Es ist Anfang August und sehr heiß, Kiew ist wie leergefegt.
Viele haben sich auf ihre Datschen zurückgezogen. Die Innenstadt besteht vor
allem aus Touristen und gelangweilten Teenagern, die Eis essen. Ich sitze auf
dem Maydan Niezaleschnosti, dem Platz der Unabhängigkeit. Hier haben politische
Organisationen ihre Infostände. Mir gegenüber, direkt am U-Bahn-Eingang, sitzt
eine cirka vierzigjährige Frau vor einem Stapel Zeitungen und Flugblättern sowie
einem kleinen schwarz-roten Fähnchen mit dem Aufdruck UNSO. Um sie herum
streicht ein adrett gekleideter junger Mann, weißes Hemd, Krawatte, Aktentasche
in der Hand, Haare sauber nach hinten gekämmt. Er entfernt sich immer wieder ein
paar Schritte, behält den Stand aber im Auge. Oft bleiben Leute stehen, in der
Regel ältere Menschen, fast ausschließlich Männer, und kaufen eine Zeitung.
UNA-UNSO ist eine Organisation mit zwei Bestandteilen: einem
politischen (UNA) und einem militärischen (UNSO) Arm. Gemeinhin wird sie als
marginal eingeschätzt. Ich befürchte, dass diese Einschätzung mehr Ausdruck für
eine gewisse intellektuelle Überheblichkeit gegenüber einer als primitiv
empfundenen Gruppierung ist als der Realität entspricht.
Die Brisanz der Gruppierung wurde vor einigen Jahren
offensichtlich, als Ende Mai 2000 in L‘viv der ukrainische Komponist Ihor
Bilozir bei einer Schlägerei mit Russen ums Leben kam. Dieser Vorfall wurde
breit als russische antiukrainische Aktion rezipiert. UNA-UNSO organisierte
maßgeblich Demonstrationen, auf denen viele Tausend Menschen waren, und konnte
ihrerseits eine aggressive, antirussische Stimmung anheizen.
Entstehung und Struktur
Seit 1989 ist die Transformation Mittel-Osteuropas voll im
Gange, und in einem zweiten Anlauf wurde am 24. August 1991 die Ukraine für
unabhängig erklärt. Die dortige politische Elite rekrutiert sich aber weiter aus
der alten Nomenklatura. Korruption ist ein Euphemismus bei den Reichtümern, die
die Elite anhäuft: Aktuell soll etwa das Schmiergeld für einen Jura-Studienplatz
8000 Dollar betragen. Das offizielle Existenzminimum liegt bei 365 Hryvna (ca.
70 Dollar) – diesen Lohn erhält in Kiew, wo die Löhne im Landesvergleich sehr
hoch sind, aber nur ein Drittel der Menschen2. Die politische Elite, aktuell vor
allem in Person des Präsidenten Kutschma und seines Klans, verteidigt ihre
Reichtümer und die politische Macht mit entsprechend mörderischen Methoden: Im
September 2000 wurde beispielsweise der Journalist G. Gongadze, der zu
Korruption in Regierungskreisen recherchiert und publiziert hatte, enthauptet
aufgefunden.
In der Ukraine leben cirka 50 Millionen Menschen. Die
verschiedenen Landesteile unterscheiden sich stark in bezug auf ihre ethnische
und religiöse Zusammensetzung, ihre ökonomische Struktur und ihre politische
Kultur. Bedingt ist dies durch die Vereinnahmung der Ukraine in den letzten
Jahrhunderten. Zuletzt waren dies der russische, später sowjetische und der
polnischen Staat. Vor diesem Hintergrund wird in der Ukraine ein postkolonialer
Diskurs geführt, in dem »nationale« Minderwertigkeitsgefühle bezüglich der
Kultur thematisiert und die nach wie vor bestehende starke, u.a. wirtschaftliche
Abhängigkeit von Russland kritisiert werden. Der ukrainische Staat ist jung, der
Bedarf an positiver »nationaler Identifikation« auch anhand von Vorbildern im
Kampf um nationale Befreiung ist hoch und: er ist der Mainstreamdiskurs3. Polen
und Russen gelten in nationalistischen Kreisen nach wie vor als Erbfeinde. Die
eingeworfenen Scheiben bei der russischen Buchhandlung oder der Molotowcocktail
in das russische Kulturzentrum in L‘viv in den letzten Monaten lassen sich
dadurch erklären.
UNA-UNSO
In diesem grob gezeichneten gesellschaftspolitischen Rahmen
zählt die nationalistische Gruppierung UNA-UNSO zur extremen Rechten. UNA steht
für Ukrajins‘ka Nacional‘na Asambleja (Ukrainische Nationale Vereinigung) und
UNSO für Ukrajinska Narodna Samooborona (Ukrainische Nationale
Selbstverteidigung). Die Vereinigung wurde am 30. Juni 1990 gegründet und hieß
zunächst Ukrajinska Mischpartyjna Asambleja (UMA) – Ukrainische Überparteiliche
Vereinigung. Das Gründungsdatum war bewusst gewählt: Am 30. Juni 1941 rief die
Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) unter der Führung von Stepan
Bandera direkt nach dem Einmarsch der Wehrmacht4 die unabhängige Ukraine aus.
Die OUN, 1929 gegründet, war ein Bündnis verschiedener nationalistischer und
explizit faschistischer Gruppen. Sie verfolgte in den 20er und 30er Jahren sehr
genau die Politik Mussolinis und Hitlers, entlehnte aber auch Ansätze bei den
Bolschewiki.
Das erste große Medienecho erhielt die UMA nach eigenen
Angaben ein Jahr nach ihrer Gründung. Am 30. Juni 1991 organisierte sie in L‘viv
einen Fackelzug, an dem 150 uniformierte Männer in militärischer Formation
marschierten. Die Organisation wurde danach in UNA umbenannt und trat als Partei
zu Wahlen an.
Nach dem misslungenen Putschversuch im August 1991 in Moskau
und einer befürchteten »ausländischen [sprich russischen, F.] Invasion« in der
Ukraine begann sie mit dem Aufbau von »Selbstverteidigungsstrukturen«: der UNSO,
einer »offenen, paramilitärischen Massen-Organisation«, wie es im Internet
heißt. In die UNSO könnten alle eintreten, Nationalität, soziale Lage oder
politische Überzeugung spielten keine Rolle. Es gäbe keine herkömmliche
militärische Hierarchie5 wie bei der Roten Armee, den einfachen Soldat und den
Offizier, sondern Instrukteure. Die Gruppen seien regional organisiert in einer
Stärke von drei bis fünf Personen, und es solle ein Oberkommando existieren. Im
Herbst 1993 wurde die UNSO verboten, nachdem sie in uniformierten Kolonnen vor
der Verchovna Rada, dem ukrainischen Parlament, aufmarschiert war und
»herausgefordert« hatte, wie sie es im Internet nennt.
Trotz dieser Repression zog im Mai 1994 der erste Abgeordnete
von UNA-UNSO in das Parlament ein. Bei den Regionalwahlen im selben Jahr kamen
Dutzende von Abgeordneten in die kommunalen Parlamente, obwohl die UNA erst im
Herbst 1995 legalisiert wurde. Aktuell besitzt die UNA-UNSO Büros in mehreren
ukrainischen Städten.6 Der Vorsitzende, Andrij Schkil‘ aus L‘viv, wird oft in
(auch seriösen) Zeitungen zitiert.
Politische Inhalte
Zentraler Begriff in der Ideologie von UNA-UNSO ist die
Nation. Dabei steht man in der Tradition des integralen Nationalismus der OUN:
Die Nation ist der zentrale Wert, der Rest ist ein aktualisierter
Querfrontverschnitt, ein Gemischtwarenladen, der u.a. soziale Forderungen
aufgreift. Sowohl Kapitalismus wie Sozialismus hätten positive Seiten, es gehe
um einen »gesunden Protektionismus«, der aber nicht die Privatinitiative hemme.
Man könne das Ideal von UNA-UNSO einen »nationalen Kapitalismus« oder einen
»markorientierten Staatssozialismus« nennen. Mit allen Parteien, die das Land
von Korruption, Verbrechen (Mafia) und der sozialen Ungerechtigkeit »säubern«
wollten, möchte sie zusammenarbeiten.
Historisch bezieht man sich hierfür auf politisch diametral
entgegengesetzte Richtungen: Hitler heben sie als Militaristen hervor, der
Clausewitz gelesen habe. Andererseits »referieren« sie Che Guevara mit der
Parole: »Patria libre o muerte« – und beschließen den Artikel mit bat‘kivtschyna
lub smert‘ (Vaterland oder Tod). Die UNSO nennt als weitere Bezugspunkte für
ihre militärische Strategie: Mao, Mariguella, Bakunin, Kropotkin, die Roten
Brigaden, Chomeini, Pilsudski, Franco und Mussolini. Die politische Praxis ist
da eindeutiger. So demonstrierte UNA-UNSO vor der spanischen und englischen
Botschaft für die Freilassung des »chilenischen nationalen Helden« General
Pinochet.
UNA-UNSO, deren Mitgliede nach Eigenaussage vor allem
zwischen 25 und 35 Jahre alt sind, will die »gesunde, junge Kraft der Ukraine«
sein. Man sieht sich als Avantgarde, die gegen das politische Establishment
auftritt – als sauberer, krawattentragender junger Mann am Infostand oder als
uniformierter, kahlgeschorener Krieger, der Wehrsportübungen in den Karpaten7
abhält.
Religiöser Fundamentalismus
Durchsetzt sind diese politischen Inhalte mit einer starken
christlich-orthodoxen Prägung. Das Kreuz, das die UNSO benutzt, sei ein altes
ukrainisches Symbol aus vorchristlicher Zeit, das man oft als Verzierung in
Kirchen oder als Verzierung von Waffen findet.
Somit sind Tradition, Religion und Militarismus verknüpft. Im
Frühjahr 1992 bat der Kiewer Patriarch der ukrainischen orthodoxen Kirche die
UNSO, in Sevastopol/Krim eine Gedenkfeier für Priester zu schützen, die dort
1918 von den Bolschewiki erschossen worden waren. Die UNSO fuhr mit einigen
Hundert Leuten gemeinsam in einem Zug dorthin – dieser wurde von Polizei und
Sicherheitskräften öfters angehalten, kam aber doch schlussendlich auf der Krim
an.
Dort inszenierte sie sich mit einem Marsch in Uniform durch
die Stadt und wurde damit – so schreiben sie im Internet – in der ganzen Ukraine
bekannt.8
Aktionen und Kampagnen – Geschichtspolitik, gegen Russland
Im Juli 1993 seien sie im Kontext der militärischen
Auseinandersetzungen um Georgien mit dem Freiwilligenkorps Arho dorthin gefahren
und hätten sich an den Kämpfen beteiligt, dabei seien einige ihrer Mitglieder
gefallen. Weitere militärische Erfahrung sammelten sie in Tschetschenien: Im
Oktober 1994 reiste eine Delegation der UNA-UNSO nach Aserbaidschan, Armenien
und Tschetschenien, wo sie eine Unterhaltung mit Staatspräsidenten Dudajew
hatten. Seitdem würde ein regelmäßiger Austausch gepflegt, und UNSO-Mitglieder
hätten auch auf der Seite Tschetscheniens am Krieg gegen Russland teilgenommen.9
1996 wurden Kontakte nach Weißrussland aufgenommen und die dortige »nationale
Opposition« im Kampf gegen »die Russen« unterstützt. Bezüglich des Status der
unabhängigen Ukraine im Verhältnis zu Russland war die Frage der Rückgabe der
Nuklearwaffen an Russland zentral, hier war die UNA-UNSO selbstverständlich
strikt dagegen – denn das würde den Interessen des »Washingtoner, des Moskauer
und Tel Aviver Imperialismus«(!) entgegenkommen.10
Geschichtspolitik, gegen »polnische Kolonialisten«
Auf dem Litschakivski-Friedhof in L‘viv liegen polnische und
ukrainische Gefallene der militärischen Auseinandersetzungen um L‘viv von
1918/19. Die UNA-UNSO entfernte hier pressewirksam Inschriften auf polnischen
Gräbern, da sie die polnische Kolonialpolitik verherrlichen würden. Seit einigen
Jahren streiten sich polnische und ukrainische Regierungsstellen,
Veteranenverbände etc., wie dieser Toten, vor allem der polnischen, gedacht
werden solle. In erster Linie wird das Thema für die nationalistische,
antipolnische Propaganda instrumentalisiert. Ein weiterer Anlass war der 60.
Jahrestag des Massakers ukrainischer Nationalisten an Polen in Wolhynien am 11.
Juli 2003: UNA-UNSO organisierte Kundgebungen vor den polnischen Konsulaten in
der Ukraine unter der Parole: »Keine Entschuldigung für Wolhynien – Alles eine
Folge der polnischen Kolonialpolitik« – diese monokausal erklärte »Folge« war
das grauenvolle Abschlachten zehntausender Polen und das Abbrennen ganzer
Dörfer.11
Die Bedeutung der UNA-UNSO wird vor allem von der weiteren
Entwicklung der sozialen Auseinandersetzungen abhängen und inwieweit diese
national aufgeladen und »gelöst« werden (sollen). K
Fussnoten:
1| Grundlage meines Textes sind Erfahrungen aus einigen
mehrmonatigen Aufenthalten in der Westukraine und Kiew, Interviews mit
Kriegsveteranen, mit jüdischen Überlebenden, der Besuch von nationalistischen
Kundgebungen und die Internetrecherche.
2| Die Rentnerin, bei der ich in Kiew wohne, hat ihr Leben
lang als Ärztin gearbeitet und erhält jetzt eine Rente von 140 Hryvna.
3| Beispielsweise werden an Geschichtslehrstühlen Promotions-
oder Habilitationsthemen abgelehnt, die nicht »patriotisch« genug seien.
4| Gemeinsam mit der Wehrmacht marschierte das ukrainische
Bataillon Nachtigall ein. Es spielte eine zentrale Rolle bei der Ermordung von
Juden in der Ukraine. Nachtigall wurde von dem OUN-Mitglied Roman Schuchewytsch
kommandiert. Sein Sohn, Jurij Schuchewytsch, der wegen seines Vaters viele Jahre
in sibirischen Lagern verbrachte und dort erblindete, spielt heute eine zentrale
Rolle innerhalb der UNA-UNSO.
5| Das ist eine Parallele zum bewaffneten Arm der OUN während
des Zweiten Weltkrieges, der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA), auch dort wurde
immer die Egalität der Struktur betont.
6| In Lemberg ist das Büro passender Weise in der Taras
Tschuprinka Strasse, das ist das Pseudonym von Roman Schuchewytsch, als er
UPA-Kommandeur war.
7| Bilder davon und von Kampfeinsätzen in Tschetschenien
finden sich im Internet.
8| Politische Brisanz erhielt diese Aktion auch wegen der
damals anstehenden Entscheidung, ob die Krim zur Russischen Föderation gehöre.
Heute ist die Krim eine autonome Republik im Rahmen des ukrainischen Staates.
9| UNA-UNSO arbeitet seit 1994 mit der Islamischen Partei
Vidrodschennja (Wiedergeburt) zusammen, die die größte islamische Organisation
Mittelrusslands sei.
10| Zu Israel oder Juden schreibt die UNA-UNSO an keiner
weiteren Stelle.
11| Die heutigen politischen Nachfolgeorganisationen der OUN,
die hauptsächlich mit Geldern nordamerikanischer Emigranten aufgebaut wurden,
wie die KUN (Kongress Ukrainischer Nationalisten), die in dem Wahlbündnis Unsere
Ukraine (Nascha Ukrajina) des aussichtsreichen Präsidentschaftskandidaten
Juschtschenko vertreten ist, sind ihnen schlicht zu lasch.