Auch ein Jahr nach dem Geschehen reagieren viele in dem
uckermärkischen Dorf mit Hilflosigkeit und Verweigerung auf die Hintergründe der
Tat
Potzlow, im Juli – Die Mohnfelder blühen so schön in Potzlow.
Der Oberuckersee liegt wie hingegossen zwischen den sanften Hügeln der
Uckermark, vor dem alten Herrenhaus rauschen die Linden und von gegenüber, aus
den Fenstern eines niedrigen Feldsteinhauses, leuchten die blütenweißen
Spitzengardinen. Keine 100 Meter sind es vom Herrenhaus zu diesen Gardinen. Kein
Zaun, keine Mauer, nur 100 Meter Wiese. Freier Blick. Hätte sie etwas spüren
müssen? Hätte sie etwas verhindern können? Hätte sie ahnen müssen, dass hinter
diesen Gardinen etwas passiert? Unter den Linden, vor dem Herrenhaus, das jetzt
ein Jugendclub ist, sitzt Petra Freiberg und zermartert sich den Kopf. Denn
hinter diesen Gardinen, an der Rückseite des Feldsteinhauses, liegt eine
Veranda. Und auf dieser Veranda begann das Martyrium des Schülers Marinus
Schöberl. Ein Martyrium, das zu einem grausamen Mord führte, einem Mord, der die
Republik aufschreckte, das Dorf, in dem er geschah, aber nicht.
Ein stiller, schlaksiger Junge
Petra Freiberg hat das Opfer gekannt: ein stiller,
schlaksiger Junge, der weite Hosen trug und sich die Haare blond färbte, so wie
viele in seinem Alter. Marinus war einer, der Unsinn machte, so wie sie es alle
machen, mit 16, 17 Jahren. Einer, der mit den Freunden auf den Rädern durchs
Dorf flitzte und »Kräuter« trank, so nennen sie hier in der Uckermark die
kleinen Fläschchen Kräuterschnaps. Und der leicht ins Stottern geriet, wenn er
aufgeregt war. Petra Freiberg kannte auch die Mörder, zumindest ein en von ihnen
gut. Wochenlang hat sich der 17 Jahre alte Marcel im letzten Sommer bei ihr im
Jugendclub aufgehalten, hat mit den anderen Späße gemacht, mit ihnen Hiphop
gehört. Und hat nichts gesagt.
Es war ein heißer Tag, dieser 12. Juli 2002. Die
Jugendbetreuerin Petra Freiberg hatte mit ein paar Jugendlichen eine
Nachtwanderung gemacht. Zur gleichen Zeit zogen andere junge Leute durchs Dorf
und landeten nach Mitternacht an jenem Feldsteinhaus jenseits der Wiese, wo
Monika Spiering wohnt. Dort klingelten sie die Leute aus dem Bett, stellten
einen Kasten Bier hin und Schnaps. Marinus war dabei, Marcel und sein älterer
Bruder Marco, 23. Und Sebastian, ein Freund Marcels. Dann setzten sie sich auf
die Veranda. Einen Fernseher gab es nicht.
Aber wie um das fehlende Fernsehprogramm zu ersetzen,
starteten sie nun selbst ein Programm: Es begann damit, ihren Kumpel Marinus zu
schlagen. Dann flößten sie ihm Schnaps ein, bis er sich erbrach. Dann schleppten
sie ihn hinaus auf die Terrasse, wo er hilflos liegen blieb. Dann urinierten sie
auf den Jungen, dann schlugen sie ihn, bis er zugab, »ein Jude« zu sein, obwohl
er doch gar keiner war. Und dann luden sie den zerschlagenen, stinkenden,
taumelnden Jungen auf ein Rad und fuhren ihn zu den verlassenen Schweineställen
der ehemaligen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) am Rande des
Dorfes. Und dort brachten sie ihr Abendprogramm dann zu Ende.
Was in den Schweineställen geschah, wird seit zwei Monaten
vor dem Landgericht Neuruppin verhandelt. Gleichzeitig eröffnet dieser Prozess
einen Einblick in die Wirklichkeit eines Dorfes, so banal und ungeheuerlich,
dass es scheint, als blättere hier die Tünche der Zivilisation. Dieser Eindruck
wird stärker, je mehr Zeugen auftreten. Zeugen wie Monika Spiering, hinter deren
Gardinen, auf deren Terrasse alles begann. 42 Jahre ist Monika Spiering alt,
mager, mit dünnen, aschblonden Haaren, arbeitslos. Sie, ihr Lebensgefährte und
ihr Bruder wohnen in dem Feldsteinhaus mit den Spitzengardinen, meist ohne
Strom. Der war auch an jenem 12. Juli abgedreht.
Innere Angelegenheiten
Der Polizei hat sie fast aufgekratzt geschildert, wo Marinus
geschlagen wurde, wo er zusammengebrochen ist, wo er später lag. Über diese
Aussage gibt es einen Video-Mitschnitt. Jetzt will sie nichts mehr sagen, denn
die Staatsanwaltschaft hat ihr einen Strafbefehl geschickt – acht Monate Haft
auf Bewährung, wegen unterlassener Hilfeleistung. Denn Spiering hat nichts
getan, um dem Jungen zu helfen. Außer man wertet ihren Satz als Hilfe: »Gib doch
zu, dass du ein Jude bist, dann hören die auf.« Selbstverständlich hat Frau
Spiering den Strafbefehl abgelehnt. »Ich habe mir nichts vorzuwerfen«, sagt sie
und schleudert der Richterin hin: »Zum 12. Juli sage ich gar nichts – alles
Weitere über meine Anwältin.«
Richterin Ria Becher fragt trotzdem, zum Beispiel nach dem
Alkoholkonsum vor der Tat. Klar habe sie mitgetrunken, schnappt Spiering. »Ist
doch nicht verboten!« Einen Kasten Bier habe es gegeben. Und? Was ist das schon?
»An einem Kasten ist ja nicht viel dran.« Frau Spiering hat diesen empörten
Unterton in der Stimme, den viele im Ort haben, wenn man sie auf den Mord an
Marinus Schöberl anspricht. Entrüstung darüber, dass sich hier Leute in ihre
inneren Angelegenheiten einmischen. Es ist ein Ton, den man wieder erkennt - bei
ganz anderen Menschen als Frau Spiering.
Ein normales Dorf, normale Menschen. »Eine Menge guter
Sachen« gebe es hier, sagt Ortsbürgermeister Johannes Weber: die Feuerwehr, den
Angel- und den Brieftaubenverein, die Fußballmannschaft. Woanders ziehen die
Leute weg, hier ziehen sie hin. Fast 600 Einwohner hat Potzlow. Mehr als vor der
Wende. Ist das nichts?
Es ist vieles ganz normal in Potzlow. Und manches nicht. Dass
seit Jahren ein Judenstern an die Mauer am Friedhof gesprüht ist, darunter ein
Neonazi-Symbol. Keinen störte es. Dass ein junger Mann von der Feuerwehr
Blankenburg im Ort vorbeischaut, in kurzen Hosen, auf der Wade hat er SS-Runen
tätowiert. Keiner sagt was. Dass Jugendliche sich vor den Augen ihrer Eltern mit
Bier zuschütten. Keiner tut was. Und wenn jemand etwas tut, empfinden das die
Eltern als Angriff, als Einmischung in ihre Angelegenheiten.
Es ist hier vieles normal, was anderswo als Problem
betrachtet würde. Marcel, der damals 17 Jahre alte Junge, der nun vor Gericht
als Hauptangeklagter gilt, war häufig betrunken. So oft, dass es gar nicht mehr
auffiel. »Ganz normal« sei das gewesen, sagen die jungen Zeugen. »Ganz normal«
habe Marcel auch erzählt, dass er einen umgebracht habe. »Ganz normal« ist
offenbar alles, was den jungen Leuten widerfährt. Eine Zeugin, 22 Jahre alt,
Beruf: »arbeitslos«, erzählt, wie sie mit Schwester und Freunden vor dem
Videogerät saß und sich immer wieder den Film American History X angesehen habe
– einen Film, in dem ein Rechtsradikaler einen Schwarzen zwingt, in eine
Bordsteinkante zu beißen und dann auf seinen Kopf springt, dass der Schädel
knackt. »Wir haben alle gelacht«, berichtet die Zeugin. »Jetzt kommt er, jetzt
kommt er«, hätten sie sich auf die Szene mit dem Bordsteinkick heiß gemacht. Sie
haben gelacht. »Haben Sie das lustig gefunden?«, fragt der psychologische
Sachverständige Alexander Böhle. Er bekommt keine Antwort.
Hört man den Zeugen im Gericht von Neuruppin zu, erscheint
es, als wenn viele dieser Menschen noch nicht einmal wüssten, was gut ist und
was böse. Dass sie von Regeln allenfalls mal gehört haben, aber sie für
nebensächlich halten. Für nicht zutreffend auf ihr eigenes Leben. Und dass es
offenbar niemanden gibt, der ihnen Werte vermittelt. In jener Nacht an den
Schweineställen gab es keine Regeln, keine Werte und keine Würde. Die drei
jungen Männer schleppten ihr Opfer in den Schweinestall. Jetzt, wo er zugegeben
hatte, dass er »Jude« sei, hatten sie ihn als Untermenschen markiert, der kein
Recht auf menschliche Behandlung mehr hatte. Sie stießen ihn in eine mit Jauche
gefüllte Grube – »um zu sehen, ob er untergeht«, sagt die Staatsanwältin. Dann
drückten sie ihn in die Knie und ließen ihn in einen Betontrog beißen.
Spätestens in diesem Moment muss dem Opfer klar gewesen sein, was ihm
bevorstand: Denn auch Marinus hatte den Film gesehen. So wie fast alle.
Marcel springt mit seinen Springerstiefeln auf Marinus`Kopf.
Der sinkt zur Seite, das Gesicht ist völlig entstellt. Dann, so die
Staatsanwältin, habe Marcels älterer Bruder Marco gesagt: »Der wird nicht mehr.
Den können wir keinem Arzt mehr vorstellen. Den müssen wir jetzt umbringen.« Sie
suchen einen Stein, Marcel zermalmt den Kopf des Jungen mit zwei heftigen
Hieben. Dann, so berichtete Marcel in der polizeilichen Vernehmung, habe Marco
dem Toten den Puls gefühlt: »Er meinte dann, dass er hin wäre.« So steht es im
Protokoll. Zu dritt verscharren sie ihr Opfer in der Jauchegrube.
In den Wochen danach geschehen seltsame Dinge. Der Rucksack
von Marinus wird gefleddert, aber keinen kümmert`s. Marcel berichtet einem
Schulkameraden, er habe »einen Assi«, einen Asozialen, umgebracht. In der Kneipe
saßen sie da zusammen, »Marcel war lustig drauf«, berichtet der Schüler. »Ganz
normal hat er das erzählt, wie man unter Kumpels erzählt.« Die Reaktion?
Offenbar keine. Auch zwei Elektriker-Lehrlingen auf seiner Berufsförderschule
erzählt Marcel, dass er jemanden umgebracht habe. Gegrinst habe er dabei, sagt
einer der beiden. Schon morgens um acht Uhr habe er damit herumgeprahlt, sagt
der andere. Reaktionen? Offenbar keine. Im Herbst führt Marcel die Freundin
seines Bruders und ein paar Kumpels zur Jauchegrube. Und die ist auch noch stolz
auf die Tat.
Nicole, 17 Jahre alt, Kaugummi im Mund, Hände in den
Schlabberhosen, schlendert ins Gericht, direkt aus der Haft. Sie ist das, was
man eine Skinbraut nennt, eine überzeugte Rechtsradikale. Sie hat einen der
Jungs aus dem Dorf bedroht, es werde ihm genauso ergehen wie Marinus, wenn er
der Polizei etwas sage. Bei der Polizei machte sie anfangs sogar den Versuch,
sich als Mittäterin auszugeben. Und erzählte dort, was sie von Marcel erfahren
hatte. »Ein richtig guter Kick« sei die Tat gewesen, vor allem wie das Opfer
»dann so dalag«. Und wie Marcel auf der Stelle herumgetrampelt sei, an der die
Leiche lag. »Das kann ja nur der Scheiß-Schädel sein«, habe er gerufen, sagte
Nicole der Polizei.
Der Gang zur Grube
Eine ganze Reihe von Menschen haben gewusst, dass ein Mord
geschehen war. Oder es zumindest geahnt. Aber keiner hat reagiert. Obwohl die
Eltern von Marinus überall im Dorf herumfragten, wo ihr Sohn geblieben sei. Auch
bei Frau Spiering. Auch bei den Tätern. Vermutlich wäre der Mord nie bekannt
geworden, wenn Marcel im Herbst nicht mit ein paar Leuten gewettet hätte: Er
wisse, wo Marinus liege. Erst da sind sie mit ihm zur Grube und haben den
Leichnam ausgegraben. Und erst da erfuhr Petra Freiberg, dass der Junge, der
Marinus ermordet hatte, wochenlang bei ihr im Haus verkehrte.
Vielleicht ist es die Nähe zu Opfer und Tätern, die Frau
Freiberg empfindlicher macht als die anderen. Vielleicht will sie deswegen so
beharrlich wissen, warum so etwas passieren konnte, ob es wieder passieren kann,
was sie dagegen tun kann. Was das Dorf dagegen tun kann. Und vielleicht will sie
auch deswegen nichts mehr übersehen.
Deswegen ist ihr die Sache mit der Bude da hinterm Jugendclub
so wichtig. Eine Hütte, weiß getüncht, darin stehen ein paar alte, vergammelte
Sofas. Davor ein Feuerplatz. Drumherum liegen Glassplitter, leere Bierflaschen.
Hier treffen sie sich jetzt , nicht die Jugendlichen von Potzlow, aber doch
einige. Weil man hier trinken kann, viel mehr als im Jugendclub bei Petra
Freiberg. Weil man hier in Ruhe gelassen wird.
Der Bürgermeister verstummt. »Ich sehe da kein eigenständiges
Problem der Gemeinde. Das betrifft doch die Erziehungsberechtigten«, sagt er
knapp und dann am liebsten gar nichts mehr. Die Kinder des Dorfes saufen sich um
den Verstand, doch es ist kein Problem der Gemeinde. Deswegen erfährt man von
Bürgermeister Weber auch kein Wort darüber, dass es Zoff gab auf der
Gemeinderatssitzung. Dass einige Eltern es sich sogar verbeten haben, dass das
Alkoholproblem ihrer Kinder von anderen angesprochen wird. Seitdem wird auch
über den Brief geschwiegen, den die Sozialarbeiter des Jugendhauses den Eltern
geschrieben haben und in dem sie ein Treffen anregten. Den Elternabend wird es
nicht geben. Jetzt nicht. Vermutlich nie.
Petra Freiberg ist laut geworden bei der Sitzung. Sie fühlt
sich wie ein Feigenblatt, das dafür herhalten soll, die Blöße des Dorfes zu
verdecken. 1997 ist sie geholt worden, damals hatten hier Rechtsradikale einen
Sozialarbeiter ermordet, Jugendliche trauten sich nicht mehr durch das Dorf aus
Angst, von Rechten angemacht zu werden. Freiberg hat die Szene befriedet, das
Dorf wurde ruhig, das Symptom Rechtsradikalismus schwächer. Doch das eigentliche
Problem blieb: die Entzivilisierung von Menschen am Rande der Gesellschaft.
Ausgerechnet der Verteidiger des Hauptangeklagten Marcel
spricht den Punkt an. Volkmar Schöneburg, aufgewachsen in der DDR,
PDS-Funktionär, ist unverdächtig, die Situation im Osten zu schwarz zu malen. Er
sagt, in dem Dorf fehle einfach der »zivilisatorische Standard«. Man kümmere
sich nicht umeinander. Es habe keinen belastet, den Rucksack, das Handy und das
Fahrrad von Marinus zu finden. Keiner habe etwas getan. Schöneburg spricht aus,
was sich schon während des ganzen Prozesses aufdrängt: »Die Werte, die wir für
selbstverständlich halten, sind dort gar nicht vorhanden.«
Früher hatte die LPG die soziale Kontrolle und die soziale
Verantwortung für den Großteil der Leute im Dorf. Was die LPG nicht schaffte,
machte die Partei. Dann zerbrach alles, was die Menschen als Autorität
anerkannten: der Betrieb, die Partei, der Staat. Und noch immer, 13 Jahre
danach, fühlen sich offenbar manche so, als wenn sie in ein Niemandsland
geschleudert worden wären, wo sich keiner um sie kümmert und sie sich ihre
Regeln deshalb selber machen. Oder es eben bleiben lassen.
»Ich hätte aus euren Kindern auch Nazis machen können, und
ihr hättet es nicht gemerkt« , hat Freiberg den Eltern in Potzlow
entgegengehalten. Die bekommen so erstaunlich wenig mit: Ein Vater kennt die
Adresse der Freundin nicht, wo sein minderjähriger Sohn seit Monaten wohnt. Ein
anderer weiß nicht, dass der Sohn mitten in der Nacht sturzbetrunken im Dorf
herumläuft. Die Mutter eines der jungen Trinker hielt der Sozialarbeiterin vor:
»Du hast es nicht geschafft, mein Kind zu erziehen.« Die Eltern der Täter Marcel
und Marco kritisieren nun, der Jugendclub habe sich zu wenig um die Jugendlichen
gekümmert.
»Die Leute halten sich eine Sozialarbeiterin wie einen
Dienstleister - zuständig für die Erziehung und Ruhigstellung ihrer
Jugendlichen«, sagt Jürgen Lorenz vom Mobilen Beratungsteam im
Regierungsprogramm Tolerantes Brandenburg. Lorenz ist seit Monaten immer wieder
im Dorf, doch er nimmt keine wirklichen Aktivitäten wahr, um den Mord an Marinus
zu verarbeiten. »Das Dorf hat keinen Bezug zu seinen Jugendlichen«, sagt er. Und
offenbar auch keinen zueinander. Es gibt kaum Treffen, und wenn, dann zum
Trinken, die Mittelschicht macht ihr eigenes Ding, dann werden die Jalousien
runtergelassen. Schweigen.
Immer diese Fragen
Es ist so unheimlich, weil einen das Gefühl beschleichen
könnte, dass Petra Freiberg und ihre Kollegen so ziemlich die Einzigen sind, die
sich fragen, ob etwas falsch gelaufen ist. Die anderen erscheinen lediglich
genervt, dass sie immer noch gefragt werden. Dass immer noch Menschen im Dorf
auftauchen, die nicht den See genießen wollen, sondern fragen, wie so etwas
geschehen konnte. »Diese permanenten Fragen: Was ist passiert? Was haben Sie
gemacht?«, sagt Johannes Weber, der Ortsbürgermeister, und man spürt bei jedem
Wort, wie sehr er sich zusammenreißen muss, das Gespräch nicht abzubrechen. Er
ist nie bei der Verhandlung in Neuruppin gewesen, auch nicht auf der
Bürgerversammlung, als ein Polizeispsychologe erklärt hat, wie Jugendgewalt
entsteht. Der Mann hat aber auch anderes zu tun. Führt einen Malerbetrieb, muss
sehen, dass Aufträge reinkommen. »Sachen müssen auch mal zu Ende gehen«, sagt
Weber.
Er ist auch nie bei den Eltern von Marinus gewesen. Die
wohnen im Dorf nebenan. Der Pfarrer war bei ihnen, auch Petra Freiberg, sonst
niemand. »Absolutes Desinteresse« erfährt die Familie, sagt ihr Anwalt. Der
Grabstein für Marinus wurde von Berlinern gespendet.
Hinten im Gerichtssaal sitzt Peter Feike. Er stammt nicht
direkt aus Potzlow, aber er arbeitet dort, als Koordinator der Jugendarbeit. Er
ist einer der ganz wenigen, die den Prozess gegen die Mörder von Marinus
regelmäßig besuchen. Feike ist auch Bürgermeister, allerdings der Großgemeinde
Oberuckersee, zu der Potzlow gehört.Und seit er das Alkoholproblem im
Gemeinderat angesprochen hat, gibt es Zoff. Wie könne er so etwas nur in die
Öffentlichkeit tragen?
Feike hat am Anfang auch abgewiegelt, was in Potzlow geschah.
Hat gesagt, das komme in der Großstadt doch jeden Tag vor, damals im November,
als die Leiche gefunden wurde. Seit er den Prozess verfolgt, hat er dazugelernt.
Er weiß, dass die Tat von Potzlow außergewöhnlich war, erschreckend, unheimlich.
Und will wie Freiberg jetzt nicht mehr wegschauen. »Man kann das doch nicht als
Lappalie runtermachen, wenn sich die Jugendlichen ständig betrinken. Gerade nach
dem, was geschehen ist, muss man doch sensibler reagieren«, sagt Feike. »Sonst
kommt am Ende der Verdacht auf, es ist einem alles egal.«
Vermutlich ist es aber einfach so.K
Annette Ramelsberger arbeitet als Redakteurin für die
Süddeutsche Zeitung. Die Reportage erschien am 11. Juli 2003 in der Süddeutschen
Zeitung und wurde dem AIB mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des DIZ
Dokumentations- und Informationszentrum München GmbH zur Verfügung gestellt.