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Antiamerikanismus:
Noam Chomsky und die Dixie Chicks

Zwei Seiten des Amerikanismus und des Antiamerikanismus in den USA...

Leonard Zeskind

Ein amerikanischer Blick auf den »Antiamerikanismus« soll mit einer Szene aus einem deutschen Reisebus beginnen. Nach einer mehrtägigen konfliktreichen Antifa-Konferenz in Frankfurt/Main im Februar 1990 befinden sich die Teilnehmer aus beiden Teilen Berlins und aus einigen ostdeutschen Städten auf ihrer langen Heimfahrt.

Unter ihnen ist auch ein Amerikaner; manche unterhalten sich mit ihm. Eine kirchlich orientierte Frau erläutert ihre Aufklärungsarbeit. Ein bleicher Westberliner und seine dunkelhäutige Frau, eine Britin karibischer Abstammung, klagen über die Hindernisse auf ihrem Weg zu einer deutschen Staatsbürgerschaft. Einige türkische Männer berichten über die Gewalt gegen »Ausländer«, die sie selbst gesehen haben. Eine Frau aus Halle beschreibt ihre Beteiligung am »Neuen Forum« und ihre zunehmende Sorge, dass die ursprünglichen Forderungen nach mehr demokratischen Rechten durch Nationalisten und sogar Neonazis verdrängt wurden. Ihre Sorge, sagt sie, wird noch durch die Tatsache verstärkt, dass sie Jüdin ist. Das hat die DDR-Bürgerin erst am Sterbebett ihrer Eltern erfahren; sie hatten es nicht gewagt, es ihr früher zu erzählen. Nun ist sie Anfang 30 und weiß nicht mehr, wie es weitergehen soll. Sie denkt daran, nach Israel auszuwandern.

Gegen Ende der Busfahrt erkundigt sich ein besonders sprachgewandter Westberliner nach der Linken in den USA. Der Amerikaner beschreibt ihre zahlreichen Schwächen. Ja, aber da gibt es noch mehr, hakt der Berliner ein: Amerikaner können nicht tiefschürfend denken. Sie sind pragmatisch orientiert und haben nie die Dialektik begriffen.

Springen wir vorwärts ins Frühjahr 2003, zu einer Grillparty im Mittleren Westen, im Herzen der USA. Linksorientierte Farmer treffen sich mit ihren städtischen Unterstützern, darunter einige aus New York City. Selbstverständlich kommt man auf den Irakkrieg zu sprechen und auf die große Zustimmung, die Präsident Bush in der Bevölkerung genießt. Ich schäme mich, Amerikanerin zu sein, sagt jemand. Ein anderer widerspricht: Da gibt es doch zwei Seiten, einerseits Sklaverei und Völkermord, andererseits Freiheit und der Kampf um Gerechtigkeit. Ach was, wirft eine Kirchensekretärin ein, ich bin keine Amerikanerin, sondern eine Afrikanerin, die gegen ihren Willen nach Amerika verschleppt und versklavt worden ist. Ihr Pfarrer, ein in Alabama aufgewachsener Weißer, stimmt ihr zu. Ich bin kein Amerikaner, sondern ein Bürger der Welt. Ein Fünfter, ein New Yorker puertoricanischer Abstammung, neigt sich zur Seite und flüstert: Das ist das Problem mit den meisten Amerikanern. Sie können keine zwei Gedanken gleichzeitig denken.

Deutsche Linke können nur wenig über Amerikaner und über die amerikanische Linke sagen, das amerikanische Linke nicht schon längst über sich selbst gesagt haben. In der Tat: Antiamerikanismus ist ein fester Bestandteil des amerikanischen Lebens. Was dies bedeutet, darüber gibt es aber unter Linken praktisch keinen Diskurs.

The Nation: auf dem linken Auge blind

Ähnlich wie »Antiamerikanismus« hat auch das Wort »Amerika« mehrere Bedeutungen. In der Kolonie Puerto Rico zum Beispiel gilt es als Zeichen chauvinistischer Arroganz, wenn man »Amerika« nur auf die USA bezieht. Puertoricaner sind doch auch Amerikaner, heißt es dann – ebenso wie Chilenen oder Brasilianer. Auf dieser kolonisierten Insel lehnen Nationalisten und Linke den US-Imperialismus ab, schlicht und einfach. Diesen Kampf kann man wohl kaum als »antiamerikanisch« definieren.

Trotzdem spüren viele US-Amerikaner eine handfeste »antiamerikanische« Stimmung in Kontinentaleuropa und im Nahen Osten. Dies beruht durchaus auf Gegenseitigkeit. Als der Konflikt wegen des Iraks zwischen der Bush-Regierung einerseits und der französischen und deutschen Regierung andererseits auf seinem Höhepunkt war, benannten einige übermäßig patriotische Seelen in den USA die so genannten French Fries (Pommes Frites) in »Freedom Fries« um, um damit ihr Missfallen gegenüber allem Französischen auszudrücken. In Umfragen gaben 60 Prozent der Befragten zu, dass sie gegenüber den Franzosen negative Gefühle hegen.

Trotzdem waren es die Amerikaner, die sich als die Geschädigten empfanden. Kurz nach Ende der größten Kampfhandlungen im Irak untersuchten Meinungsforscher des Pew Research Center die politische Stimmung in 20 Ländern. Danach waren in 13 Ländern die Mehrheiten negativ gegenüber den USA eingestellt. Diese Ablehnung war jedoch laut Pew eher gegen Präsident Bush gerichtet als gegen »Amerika im Allgemeinen«. (1) Trotz dieser wichtigen Differenzierung war der amerikanische Mainstream überzeugt, dass allgemeine Antiamerikanismus zugenommen habe.

Auf der Linken kam man zu der entgegengesetzten Schlussfolgerung. Die linksliberale Wochenzeitschrift The Nation nahm ihre eigene Einschätzung vor. (2) Ähnlich wie die Pew-Meinungsforscher unterschied The Nation zwischen Bush und Amerika allgemein. Sie verwies auf einen italienischen Politikwissenschaftler, der davon ausgeht, dass Antiamerikaner »die USA nicht dafür ablehnen, was sie tun, sondern dafür, was sie sind«.

Mit dieser nützlichen Definition entdeckte die Zeitschrift viel Opposition gegen die derzeitige US-Regierung, aber kaum Ablehnung der US-Bevölkerung. The Nation verwies darauf, dass amerikanische Musiker und Schauspieler wie Bruce Springsteen, Woody Allen und Julia Roberts in Europa sehr beliebt sind. Außerdem sei »der amerikanisch-europäische Handel weiterhin die umfangreichste Handels- und Investitionsbeziehung der Welt«. Das Fazit: »Von der nicht faschistischen Rechten bis zur nicht kommunistischen Linken findet man praktisch keine Unterstützung für die Politik der derzeitigen (US-) Regierung. Genauso wenig findet man irgendetwas, das man Antiamerikanismus nennen könnte.«

Indem The Nation die politische Bandbreite in Europa auf diese Weise absteckte, schloss sie jedoch genau jenes politische Terrain aus, das am dringendsten einer Untersuchung bedarf. Was soll man zum Beispiel vom französischen Front National halten, dessen Programm antiarabischen Rassismus mit subtilem Antisemitismus und offenem Antiamerikanismus kombiniert? Und was von den hunderttausenden linken Aktivisten, die gegen den transnationalen Kapitalismus auf die Straße gehen?

Die Frage ist: Sind manche Gegner des US-Imperialismus im Grunde auch Antiamerikaner? Und bilden manche Antiamerikaner den Kern der antiimperialistischen Opposition? Die Antwort lautet beide Male: »Ja«. Antiamerikanismus kann durchaus eine Form von billigem Antiimperialismus sein.

Weder die faschistische Rechte noch die Antiglobalisierungsbewegungen sind randständige Erscheinungen. Trotzdem schloss The Nation die globalisierungskritische Bewegung explizit aus ihrer Untersuchung aus, da sie »zu kompliziert« sei. Das war allerdings eine bezeichnende Einschränkung für eine Zeitschrift, in der die Themen Globalisierung und Globalisierungskritik sonst großen Raum einnehmen. Diese Verdrängung ist nicht untypisch. Als Folge davon hat die Linke in den USA keine Ahnung vom Antiamerikanismus bei ihrem europäischen Gegenüber. Sie ist auf dem linken Auge blind.

Ganz anderes die politische Rechte in den USA. Sie hat das Thema »Antiamerikanismus« besetzt und schleudert den Begriff gelegentlich wie eine Handgranate gegen die Linke. Sowohl der so genannte Steinzeitflügel der Konservativen (»Paleocons«) als auch die Neokonservativen (»Neocons«) verwenden diesen Begriff, wenn auch mit unterschiedlichen Absichten.

Die Keule der Konservativen

Die amerikanischen Steinzeitkonservativen ähneln den Nationalkonservativen in Deutschland. Ihr Nationalismus reicht in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zurück. Er ist isolationistisch und fremdenfeindlich, kulturell anglo-europäisch und christlich geprägt. Die Paleos lehnen »Globalismus« als das Werk »durchrasster«, nur an Profiten interessierter Eliten ab, und sie betrachten George Bushs Irakkrieg als internationales Abenteuer, das nicht den Interessen Amerikas dient. Die Paleocons halten die Linke für zutiefst »antiamerikanisch«, obwohl sie sich mit den Linken in der Ablehnung des Irakkriegs und des räuberischen transnationalen Kapitalismus einig sind.

Aber die Linke, sagen die Paleocons, hat mit ihrem Multikulturalismus und Egalitarismus die traditionellen Autoritäten unterhöhlt und sich mit den globalistischen Eliten verbündet, um die Einwanderung dunkelhäutiger, Spanisch sprechender Arbeitskräfte zu fördern. Der Antiamerikanismusvorwurf der die Paleocons ist unter anderem deswegen so verlogen, weil sie ignorieren, was Afrikaner und ihre Nachkommen zum Kern des amerikanischen Nationalcharakters beigetragen haben.

Doch die Paleocons finden derzeit weniger Gehör als die Neocons, die sowohl über die besseren Megafone verfügen als auch über einen direkten Zugang zur Bush-Administration. Obwohl die Neocons aus dem fortschrittlichen Lager stammen (sie spalteten sich während des Kalten Krieges ab), dominieren sie heute viele wichtige konservative Denkfabriken und Publikationen. Im Unterschied zu den Paleocons sind sie für Freihandel und eine transnationale Ökonomie und waren (zumindest früher) auch für ungehinderte Migration. Seit den Attentaten des 11. September fordern die Neokonservativen allerdings ebenfalls drakonische »Antiterror«-Gesetze, inklusive Massenverhaftungen von Immigranten mit arabisch klingenden Nachnamen. Ansonsten befürworten sie den Import von niedrig bezahlten braunhäutigen Arbeitskräften, obwohl sie »Multikulturalismus« und zweisprachigen Schulunterricht ablehnen.

Gleichzeitig bieten die Neocons die ideologische Grundlage für Präsident Bushs »unilateralistische« Außenpolitik. Sie sind diejenigen, die Militäreinsätze zugunsten »amerikanischer Werte« am heftigsten befürworten. Aus der Sicht dieser Intellektuellen sind »Nation« und »Staat« identisch. Das »Volk« und die »Regierung« sind eins. Wer die eine ablehnt, hasst auch das andere. Eine eindimensionale, monistische Geschichtsauffassung. (Eine andere Frage ist, ob diese Ideologie der Grund für den Irakkrieg war. Zwar haben die Neokonservativen vehement den Sturz Saddam Husseins gefordert. Aber wenn die Zentren der Rüstungs- und Ölindustrie einen Angriff auf den Irak abgelehnt hätten, stünden heute wohl kaum amerikanische Truppen in Bagdad.)

Als Intellektuelle und außenpolitische Strategen sind es die Neocons, die das Konzept des »Antiamerikanismus« am häufigsten als Keule gegen ihre Gegner einsetzen. Ihre Liste von Antiamerikanern beginnt gewöhnlich im Ausland und reicht von islamischen Fundamentalisten bis zu europäischen Gegnern von Bushs Außenpolitik. Anders als die linksliberale Nation verschmelzen die Neocons zwei unterschiedliche Phänomene zu einem: rationale Opposition gegen die Regierungspolitik (ob innen- oder außenpolitisch) und irrationalen Hass auf alles Amerikanische. Linke Intellektuelle und Aktivisten werden immer wieder als »Amerikahasser« hingestellt.

Ein bezeichnendes Beispiel ist eine der regelmäßigen Kolumnen des Historikers Daniel Pipes. In der Tageszeitung New York Post veröffentlichte er eine Liste von Professoren an verschiedenen US-amerikanischen Universitäten, die er als antiamerikanisch betrachtet. (3) Das Ganze erinnerte an die McCarthy-Ära, als politische Proteste noch als »Hochverrat« gebrandmarkt wurden. Hervorstechend auf dieser Liste (und auf anderen ähnlichen) waren Noam Chomsky und Eric Foner.

Dass Pipes den Historiker Foner auf seine Liste setzte, beweist die Schlichtheit der Vorstellung, eine abweichende Meinung sei schon dasselbe wie Antiamerikanismus. Foners wissenschaftliche Karriere ist davon geprägt, die demokratischsten Elemente der US-Geschichte ans Licht zu bringen, die Freiheitskämpfe von Amerikanern in ihrem Land. Seine Bücher über die so genannte Reconstruction-Ära (1865–1876) untersuchen die demokratische Gesellschaft, die die befreiten Sklaven nach dem Bürgerkrieg in den Südstaaten aufbauen wollten. Foner vermeidet Schönfärberei. Er erinnert an den brutalen Rassismus und an den Beginn des US-Imperialismus nach der Niederschlagung der Reconstruction. Die von ihm erzählte Geschichte hat ein schlechtes Ende, nicht in der »Erlösung« des Südens (wie es viele Rassisten noch heute sehen), sondern in der Zerschlagung der Demokratie durch Feigheit und Kompromisse.

Aber Foner erkennt die Widersprüchlichkeit des US-Nationalcharakters: ein demokratischer Impuls einerseits, der Würgegriff der Reaktion andererseits. Bei ihm ist der Staat nicht dasselbe wie die Nation, die Regierung ist nicht gleichgesetzt mit der Bevölkerung. Foner ist nicht der Einzige. Er ist einer von vielen Amerikanern, die zwei Gedanken gleichzeitig denken können.

Anders verhält es sich bei Chomsky, der eine andere Strömung der Linken repräsentiert, die das Spiegelbild der rechten Konservativen ist. Statt die Doppelseitigkeit des amerikanischen Lebens zu erkennen, sehen sie nur die eine Seite. Die Konservativen lieben ihr eindimensionales Land bedingungslos und halten alle anderen für Verräter. Und Leute wie Chomsky verachten ihren eindimensionalen Gegner und halten alle anderen für moralisch bankrott. Diese Tendenz wurzelt in den antiimperialistischen Bewegungen der sechziger und frühen siebziger Jahre und in der damaligen Suche nach dem revolutionären Subjekt.

Fünfte Kolonne gegen AmeriKKKa

In den späten fünfziger und in den sechziger Jahren verwandelte sich die Linke grundlegend. Aus einer Protestbewegung wurde revolutionäre Begeisterung. Darüber ist schon viel geschrieben worden. Ein Punkt berührt jedoch die Frage nach dem Antiamerikanismus der amerikanischen Linken. Die damaligen Bewegungen mussten die Stille durchbrechen, die die antikommunistische Repression und die McCarthy-Hysterie erzwungen hatten. Aber die überwiegend schwarze Bürgerrechtsbewegung in den Südstaaten und die überwiegend weiße Studentenbewegung (im Norden) erlebten diesen Bruch auf verschiedene Weise.

Die schwarze Bewegung wurde von aus dem Zweiten Weltkrieg heimkehrende Veteranen ins Leben gerufen, die im Ausland gegen den Faschismus gekämpft hatten und nun zuhause gegen den Rassismus kämpfen wollten. Bei allen Unterschieden zwischen den Generationen entwickelte sich die wichtigste gesellschaftliche Institution der schwarzen Community – die Kirche – zu einem Zentrum der Bewegung. Dies trug dazu bei, dass die schwarze Bewegung organisch verbunden war mit der langen Geschichte des Kampfes für Freiheit und Demokratie in Amerika. In einer Periode, die weltweit von Entkolonialisierung und nationaler Befreiung geprägt war, begriffen sich viele Aktivisten gleichzeitig als Teil einer nationalistischen Bewegung.

Im Unterschied dazu erlebte der Kern der weißen Studentenbewegung einen viel größeren Bruch zwischen sich und der (Mittelklassen-) Gesellschaft, aus der diese Studenten stammten. Sie nahmen ihre Familien und ihr Land als eine unmoralische Konsumgesellschaft voller Rassismus und Militarismus wahr. Und als sich der Vietnamkrieg verschärfte und aus der Protestbewegung eine antiimperialistische wurde, begannen manche Aktivisten sich als Revolutionäre zu begreifen und alles Amerikanische abzulehnen.

Dieser Antiamerikanismus fand bisweilen eine ausgesprochene amerikanische Ausdrucksform. Manche folgten einer Art Generationenseparatismus und nannten sich »Woodstock Nation«. Dagegen entwickelten weiße Antiimperialisten eine internationalistische Perspektive. Es begann eine ernsthafte Suche nach dem revolutionären Subjekt. Manche sahen es in den jugendlichen Subkulturen in den USA und Europa. Andere entdeckten das Subjekt in den nationalen Befreiungsbewegungen – sowohl außerhalb der US-Grenzen (etwa in Vietnam) als auch innerhalb.

Angestoßen von Organisationen wie der Black Panther Party, wurde der schwarze Freiheitskampf als nationale Bewegung definiert, als ein antikoloniales Phänomen innerhalb der US-Grenzen, aber außerhalb der US-Nationalgeschichte. Ähnlich wie Puertoricaner wurden so auch Schwarze (und Mexican-Americans oder Chicanos) zu Nicht-Amerikanern. Und diejenigen Weißen, die sich diesem antikolonialen Kampf anschlossen, wurden zur Fünften Kolonne innerhalb der Metropole, zu »Antiamerikanern« im Kampf gegen AmeriKKKa. Vollkommen vergessen waren die dreißiger Jahre, als die Kommunistische Partei erklärte: »Der Kommunismus ist der Amerikanismus des 20. Jahrhunderts.« (4)

Eine solche ausgeprägt antiamerikanische Identität ließ sich selbstverständlich nicht lange durchhalten. Als die nationalen Befreiungsbewegungen in den siebziger Jahren ihren Glanz verloren (besonders nach den Kämpfen zwischen Vietnam und China), blamierte sich auch die Idee einer weißen Fünften Kolonne. Und als in der Dritten Welt vermeintlich antiimperialistische, aber in Wahrheit reaktionäre Bewegungen auftauchten (wie die klerikalen Faschisten im Iran), da war dieser Flügel der Linken theoretisch und praktisch überfordert. Das bipolare Modell Metropole-Peripherie löste sich auf. Als ein Jahrzehnt später auch noch der sowjetische Block zusammenbrach, waren die aus den sechziger Jahren geerbten Imperialismustheorien außer Stande, die Ereignisse zu erklären. Der »Antiamerikanismus« hatte kein rationales Zuhause mehr.

Mittlerweile steht die amerikanische Linke vor neuen Herausforderungen: vor dem Wachsen einer weißen nationalistischen (und teilweise »revolutionären«) Bewegung gegen den Status quo und vor dem beschleunigten internationalen Transfer von Kapital und Arbeit, der die traditionelle regulierende Rolle des Staates ausgehöhlt hat. Trotzdem halten manche Antiimperialisten an dem alten bipolaren Modell fest. Und Noam Chomsky hat sich zum wichtigsten Wortführer für einen älteren, »antiamerikanischen« Antiimperialismus entwickelt. Ironischerweise steht Chomskys Aufstieg praktisch im direkten umgekehrten Verhältnis zum Niedergang der Linken.

Noam Chomsky: auf beiden Augen blind

Die Geschichte von Noam Chomskys Verwandlung von einem innovativen Linguistik-Professor zu einem internationalen linken Idol ist schon oft erzählt worden. Er ist ein »Anarchist«, wird uns mitgeteilt, beziehungsweise ein »libertärer Sozialist«. Er ist ein Verfechter der absoluten Meinungsfreiheit, werden wir erinnert, sobald jemand gegen Chomskys Verhältnis zu Holocaustleugnern und zu Robert Faurisson protestiert. Und in den vergangenen 25 Jahren hat er unermüdlich gegen die US-Außenpolitik gekämpft, hat schneller Bücher geschrieben als andere Leute die Sonntagszeitung lesen, und hat an jedem erreichbaren Ort Reden gehalten. Er hat oft die Heuchelei der amerikanischen Eliten aufs Korn genommen, während er die Dynamik der amerikanischen Gesellschaft kaum zu verstehen scheint. Seit zwei Jahrzehnten singt Chomsky einen einzigen analytischen Ton. Manchmal trifft er die richtige Note. Aber zu anderen Zeiten ist er auch erstaunlich taub. Ein Ton. Ein Gedanke.

So gesehen entspricht Chomsky dem »typischen« Amerikaner, den der Antifa-Aktivist im Bus nach Berlin so verächtlich gemacht hat. Trotzdem wird Chomsky von deutschen Linken verehrt. Unvergesslich ist jener Mai-Abend 1990 an der Hamburger Universität. Während »Ausländer« per Brandstiftung aus ihren Wohnungen gejagt und angegriffen werden, während Nationalsozialisten mit Schildern »USA und SU raus!« auf dem Dach der Leipziger Oper stehen, während die deutsche Justiz auf schändliche Weise blind auf dem rechten Auge ist, begeistert Chomsky mehrere tausend deutsche Studenten mit seiner aufrüttelnden Verdammung des US-Imperialismus.

An diesem Punkt, am Zusammentreffen von Globalisierungskritik und Antiamerikanismus, spielt Chomsky seine wichtigste Rolle. Genau an dem Punkt, den The Nation ignoriert. Wenn Chomsky in den vergangenen Jahren gefragt worden ist, ob er Antiamerikaner sei, hat er diese Frage nie beantwortet. Der Antiamerikanismusvorwurf sei dasselbe wie früher der Vorwurf gegen die sowjetischen Dissidenten, sie seien »antisowjetisch«. Die Frage nach dem Antiamerikanismus beweise »tiefe totalitäre Bindungen«, meint Chomsky. (5) Wie andere antiamerikanischen Amerikaner auch ist Chomsky jedoch außerstande, auch nur eine demokratische oder fortschrittliche Faser innerhalb des nationalen Narrativs der USA zu entdecken. Sicher: Chomsky feiert die Bewegungen der sechziger Jahre. Aber schauen wir uns einmal an, wie Chomsky »Demokratie« definiert.

»Demokratie hat zwei sehr unterschiedliche Bedeutungen«, sagte er einem Interviewer, als dieser ihn um eine Definition bat. »Eine steht im Wörterbuch, und die andere wird zugunsten von Macht und Profit gebraucht.« (6) Als Beispiel für die zweite Bedeutung nannte Chomsky die »Wirtschaftssektoren, die die Vereinigten Staaten kontrollieren«. Als Beispiele für die erste Bedeutung verwies er auf das Guatemala vom Anfang der fünfziger Jahre (vor dem CIA-Putsch) und auf das sandinistische Nicaragua Anfang der achtziger Jahre. Er erwähnte nicht die Reconstruction-Periode, die Eric Foner so gründlich untersucht hat. Er erwähnte nicht die US-Gewerkschaftsbewegungen in den dreißiger Jahren. Chomskys Vorstellung von Demokratie liegt vollständig in der Dritten Welt. Und während der Antiimperialismus mit einem irrationalen Antiamerikanismus angereichert wird (und manchmal mit einem noch irrationaleren Antisemitismus), bleibt Chomsky blind gegenüber diesen Entwicklungen.

In diesem Zusammenhang steht auch Chomskys Beziehung zu dem französischen Literaturprofessor Robert Faurisson, der den Holocaust-Revisionismus in Frankreich mit ins Leben gerufen hat. 1979 unterzeichnete Chomsky eine Petition gegen die Entlassung Faurissons durch die Universität Lyon-2. Als dies auf Kritik stieß, schrieb Chomsky, er habe es im Interesse der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit getan. Er würde jeden Uni-Professor auf diese Weise verteidigen, sagte er später, selbst wenn es sich um einen Vietnam-Kriegsverbrecher handeln sollte. Diesen Text verwendete Faurisson dann als Einführung für sein Buch »Memoire en Defense« (1980). Chomsky erklärte zwar, dies sei ohne seine Zustimmung geschehen, aber das sei unwichtig – er bleibe bei seinem Eintreten für die Freiheit der Wissenschaft. Chomsky behauptete auch, er habe Faurissons Buch gar nicht gelesen, aber auch der Inhalt sei hier nicht von Belang.

Selbstverständlich ist Chomsky kein Neonazi. Er leugnet auch nicht den Holocaust (wie es Faurisson tut). Auch beweist dieser Vorfall noch nicht, dass Chomsky ein Antisemit ist. Aber was er beweist, ist die Tatsache, dass Chomsky nicht einmal die offensichtlichsten Formen des Antisemitismus erkennt. »Stimmt es, dass Faurisson ein Antisemit oder ein Neonazi ist?«, fragt Chomsky. »Ich kenne seine Arbeiten nicht besonders gut. Aber in dem, was ich – wegen der Angriffe auf ihn – gelesen habe, finde ich keinen Beleg für eine solche Schlussfolgerung … Soweit ich es sagen kann, ist er ein relativ unpolitischer Liberaler.« Einige Monate darauf, im Februar 1981, veröffentlichte Chomsky in The Nation eine detaillierte Verteidigung seiner Verteidigung von Faurisson. Diese beiden Texte stehen zwei Jahrzehnte später ohne weitere Erläuterungen auf einer Webseite, die Chomskys Arbeiten archiviert. (7)

Es geht hier nicht darum, ob Chomsky Meinungsfreiheit auch für Antisemiten befürwortet. Es ist offensichtlich, dass er dies tut, und seine Ansichten entsprechen an diesem Punkt denen anderer Bürgerrechtler in den USA. Hier geht es um Chomskys Aussage, er könne in Faurissons Holocaust-Texten keine Anzeichen von Antisemitismus erkennen – nicht einmal in der Behauptung, der Holocaust sei eine »zionistische Lüge«. Einfacher gesagt: Wenn es um Antisemitismus geht, dann ist Chomsky sowohl auf dem linken als auch auf dem rechten Auge blind.

Daher stellen sich zwei Fragen an linke Intellektuelle und globalisierungskritische Aktivisten. Sind dies der Mann und die Analyse, denen Ihr folgen wollt, wenn Ihr gegen den Irakkrieg oder gegen Freihandelsabkommen protestiert? Und: Wenn irrationaler Antiamerikanismus mit Antisemitismus eingefärbt wird, würde Chomsky dies erkennen? Die Frage beantwortet sich fast von selbst.

Weiße Küken aus Texas

Es gibt zahllose Beispiele für die Widersprüchlichkeit der amerikanischen nationalen Identität und für ihren zwiespältigen Ausdruck in der Populärkultur. Schauen wir uns abschließend die Bedeutung der Dixie Chicks an: drei weiße Frauen, die mit ihrer Country- und Bluegrass-Musik mehrere Millionen CDs verkauft haben – in einem Sektor der Musikindustrie, der bekanntlich von Konservativen dominiert wird. Schon der Name der Band ruft Bilder aus dem Old South hervor, mit seinem Rassismus und der Bevormundung von jungen weißen Frauen. Trotzdem sind die Fans der Chicks überwiegend (aber nicht ausschließlich) jung, weiblich und definitiv weiß. Und sie leben zum größten Teil außerhalb der liberalen Megalopolis, die sich von Washington, DC bis Boston erstreckt. Die Chicks und ihre Fans leben im Herzen der USA.

Nachdem nun die Sängerin Natalie Maines während eines Konzerts in London Präsident Bush kritisiert hatte, verurteilten konservative Kritiker in den USA die Chicks als »unamerikanisch« und »antiamerikanisch«. Ihre Musik wurde aus den Radioprogrammen verbannt, ihre CDs wurden öffentlich verbrannt, ihre Konzerte mit Boykott bedroht. Einen Moment lang schien es, als verwandle sich die Country-Branche in einen Lynchmob. Hier zeigte sich das Amerika, das jeder linksgerichtete Antiamerikaner in der Welt kennt und verabscheut.

Die erste Reaktion der Dixie Chicks bestand aus einer öffentlichen Entschuldigung und anderen demütigen Gesten. Aber eine zweite Reaktion kam, als die Band auf eine Tournee durch den amerikanischen Mittelwesten und Süden ging. Die Konzerte wurden zu politischen Kundgebungen. Im Hintergrund liefen Videoaufnahmen der schwarzen Bewegung der sechziger Jahre und von demonstrierenden Schwulen und Lesben in den Siebzigern. Maines trug ein T-Shirt mit der Aufschrift: »Free Natalie«. Und jedes Konzert war ausverkauft. Wenn es je einen Boykott gegeben haben sollte, dann war er vollkommen wirkungslos. Dies war ein Aspekt des amerikanischen Lebens, den die Linke schlicht ignoriert. Tief im Herzen der USA verborgen, wird er auf eine Art lebendig, die eingefleischte Antiamerikaner nur verwirren kann. Die Dixie Chicks erinnern daran, dass zwei widerstreitende Herzen in der amerikanischen Brust schlagen, und dass zwei – widersprüchliche – Gedanken notwendig sind, um ihre Bedeutung zu verstehen.

Leonard Zeskind, Jg. 1949, leitet das Institute for Research & Education on Human Rights in Kansas City und schreibt derzeit ein Buch über weißen Nationalismus in den USA. Aus dem Amerikanischen von Michael Hahn.

Anmerkungen:

(1) The Pew Research Center for The People and The Press: »Views of a Changing World«, Juni 2003; vgl. New York Times, 4. Juni 2003.

(2) Eric Alterman: »USA Oui! Bush Non! How Europeans See America«, The Nation, 10. Februar 2003.

(3) Daniel Pipes: »Profs who hate America«, New York Post, 12. November 2002.

(4) Gleichzeitig hielt die KP aber auch an ihrer Position fest, im »Black Belt« im Süden der USA gebe es eine, überwiegend aus afroamerikanischen Landproletariern bestehende »schwarze Nation«. Während ihrer Volksfront-Periode betonte die KP dennoch eine klassenorientierte Organisierung von (überwiegend schwarzen) Stahlarbeitern und Kleinbauern in den Südstaaten. Auch der schwarze Nationalismus selbst besteht aus mehreren Strömungen, von denen manche amerikanisch orientiert sind und andere pan-afrikanisch.

(5) Interview: »Is Chomsky ›anti-American‹?«, The Herald (Arkansas State University), 9. Dezember 2002.

(6) »Noam Chomsky: Anarchy in the USA«, Rolling Stone, 28. Mai 1992.

(7) www.zmag.org/chomsky/index.cfm. Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Michael Hahn (Hg.): Nichts gegen Amerika. Konkret Literatur Verlag, Hamburg 2003.176 Seiten, 15 Euro. Der Beitrag von Michael Hahn wurde vom Autor stark gekürzt.

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Jungle World
Jungle World Nummer 41 vom 01.10.2003

DG / hagalil.com / 2003-10-02

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