Antisemitismus:
Hakennasen statt Hakenkreuze
Dient der Antisemitismusvorwurf der Aufklärung? Oder
regiert die Logik des Skandals? Rätselhaft ist bloß, dass es Judenhass gibt,
aber offenbar keinen, der Juden hasst (5)...
Esther Schapira
"Verzeihung, sind Sie Antisemit?", fragt Moishe einen Mann am
Bahnhof. "Nein, natürlich nicht. Ich habe jüdische Freunde." "Entschuldigen Sie
bitte die Frage", sagt Moishe, geht weiter und fragt den Nächsten: "Sind Sie
vielleicht Antisemit?" Auch dieser verneint empört. So geht es immer weiter, bis
er schließlich an einen Mann gerät, der antwortet: "Und ob! Das sind doch alles
Halsabschneider, die sich weltweit verschwören." "Wunderbar", sagt Moishe, "Sie
sind ein ehrlicher Mann. Würden Sie bitte einen Moment auf meinen Koffer
aufpassen?"
Ist Ted Honderich, der Terroranschläge auf israelische
Zivilisten für moralisch hält, ein Antisemit? Natürlich nicht. Und Martin
Walser? Natürlich auch nicht. Und Andreas von Bülow? Natürlich auch nicht. Horst
Mahler? Die vorzeitig gestörten Attentäter von München?
Vielleicht, aber sicher bin ich mir nicht, schließlich hat
selbst Adolf Eichmann vor Gericht in Jerusalem bestritten, einer zu sein.
Vermutlich sind die Antisemiten längst ausgestorben. Nur der Antisemitismus lebt
und wächst. Dabei stimmen laut einer Studie, die im Auftrag des American Jewish
Committee im Oktober 2002 durchgeführt wurde, 40 Prozent der deutschen
Bevölkerung der Aussage zu: "Juden hätten zu viel Einfluss auf das
Weltgeschehen." Das Bundesamt für Verfassungsschutz registrierte allein im
vergangenen Jahr 50 Prozent mehr Gewalttaten mit antisemitischem Hintergrund.
Geschändete Friedhöfe, Angriffe auf Synagogen, Überfälle auf orthodoxe Juden -
aber weit und breit kein Antisemit.
Es ist ein merkwürdiges Phänomen: Der Antisemitismus ist
allgegenwärtig, aber es gibt kaum Antisemiten. Zumal in der Linken, die sich in
fröhlicher Selbstherrlichkeit grundsätzlich auf der richtigen Seite wähnt, was
aber keinesfalls Empathie für die Opfer bedeutet. Eindrucksvoll hat dies gerade
wieder Hartmut Berlin, der Chefredakteur von Eulenspiegel, belegt, der auf dem
Titelbild eine erstens geschmacklose und zweitens eindeutig antisemitische
Karikatur abbildete, auf der Michel Friedman mit Hakennase zu sehen ist,
gezeichnet von Arno Funke alias "Dagobert", dem früheren Kaufhauserpresser.
Nun lässt sich über Michel Friedman vieles sagen, mit
Sicherheit aber nicht, dass er eine Hakennase hat. Dennoch kann dieses Titelbild
nicht antisemitisch sein, nach dem Selbstverständnis des Chefredakteurs, weil es
ja von einer linken Zeitung abgedruckt wurde. Es ist dieselbe Logik, mit der
sich die Bezeichnung "Antisemit" grundsätzlich für alle verbietet, die sich von
Auschwitz distanzieren. Der Antisemitismus aber ist älter als Auschwitz, und er
ist mit der Zerstörung der Vernichtungslager nicht verschwunden. Doch seither
liegt, zumindest in Deutschland, immer Brandgeruch in der Luft, wenn über
Antisemitismus diskutiert wird, was zu einer sonderbaren Verkehrung geführt hat.
Nicht der Antisemit verstößt gegen das Tabu, wohl aber der Kritiker, der ihn als
solchen bezeichnet. Wer, zumal aus jüdischer Position, diesen Vorwurf erhebt,
läuft Gefahr, sich zu diskreditieren, sich außerhalb des akzeptierten
Diskursraums zu begeben. Und so ist stattdessen von "antisemitischen
Ressentiments" oder von "antisemitischem Antizionismus" die Rede.
Am deutlichsten lässt sich dieses Reaktionsmuster derzeit bei
der Nahostdebatte beobachten. Vehement wird gefordert, was schon immer eine
brutale Selbstverständlichkeit war, die schonungslose Kritik israelischer
Politik. Mir ist kein Beispiel dafür bekannt, dass Israelkritiker als
Antisemiten diffamiert würden. Stattdessen insinuiert diese Debatte ein Tabu,
das es doch längst nicht mehr gibt, vielleicht noch nie gab. Die politische
Position zur israelischen Politik sagt zunächst einmal nichts über die Frage
aus, ob diese durch antisemitische Ressentiments bestimmt wird. Auch die
Verweigerung, sich einzufühlen in die Empfindungen von Menschen, die erfahren
haben, dass eine Vernichtungsandrohung wie etwa die Charta der Hamas keine
abstrakte Rhetorik ist, sondern schon einmal tödliche Realität war, kann bloße
Gefühlskälte oder unbewusste Abwehr sein. Oder eben Antisemitismus. Dass jemand
Israel kritisiert, ist ja noch kein Beweis dafür, dass er kein Antisemit ist.
Die Nahostdebatte ermöglicht eine einmalige affektive
Entlastung bis hin zu moralisch gereinigten Vernichtungsfantasien. Selbst die
Solidarität mit palästinensischen Selbstmordattentätern, die unterschiedslos
Babys wie Überlebende der Schoa in die Luft sprengen, weil sie Juden sind,
geriert sich als Solidarität mit den Opfern. So können auch Attac-Mitglieder
problemlos Unterschriften für die Rücknahme der EU-Entscheidung sammeln, die
Hamas als Terrororganisation einzustufen, und gleichzeitig jeden Verdacht,
Antisemiten zu unterstützen oder gar selbst zu sein, weit von sich weisen. Und
genauso wenig muss es sie dann kümmern, in welcher gedanklichen Nachbarschaft
sich die Parolen befinden. Hinter dem Banner "Freiheit für Palästina" können
sich linke Globalisierungsgegner eben genauso gut sammeln wie islamische
Fundamentalisten oder Neonazis.
Genauso wird dies auch am 27. September bei den weltweiten
Demonstrationen zur Unterstützung der Intifada wieder sein. Dass es sich bei
diesem Datum ausgerechnet um das jüdische Neujahrsfest Rosch Haschana handelt,
wird die Demonstranten dabei nicht irritieren. Ist es antisemitisch, an einem
der höchsten jüdischen Feiertage auch mit jenen gemeinsame Sache zu machen,
deren erklärtes Ziel und blutige Praxis die Ermordung von Juden ist? Die
diskursiv reflexhafte Antwort wird dies verneinen. Schließlich geht es um Israel
und nicht um Juden.
Wie theoretisch dabei die Unterscheidung zwischen
antiisraelisch und antijüdisch ist, zeigt die Zahl der Angriffe nicht auf
Israelis und ihre offiziellen Vertretungen im Ausland, sondern auf Juden und
jüdische Einrichtungen. Nur: Dieser eindeutig antisemitische Reflex löst keine
Solidarität linker Friedensaktivisten aus, geschweige denn Kampagnen für
"menschliche Schutzschilde". Dass Synagogen und Gemeindezentren geschützt werden
müssen, bleibt der Polizei überlassen. Erst wenn Angriffe auf Juden
selbstverständlich geächtet und ihre Rechtfertigung auf taube Ohren und nicht
auf interessierte Leser trifft, lässt sich gelassen über die Definition von
Antisemitismus diskutieren. Doch danach sieht es auf absehbare Zeit nicht aus.
Suhrkamp mag Ted Honderichs Buch vom Markt genommen haben,
Piper aber verkauft Andreas von Bülows Verschwörungshetze munter und erfolgreich
weiter und verdient so an der Brunnenvergiftungslegende von der Verantwortung
der Juden für den Anschlag auf das World Trade Center. Zweifellos halten sich
weder Piper-Verlagschef Viktor Niemann noch sein Autor für Antisemiten. Beide
sind ebenso ungeeignet, auf Moishes Koffer aufzupassen wie die vielen Leser, die
das Buch neben Bröckers Bestseller über die Verschwörungstheorien zum 11.
September in ihr Regal gestellt haben.
die tageszeitung
die tageszeitung vom 26.09.2003
taz muss sein: Was ist Ihnen die Internetausgabe der taz wert? Sie helfen uns,
wenn Sie diesen Betrag überweisen auf: taz-Verlag Berlin, Postbank Berlin (BLZ
100 100 10), Konto-Nr. 39316-106
© Contrapress media GmbH
Vervielfältigung nur mit Genehmigung des taz-Verlags
kt /
hagalil.com
/ 2003-10-02
|