschiebepraxis
kritisiert, bleibt erfolglos, wenn er an das Mitleid und das Gefühl der trägen
Mehrheit appelliert oder nur an die paternalistische Attitüde, sich um die armen
Opfer zu kümmern. Der staatlich sanktionierte und in komplizierte Gesetzesform
gegossene, billigend in Kauf genommene Totschlag von Migranten durch die
»Sicherheitskräfte« auf Flughäfen oder in so genannten »Abschiebegewahrsamen«
empört nicht mehr als ein Bundeswehreinsatz mit einem Dutzend massakrierter
Feinde.
Wer heute aus politischen Gründen Scheinehen eingeht, sich
also anständig verhält, oder die lieben armen ausländischen Mitbürger mit dem
Krankenschwester-Syndrom behelligt, hätte vor hundert Jahren vermutlich Heime
für »gefallene Mädchen« gegründet. Das antreibende Motiv ist vergleichbar.
Es geht immer um den Versuch, über medientaugliche Begriffe
politische Ideen in Herrschaft und politische Macht zu verwandeln. Wer sich
empört, braucht ein niedriges, weil letztlich eigennütziges Motiv: den eigenen
Vorteil und die Teilhabe am gesellschaftlichen Produkt. Eigennutz ist gut, weil
er das stärkste Motiv darstellt. Deshalb sind rassistische und antisemitische
Vorurteile resistent gegenüber Argumenten und Appellen.
Auch gegenüber pädagogisch wertvoller Aufklärung. Das ist
unstrittig. Aber wenn man sich die unzähligen gut gemeinten Projekte »gegen
Rechts« ansieht, bleibt rätselhaft, wieso diese Tatsache nicht beherzigt wird.
Rassismus ist nützlich. Er verspricht, soziale Grenzen auf der Basis fiktiver
Kriterien zum eigenen Vorteil definieren zu können. Letztlich macht es keinen
Unterschied, ob »Rasse« oder »Kultur« als Kriterium für das Dazugehören oder das
Draußenbleiben genommen werden. Beides ist gleichermaßen irrational.
Säkulare Gesellschaften produzieren Rassismus als
Versprechen, den sozialen Aufstieg erhoffen zu können, ohne die Chance dazu
wirklich zu besitzen. In religiös dominierten Ländern der so genannten »zweiten«
oder »dritten« Welt, wie etwa in Indien, wird der rassistische Diskurs vom
religiösen überlagert, repräsentiert aber letztlich dasselbe: den Kampf um
Teilhabe an der politischen Macht.
Umgekehrt gibt etwa in Brasilien oder Kuba die Phänotypie, im
Vergleich zu Europa, erheblich weniger her für eine rassistische Terminologie.
Das bedeutet dennoch nicht, dass kulturelle Codes nicht soziale Grenzen
rassistisch interpretierten. Wer Hierarchien antastet, stellt auch die
symbolische Repräsentanz etablierter Machtverhältnisse in Frage.
Deshalb kostümiert sich die Rechte als Subkultur, nur deshalb
sind Nazis Teil der Popkultur und nutzen deren Ausdrucksformen. Rassismus und
Antisemitismus haben es aber prinzipiell nicht nötig, im Gewand jugendlicher
Pseudo-Rebellion medial vermittelt zu werden. Die Neonazis werden irgendwann die
Linke dazu zwingen, sich mit ihnen nicht mehr zu beschäftigen. Ebnen sich die
ikonografischen Unterschiede zwischen der Antifa und den Neonazis ein, wird es
schwieriger, den »Aufstand der Anständigen« als hippe Subkultur zu verkaufen.
Schon jetzt kann Otto Normalpassant bei manchen Aufmärschen die Neonazis von
ihren Gegnern nur am Kleingedruckten unterscheiden.
Der Versuch, »Musik gegen Rechts« zu machen, scheitert schon
im Ansatz. Musik vermittelt ein Lebensgefühl, ist somit klassische Kultur, somit
bloßer Appell, wiederum an das Gute, Schöne und Wahre. HipHop gegen Rechts ist
so anständig wie die Bayreuther Festspiele oder der Musikantenstadl. Es gibt
keinen Aufstand anständiger Musik. Wenn Musik gut ist, verletzt sie Tabus,
bekennt ihre Sympathie für den Teufel und propagiert hässliche Dinge wie Drogen,
Sex und andere unanständige Ausschweifungen.
Interkulti, Multikulti
Eines der größten Hindernisse im Kampf gegen den Rassismus
ist die Idee der »interkulturellen« Erziehung. Niemand, der als einigermaßen
liberal gelten will, kann heute festgefügte kulturelle Identitäten im linken
Diskurs straffrei vertreten. Die Gesellschaft für bedrohte Völker als
sinnfälligstes Beispiel ist politisch heute dort angelangt, wo sie schon immer
hingehörte, eben bei den Völkischen und denen, die die »Palästinenser« zu den
Sudetendeutschen des Nahen Ostens stilisieren.
Ein »Volk« der Palästinenser gibt es ebenso wenig wie ein
türkisches oder deutsches Volk. Und deshalb gibt es auch weder einen Dialog der
Kulturen noch einen der Religionen. Das »inter« setzt etwas voraus, das es nicht
gibt. Eine Erziehung »zwischen den Kulturen« bedeutet im Alltag, die politische
Relevanz der Selbstethnisierung der Einwanderer und auch der Einheimischen zu
leugnen und »Kultur« als unpolitische Folklore zu definieren. Das gut gemeinte
Gegenteil starr definierter, fester ethnischer Grenzen ist die Vermischung, die
nichts anderes propagiert als die stillschweigend als Ziel vorausgesetzte
Assimilation an die herrschende Mehrheitskultur.
Der Streit um »political correctness« verharrt auf der Ebene
des Multikulti. Es geht nicht darum, die kolonial und rassistisch aufgeladenen
Begriffe zu erobern, sondern sie zu benutzen und trotzdem die Verhältnisse zum
Tanzen zu bringen.
Kien Nghi Ha schreibt in »Ethnizität und Migration« über
Ghetto-Rap: »Der Trickster versucht durch die Gleichzeitigkeit von Ambivalenzen,
durch die sprachliche Verwandlung eines feststehenden Topos in einem sich
widersprechenden Oxymoron und einem nicht denkbaren Paradoxon Freiräume für
offen stehende, ungesicherte und viel sagende Bedeutungen zu erzeugen.«
Allerdings, und das schränkt die Handlungsmöglichkeit für die anständige weiße
deutsche Mittelschicht erheblich ein, gelingt die subversive Aneignung der
Mainstream-Kultur durch Immigranten oder Minderheiten nur, wenn die Betroffenen
sich der Sprache und Begriffe selbst bemächtigen, während, wie Kien Nghi Ha
schreibt, »deutsche Trittbrettfahrer mit ihren unreflektierten
›Kanakensprüchen‹, auch wenn sie sich dabei ganz subversiv vorkommen, in
Wirklichkeit nur eine rassistische Struktur reproduzieren«.
Multikulti stellt die Normalität nicht in Frage und bedeutet
keinen Tabubruch, sondern appelliert nur an die herrschende Mehrheit der
Anständigen, wenige neue und bisher »fremde« Kategeorien zu assimilieren, das
heisst, für die Produktion und den Konsum kompatibel zu machen.
Die Debatte in Deutschland um das, was die Nation im Post-,
Spät- und neu definierten Kapitalismus ausmacht, sieht sich immer noch einem
fast scheintoten Gegner gegenüber, dem völkisch definierten Nationalstaat des
19. Jahrhunderts. Vor dieser Folie wird der Streit um die Einwanderung absurd.
Multikulti ist die andere Seite des völkischen Spiegels. Und urdeutsch dazu,
weil die Erziehung zur Kultur das alte deutsche Problem aufgreift, die zum
Kapitalismus passende Metatheorie, den Nationalstaat, nie politisch erkämpft zu
haben, sondern auf dem Umweg über die verquaste Erinnerung an die germanische
»Kultur« eine fiktive ideologische Linie in die Vergangenheit zu projizieren, um
sich selbst zu erklären, warum man die Obrigkeit nicht hat hinwegfegen können.
Die Multikulti-Linke schließt nahtlos an die völkische Romantik im Gefolge der
preussischen »Freiheitskriege« gegen Napoleon an.
Im Gegensatz zu England oder Frankreich ist man hierzulande
noch nicht einmal beim Thema angelangt. Auch Multikulti bedeutet letztlich eine
ethnisch aufgeladene Definition sozialer und ökonomischer Machtverhältnisse.
Interkulturelle Erziehung ist Opium fürs Volk. Ihr Programm ist nichts anderes
als ein erweiterter Konsum und eine postmoderne Ästhetik für kosmopolitische und
kunstbeflissene Eliten und die neuen Mittelschichten in den Metropolen. Dabei
greifen die alten kolonialen und rassistischen Raster. Hip ist, was dem
Mainstream nützt.
Migranten, die keine hippe Argumentation vorweisen können,
die sie dem linken Paternalismus sympathisch macht, wie etwa die »politischen«
oder die »Armutsflüchtlinge«, fallen potenziell aus dem Raster der
Aufmerksamkeit. Rumänische Schleuser oder vietnamesische Zigarettenhändler, die
mit dem Gedanken spielen, sich in Berlin-Kreuzberg niederzulassen, müssten ihren
Beruf verschweigen, um in den privilegierten Genuss zu kommen, von
antirassistischen Initiativen bemuttert zu werden.
Um die Immigration ist es in der Debatte in Wahrheit noch nie
gegangen. Die deutsche Diskussion über die Einwanderer, Gastarbeiter,
Zwangsarbeiter, Saisonarbeiter, Flüchtlinge und Asylbewerber wird seit 120
Jahren mit immer denselben Fragen geführt. Aus dieser Perspektive erscheint auch
das Thema »Neonazis« nur vorgeschoben. Das Thema war immer, Macht und Herrschaft
zu sichern und denjenigen, die an die Futtertröge drängen, ein wenig Teilhabe zu
versprechen.
Es geht darum, politische Identitäten mit kulturellen Codes
immer wieder neu zu definieren. Solange etwas nicht in Frage gestellt ist, kann
es nicht verändert werden.
Jungle World
Jungle World Nummer 41 vom 01.10.2003
kt /
hagalil.com
/ 2003-10-02
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